Sie freuten sich über den ausfallenden Unterricht, spielten Seilspringen, während sie stundenlang auf die Brotrationen warteten und teilten sich zu zweit ein paar Rollschuhe. Außerdem suchten sie Arbeit, studierten und bekamen Kinder. Das tadschikische Nachrichtenportal Asia Plus hat Erzählungen aus dem Alltag der Tadschiken während des Bürgerkriegs gesammelt, der vor 20 Jahren zu Ende ging. Wir übersetzen sie mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Infolge umstrittener Präsidentschaftswahlen kam es im Mai 1992 in Tadschikistan zu Ausschreitungen, die in einen Bürgerkrieg eskalierten. Es stehen sich zwei Lager gegenüber: auf der einen Seite die Kommunisten, die von der Regierung unterstützt wurden, auf der anderen eine Oppositionskoalition, angeführt von der Partei der Islamischen Wiedergeburt, die seit 2015 verboten ist.
Die Oppositionskoalition bestand hauptsächlich aus Tadschiken aus dem Pamir und aus der Gharm-Region, der ursprünglich politische Konflikt bekommt so darüber hinaus eine starke regionale und ethnische Dimension. Die Friedensverträge, die am 27. Juni 1997 unterzeichnet wurden sahen eine Quote von 30% innerhalb der Regierung für die Opposition vor, doch noch mehrere Monate nach der Unterzeichnung wurde die Hauptstadt Duschanbe von während des Bürgerkriegs gegründeten Milizen und Mafias kontrolliert. Der tadschikische Bürgerkrieg dauerte von Mai 1992 bis Juni 1997 und forderte 50 bis 100.000 Todesopfer.
Zwanzig Jahre nach den Friedensverträgen veröffentlicht Asia Plus Erzählungen aus dem Alltag der Menschen, der trotz des Krieges irgendwie weiterging. Diese verschiedenen Erzählungen liefern ebenso viele Perspektiven auf die Realität des Krieges.
Im ersten Teil der Erzählungen erinnerte sich die Redakteurin Sebo Tadschibajewa.
Die Korrespondentin Lilija Gajsina
Für mich begann der Krieg mit den Containern. Genauer gesagt, als ich verstand, was diese verdammten Container mit den blutigen Ereignissen zu tun hatten. Obwohl mir nicht genau einleuchtete, was es mit den Ereignissen auf sich hatte, merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Mal brachte ein Nachbar, mal ein anderer, mal mehrere auf einmal diese metallischen Behältnisse in unseren Innenhof und füllten sie mit allem, was aus ihrer Wohnung dort hineinpasste.
Wir halfen eifrig, standen uns gegenseitig auf den Füßen, regten uns tierisch über diese Container auf. Dann schlossen sich die metallischen Türen mit einem Knirschen und eine meiner Freundinnen wurde ganz verwirrt von ihren Eltern aus dem Innenhof geführt und mit Koffern, Papagei- und Hamsterkäfigen, mit Hunden und Katzen weggebracht.
Erst ging eine Freundin auf diese Art, dann eine zweite, eine dritte, eine vierte. Von den ganzen Mädchen mit ewig wunden, grünen Knien, mit denen wir Puppen spielten und den Jungs, die uns immer ärgerten, die man uns aber als zukünftige Ehemänner vorstellte, blieben zum Anfang des Krieges nur zwei: Galjka und ich. Wir teilten uns ein paar laute Roller, mit denen wir über die Sträßchen zwischen den Häusern donnerten. Um unsere Ärmel waren Bänder gewickelt: Mal weiße, mal hellblaue, mal rote. Die Erwachsenen trugen sie so, und wir auch.
Mit dem Essen wurde es immer schwerer. Ich ärgerte mich, als mein Lieblingsbrot aus den Rationen verschwand. Anfangs schlürfte ich Kefir (wie dumm ich war!) und verzichtete auf Suppe (Idiotin!), verlangte einen zweiten Kefir. Den gab es schon nicht mehr und bald gab es auch keine Suppen mehr. Meine Launen hörten auf. Ich weiß noch, wie meine Mutter mit anerkennender Stimme meine Oma in der Küche sagte, Liljka sei ganz hungrig zu Bett gegangen und hätte nichts gesagt. Ich war unglaublich stolz auf mich.
Lest auch auf Novastan: Der unvergessliche Horror des Bürgerkriegs
Galjka und ich erfanden ein neues Spiel: Wir setzten uns mit dem „Buch über leckeres und gesundes Essen“ an den Hauseingang, blätterten darin und zeigten dabei auf die Seiten – „das ist meins“, „und das ist meins“. Auf den Seiten waren Würste mit grünen Erbsen abgebildet, Dosen mit rotem und schwarzem Kaviar, Schinken, Torten, Kuchen. Mama trat aus der Wohnung und sagte ganz beschämt: „Lilj, es reicht, auf ins Geschäft!“ Ich sprang schnell nach Hause, nahm mein Sprungseil mit und stapfte zum „Selbsbedienungsgeschäft“, also in den Hintereingang eines leeren Ladens. Dort standen Leute schon Schlange, am Abend wurde eine Brotlieferung aus „Chlebobulka“ erwartet. Einst (vor sehr langer Zeit, wie es schien) wurden dort die leckeren „Ogonjok“ Torten und krosse Baguettes gebacken. Zu der Zeit kamen von dort nur angebackene, unförmige „Batons“. Aber eines von ihnen zu ergattern war nun schon ein Glück. Für dieses „Glück“ standen wir lange Stunden in der Schlange. Zuerst spielten wir Seilspringen, dann setzten wir uns auf einen Baum. Bei der Dämmerung spielten wir verstecken. Das Brot kam und kam nicht.
„Mama, ich will nach Hause, darf ich?“, stöhnte Galjka. Sie war etwas jünger, als ich.
„Wie, nach Hause? Dann bekommen wir weniger Brot“, bekam sie als Antwort.
Ehrlich gesagt, hatten wir es damals satt, draußen zu stehen. Noch ein paar Monate zuvor gingen wir wie getriebene raus, später wollten wir nur noch nach Hause oder wenigstens in die Schule. Anfangs freuten wir uns laut über die ausgefallenen Schulstunden, danach trauerten wir ihnen nach. Wir hatten die Abenteuer satt, wollten essen und leben, wie früher.
Wie früher, das ging nicht mehr. Bald musste ich nicht einmal mehr den Müll heraustragen. Die Müllcontainer waren nur ein paar Schritte weit weg, aber Oma ging selbst. Ich protestierte, wollte diese einst gehasste Aufgabe unbedingt weiter durchführen, wie früher. Es wurde mir nicht erlaubt. Oma ging schnell mit den Mülleimern über die leere Straße und ich schaute ihr aus dem Fenster dabei zu.
Einmal machte sie plötzlich halt. Ich beobachtete, dass sie neben einem Typen stand, der aus irgendeinem Grund auf dem Boden lag. Sie tastete ihn an und ging weiter. Als sie mit leeren Mülleimern zurückkam, nahm sie ein sauberes weißes Bettlacken aus dem Schrank und kehrte zurück Richtung Straße. Meiner Frage, wo sie denn hin wolle, wich sie aus. Sie ging zu dem Mann auf dem Boden und bedeckte ihn vom Kopf ab mit dem Laken, ich beobachtete das aus dem Fenster. Warum, erzählte sie mir nicht. Aber ich verstand es trotzdem. Noch lange danach fürchtete ich mich davor, an diesem Ort vorbeizugehen.
Oma respektierte meine Angst. Als wir mit schweren Taschen voller Kristallwaren und Zeitschriften zu Verkaufen zum Basar gingen, umgingen wir den Ort immer, auch wenn das einen Umweg bedeutete. Die Taschen waren so schwer, dass sie sich bis zum Blut in die Handfläche schnitten. Leicht zu verkaufende Güter wie Gold, Silberbesteck, Seidenlaken und gestickten Tischdecken (die als meine Mitgift vorgesehen waren) hatten wir schon lange zuvor teuer verkauft. Es blieb nur das Kristall und die Bücher. Oma sorgte sich mehr um die Bücher. Zuerst nahm sie die, von denen wir verschiedene Ausgaben hatten, dann die, die nicht so interessant waren, dann die, die sie schon zehn mal gelesen hatte. Doch der Krieg ging immer weiter und auch alle anderen Bücher mussten weg.
Lest auch auf Novastan: Erinnerungen an den Tadschikischen Bürgerkrieg „Die Kugeln fliegen schneller als man rennen kann“ Teil 1/3
Eines Abends nahm sie zehn neuere Bücher einer Buchreihe mit rotem Buchband aus dem Regal: „Die Abenteuer von Tomek im Land der Kangoroos“, „Die Abenteuer von Tomek auf dem schwarzen Kontinent“, „Tomek sucht den Yeti“, „Tomek am Amazonas“ usw. Von Alfred Schkljarskij. Sie stellte alle Bücher vor mich:
„Lil’ka, lies! Wir müssen sie auch verkaufen, sonst bleibt uns nichts mehr.“
Ich fing an zu lesen. Die Abenteuer von Tomek aus Polen raubten mir den Atem! Ich las voller Gier und hätte am liebsten jede Seite mehrmals gelesen. Oma rief mich zur Eile und fragte jeden Tag, wie weit ich gekommen war. Schließlich hatte ich das letzte Buch, «Tomek bei Grand-Tschako» zu Ende gelesen und gab alle Bücher weg.
Oma legte sie in eine Tasche und wir brachten sie zum Basar. Normalerweise trug ich schwere Taschen hin und betete, dass sie auf den Rückweg leichter sein mögen. Normalerweise wurden meine Gebete nicht erhört. Diesmal jedoch bat ich um nichts, und es funktionierte. Wir haben alle Bücher der Tomek-Reihe auf einmal verkauft. Ich habe nie mehr von seinen Abenteuern gelesen.
Ich war 15 als der Krieg endlich zu Ende ging. Ich hatte solche Erfahrungen hinter mir, dass «Tomek unter den Menschenjägern» mich nicht mehr beeindruckte.
Im russischen Original auf Asia Plus
Aus dem Russischen übersetzt von Florian Coppenrath
Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen, schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram.