Das Theater Artischok (Art i Schok — Russische für Kunst und Schock) ist in Almaty stadtbekannt. Es befindet sich im Kellergeschoss eines Hochhauses aus Sowjetzeiten an der Kreuzung zwischen den Straßen Kunaewa und Jibek Joly.
Der Eingang des Theaters im Innenhof ist nicht zu übersehen: ein riesiges blaues A ist auf eine orange gestrichene Wand gemalt. Steigt man die Treppe hinunter und folgt einem kleinen, dunklen und kühlen Flur, befindet man sich auf einmal in einer anderen Welt. Tief unter der Erde taucht man ein in eine wahrhaftige Theateratmosphäre.
Ein bescheidener Raum mit warmem, sanftem Licht, eine kleine Bar und ein braunes Klavier aus dem 19. Jahrhundert. Am Eingang begrüßt einen Diana, die Direktorin des Theaters. Sie erzählt vom Repertoire, von den Vorstellungen und was sich hinter den Kulissen und auf der Bühne ihres Theaters abspielt.
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Diane schlägt mir eine Tasse Kaffee vor, aber ich lehne ab. Meine Aufmerksamkeit gilt den Geräuschen, die aus dem Vorstellungssaal zu hören sind. Diana wundert sich darüber weit weniger: „Hier ist immer etwas los.“ Gerade wird geübt. Still sei es hier nie.
„Hier fühle ich mich an meinem Platz“
„Ich kenne Artischok schon lange. Früher kam ich sehr häufig, um mir die Vorstellungen anzuschauen“, erinnert sich Diana, damals kam sie noch als einfache Zuschauerin. „Als ich erfahren habe, dass die Truppe einen Direktor sucht, habe ich nicht einen Moment gezögert. Die Arbeit gefällt mir und ich habe den Eindruck, dass ich hier wirklich an meinem Platz bin.“
Diana kennt das Repertoire so gut wie kaum jemand anderes. Sie schaut den Schauspielern mit der gleichen Leidenschaft zu, wie diese spielen. Aber natürlich gefällt selbst ihr nicht jedes Stück. „Selbstverständlich gibt es Stücke, die sind einfach nicht mein Ding; das ist dann eine Geschmacksfrage. Das heißt nicht, dass sie schlecht sind, es ist einfach nicht meine Tasse Tee. Aber auch bei diesen Stücken sind immer sehr viele Zuschauer da – viele von ihnen schauen sich die Stücke sogar zwei oder dreimal an.“
Heute Abend wird eine Gruppe aus fünf Schauspielern auf der Bühne stehen: Tschingis Kapin, Viktoria Muchamedschanowa, Anastasia Tarasowa, Dmitry Kopylow und Sergei Lysenko. Ich schleiche mich an die Bühne an und schaue den Schauspielern beim Aufwärmen zu.
Im Schatten der Bühne
Im Halbdunkeln stehen die Schauspieler im Kreis, in Gedanken ist jeder von ihnen schon in einer ganz anderen Wirklichkeit. Sie müssen nun den „Rhythmus der Bühne“ halten. Die Übung beginnt langsam: der Reihe nach klatschen sie in die Hände. Dann wird es immer schneller, es kommen Geräusch hinzu, die Reihenfolge ändert sich und die Schauspieler fangen an kreuz und quer auf der Bühne durcheinander zu laufen, ohne jedoch aus dem Rhythmus zu kommen. Sie kommen wieder im Kreis zusammen, machen verschiedene Geräusche, Silben und ohrenbetäubenden Lärm. Sie reichen sich „Bäm“s weiter, ein Lächeln oder ausgedachte Gegenstände. Innerhalb von zehn Minuten ist die Übung zu Ende.
Ein junger Mann löst sich aus der Gruppe. Tschingis Karin erklärt: „ Das ist eigentlich sehr einleuchtend. Vor eine Konzert spielt jeder Musiker seine Tonleitern und Übungen, um die Finger und sein Instrument aufzuwärmen. Und jeder Sportler macht Aufwärmübungen für seine Muskeln. Für uns Schauspieler verhält es sich ganz genauso. Übungen sind notwendig, um zu gewinnen und sie sind vor jeder Vorstellung unterschiedlich. Spielen wir beispielsweise ein sehr ernstes Stück, dann wärmen wir uns auch in einer ernsten Atmosphäre auf — ohne dabei natürlich die gesunde Prise Humor zu vergessen.“
Die Tasse Kaffee, die Diana mir angeboten hat, nehme ich nun doch an. Ich fange an das Leben der Schauspieler, das, welches der einfach Zuschauer normalerweise nicht zu sehen bekommt, zu verstehen. So bereitet sich auch Sergei Lysenko auf sehr ungewöhnliche Art und Weise für jede Vorstellung vor. Denn eigentlich kommt er aus Bishkek, der Hauptstadt des benachbarten Kirgistans.
„Für jede Vorstellung muss ich von Bishkek nach Almaty fahren“, erzählt er. „Das ist schon eine ziemliche Strecke, ich verbringe mehrere Stunden im Bus. Aber das gibt mir die Zeit, zu schlafen und mich auszuruhen. Vor allem aber gehe ich das Theaterstück mehrmals in seiner Gesamtheit in Gedanken durch, um sicher zu gehen, dass ich nichts vergessen werde.“ Sergei lebt zwar in einem anderen Land — die Strecke nimmt er aber gerne auf sich, um in seinem Lieblingstheater zu spielen. „Alles hängt von der Herangehensweise und von der Leistung der Schauspieler ab. Genau das gefällt mir bei Arthishok. 2007 habe ich mit „einfache Leute“ zum ersten Mal bei Artischok auf der Bühne gestanden. Das war eine super Erfahrung. Ich habe die Philosophie von Artischok sofort verstanden und gemocht. Man fängt mit Improvisation an — und hat am Ende eine grandiose Theatervorstellung.“, erklärt mir Sergei, bevor er sich auf den Heimweg nach Bishkek macht. In der kirgisischen Hauptstadt hat er sein eigenes Theater, das „Mestod“. Das sei zwar viel jünger, folge aber der gleichen Philosophie: „Wir sind so etwas wie die Kinder von Artischok“.
Artischok, das einzige nicht-staatliche Theater Kasachstans
Natürlich gebe es ab und zu auch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Truppe, so Viktoria: „Aber nur was die Arbeit angeht. Bei uns im Theater gibt es wahre Meinungsfreiheit. Im Laufe der Vorbereitungen für eine Aufführung oder einer Neuinszenierung kommt es schon mal dazu, dass die Meinungen auseinandergehen. Wir sind alle sehr verschieden, jeder hat seinen eigenen Charakter und sein eigenes Temperament. Aber wir finden immer einen Kompromiss. Es ist wie in einer Familie, es gibt unterschiedliche Meinungen, aber wir streiten uns nicht. Wir respektieren uns und wir reden viel. Wie heißt es so schön, „Die Wahrheit wird in der Diskussion geboren“.“
Das Artischok ist das einzige nicht-staatliche Theater Kasachstans. „Uns stehen keinerlei öffentliche Gelder zur Verfügung, daher müssen wir sehr viel selber machen“, so Anastasie Tarasowa, die Schauspielerin und gleichzeitig Managerin des Theater ist. Tschingis Kapin, ein weiterer Schauspieler, ist gleichzeitig für Öffentlichkeitsarbeit und Werbung verantwortlich.
Auch Anastasias ältester Sohn hilft bei jeder Probe mit. „Er ist ein gewöhnlicher Junge. Er möchte nicht Schauspieler werden, sondern träumt davon, Häuser zu bauen. Aber ich halte es für wichtig, dass er sieht, dass es noch ein anderes Leben gibt, das Leben auf der Bühne, und wie so eine Theatervorstellung vorbereitet wird. Das wird ihm eines Tages nützlich sein“, so die Schauspielerin mit einem Lächeln.
Unser Gespräch dauert nun schon sehr viel länger als vorgesehen. Langsam wird es Zeit, dass die Schauspieler auf die Bühne gehen. Hemden bügeln, sich umziehen, schminken, die Requisiten überprüfen, sich konzentrieren, zuschauen, wie der Saal sich füllt — und dann mit angehaltenem Atem auf die erste Aufführung des Stückes warten.
Dmitry Kopilov
Dmitry Kopilov ist Schauspieler am Theater
Aus dem Französischen übersetzt von Charlotte Dietrich
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