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Fremdenfeindlichkeit gegenüber Tadschik:innen in Russland – ein Interview mit Natalija Zotowa

Die Fremdenfeindlichkeit in Russland gegenüber Migrant:innen hat nach dem Terroranschlag am 22. März 2024 deutlich zugenommen. Die russischen Behörden nutzen die Xenophobie allerdings schon länger für eigene Interessen. Obwohl Migrant:innen unverzichtbare Arbeitskräfte darstellen, werden sie zugleich, wie in anderen Ländern auch, für Probleme im Land verantwortlich gemacht. Von dieser Fremdenfeindlichkeit sind in Russland oftmals Zentralasiat:innen betroffen. Mehr dazu lest ihr im Interview von Asia-Plus mit Natalija Zotowa.

Natalija Zotowa, Foto: demoscope.ru

Die Fremdenfeindlichkeit in Russland gegenüber Migrant:innen hat nach dem Terroranschlag am 22. März 2024 deutlich zugenommen. Die russischen Behörden nutzen die Xenophobie allerdings schon länger für eigene Interessen. Obwohl Migrant:innen unverzichtbare Arbeitskräfte darstellen, werden sie zugleich, wie in anderen Ländern auch, für Probleme im Land verantwortlich gemacht. Von dieser Fremdenfeindlichkeit sind in Russland oftmals Zentralasiat:innen betroffen. Mehr dazu lest ihr im Interview von Asia-Plus mit Natalija Zotowa.

Die Zunahme der Arbeitsmigration aus Zentralasien nach Russland führte unter anderem zu einer breiten Fremdenfeindlichkeit gegenüber Migrant:innen in Russland. Produziert wird die „Migrantophobie“ maßgeblich von russischen Behörden durch migrationspolitische Maßnahmen, öffentliche Reden, Äußerugen in der Presse und Praktiken der alltäglichen Diskriminierung von Arbeitsmigrant:innen.

Asia-Plus führte ein Interview mit Natalija Zotowa über die aktuelle Situation von Migrant:innen in Russland. Zotowa ist Doktorandin am Albert Einstein College of Medicine in New York und ehemalige Mitarbeiterin des Instituts für Anthropologie und Ethnologie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Seit mehr als 15 Jahren ist sie spezialisiert auf den Migrationsfluss aus Zentralasien nach Russland, insbesondere aus Tadschikistan. Sie hat zahlreiche Studien über Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und psychische Gesundheit von Arbeitsmigrant:innen verfasst.

Ihre jüngste umfassende Studie über die psychische Gesundheit von zurückgekehrten tadschikischen Migrant:innen führte sie im Auftrag der Internationalen Organisation für Migration in Tadschikistan durch.

Obwohl die Fremdenfeindlichkeit zunimmt, verlassen Migrant:innen Russland nicht

Seit wann gibt es die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Migrant:innen in Russland?

Die „Migrantophobie“ ist ein Teil des übergeordneten Konzepts der Fremdenfeindlichkeit, einer Abneigung gegen alles Fremde und Andere. Als soziales Phänomen gibt es sie in verschiedenen Ländern der Welt, aber überall manifestiert sie sich auf unterschiedliche Weise und hat unterschiedliche Folgen für die Gesellschaft und die Migrant:innen selbst.
Fremdenfeindlichkeit gegenüber Migrant:innen gab es auch schon in der UdSSR und  lange vor deren Gründung. Im zeitgenössischen Russland trat sie sich jedoch im Zusammenhang mit dem großen Zustrom von Arbeitsmigrant:innen auf.

Die Geschichte der Massenmigration aus Tadschikistan begann vor 30 Jahren. Zunächst flohen Tadschik:innen vor dem tadschikischen Bürgerkrieg, dann kamen  Arbeitsmigrant:innen hinzu. Auf der Suche nach Einkommensquellen, um ihre Familien unterstützen zu können, gingen Tadschik:innen nach Russland. So kam es zur massenhaften Migrationsbewegung. Wenig später gesellten sich Migrant:innen aus Usbekistan und Kirgistan dazu. Auch heute wandern hauptsächlich Arbeitsmigrant:innen aus diesen Ländern nach Russland aus. Jährlich migrieren etwa 500.000 tadschikische Staatsbürger:innen ins Ausland, vor allem nach Russland, um dort zu arbeiten. Oft bleiben sie mehrere Jahre oder länger. Verschiedenen Schätzungen zufolge halten sich jedes Jahr 700.000 bis 900.000 Tadschik:innen allein in Russland auf. Bedauerlicherweise wurde nicht nur die Arbeitsmigration, sondern auch die Fremdenfeindlichkeit in Russland zu einem Massenphänomen, das von den russischen Behörden durch migrationspolitische Maßnahmen, in öffentlichen Reden, durch Äußerungen in der Presse und Praktiken der alltäglichen Diskriminierung von Migrant:innen in erheblichem Maße befeuert wurde.

Der Terroranschlag auf das Crocus City Hall hat den Grad der „Migrantophobie“ oder gar den Chauvinismus in Russland zunehmen lassen. Wozu wird dies letztlich führen? Wird die Arbeitsmigration aus Tadschikistan abnehmen?

Der Terroranschlag und die Reaktion der russischen Behörden sowie der Bevölkerung darauf haben nicht nur den Grad der Fremdenfeindlichkeit erhöht – ich kann von einer Zunahme von ethnisch motiviertem Hass, Verfolgung und Verbrechen sprechen.
Ich habe jedoch nicht den Eindruck, dass dies zu einem starken Rückgang der Migration aus Tadschikistan führen wird. Zu diesem Zeitpunkt sind viele Migrant:innen nach Hause geflogen, untergetaucht oder haben beschlossen, zur Sommersaison nicht nach Russland zu fliegen. Das ist eine nachvollziehbare Reaktion angesichts der Gefahr, die ihnen droht.

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Gleichzeitig ist Russland nach wie vor das Hauptzielland tadschikischer Arbeitsmigrant:innen und wird dies wahrscheinlich auch noch viele Jahre lang bleiben. Das liegt daran, dass die Tadschik:innen starke soziale Bindungen zu Russland entwickelt haben – sie haben Verwandte und Bekannte, aus ihren Heimatstädten, -dörfern und -bezirken und leben und arbeiten gemeinsam dort.

„Migrant:innen gehen meist dorthin, wo sie Familienmitglieder oder Bekannte in Russland haben, denn solche sozialen Bindungen helfen ihnen bei der Arbeits- und Wohnungssuche, bei der Lösung von Problemen mit der Registrierung und den Dokumenten und erleichtern die Bewältigung tausender anderer bürokratischer und häuslicher Probleme.“

Es ist auch eine ernsthafte psychologische Hilfe, wenn man in einem anderen Land jemanden hat, mit dem man sich unterhalten, mit dem man Probleme teilen und besprechen und in seiner Muttersprache kommunizieren kann.

Darüber hinaus ist zu bedenken, dass in den 30 Jahren der Geschichte der massenhaften Arbeitsmigration eine große Zahl tadschikischer Staatsangehöriger russische Pässe erhalten hat und zu Staatsbürger:innen geworden sind. So haben beispielsweise allein in den letzten vier Jahren etwa eine halbe Million Tadschik:innen die russische Staatsbürgerschaft erhalten.
Migrant:innen und neu Eingebürgerte stellen somit einen bedeutenden Teil der russischen Gesellschaft dar. Daher kann ich nur einen kurzfristigen Rückgang der Migration prognostizieren.
Gleichzeitig beobachte ich eine Diversifizierung der Immigrationsländer. Zunehmend werden Kasachstan, europäische Länder, der Persische Golf, die USA und Kanada beliebter. Migrant:innen sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten und Ländern, in denen die Verdienst- und Lebensbedingungen besser sind und in denen sie besser behandelt werden. Mit der Zeit wird diese Neuausrichtung der Migrationsströme deutlicher sichtbar werden.

Die Migration birgt riesiges menschliches Potenzial

Welche Auswirkungen wird der Rückgang der Migration in Russland haben?

Der zahlenmäßige Rückgang der Migration in Russland wird mittel- und langfristig erhebliche Auswirkungen haben. In der heutigen Welt ist das Humankapital die wichtigste Ressource. Migrant:innen sind meist junge Menschen, sie bringen neue Ideen und Energie mit, wichtige Ressourcen für die Entwicklung eines Landes.

Taxifahrer, Foto: Global Look Press

„Es ist falsch zu denken, dass Migrant:innen nur Arbeitskräfte sind, dass sie nur in einfachsten, schlecht bezahlten Jobs beschäftigt sind.“

Es ist in der Tat das Gesetz der Migrationsentwicklung aus einer globalen Perspektive, dass  Neuankömmlinge zunächst, wie in jedem anderen Land auch,  einer physischen Arbeit nachgehen oder im Dienstleistungssektor beschäftigt, einfach weil sie aufgrund von zahlreichen Hürden – gesetzlicher, administrativer und sprachlicher Art – keinen qualifizierteren Arbeitsplatz finden können.
Migrant:innen aus Zentralasien sind in Russland eine wichtige Arbeitskraft, und viele Wirtschaftszweige sind an sie gebunden.
Mit der Emigration von Migrant:innen werden Lücken, die sie hinterlassen, schwer zu füllen sein, insbesondere aufgrund der demografischen Krise in Russland und im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.
Abgesehen von der Arbeitskraft ist die Migration eine wichtige Ressource für die Bevölkerungsreproduktion, die in Russland rasch abnimmt. Schließlich kommen die Migrant:innen zusammen mit ihren Familien, mit kleinen Kindern, es werden neue Kinder gezeugt, die in Russland aufwachsen, studieren und zu vollwertigen Mitgliedern der neuen Gesellschaft werden.
Somit birgt die Migration ein riesiges menschliches Potenzial, das Russland verlieren wird, wenn die Migrationspolitik und die negative Einstellung gegenüber Migrant:innen sich nicht ändert.

„Ich habe Angst vor einer Zunahme der Gewalt“

Wie die derzeitige Situation zeigt, gibt es angesichts der zunehmend fremdenfeindlichen Stimmung und der Verfolgung von Migrant:innen niemanden, der die Neuankömmlinge schützt. Welche Rolle sollte die Diaspora in diesem Zusammenhang spielen? Wo stehen sie jetzt, da auch sie von Zeit zu Zeit unter Druck geraten?

In allen größeren Städten und Regionen Russlands gibt es Diasporas von Tadschik:innen und anderen zentralasiatischen Migrant:innen, die eine gewisse Rolle beim Schutz der Rechte ihrer Landsleute spielen. In der Regel verfügen solche Vereinigungen über ehrenamtliche Unterstützung durch Menschenrechtsverteidiger:innen und Anwält:innen, die Beratung anbieten und bei der Beschaffung von Dokumenten helfen.

Personen vor einem Zentrum für Migrationshilfe, Foto: RIA Nowosti

Die Diaspora steht in der Tat unter starkem Druck seitens der Behörden, so dass sie aus Sicherheitsgründen versucht, in der Öffentlichkeit nicht sehr präsent zu sein. Das ist schade, denn die Selbstorganisation zur Verteidigung von Rechten stellt ein wirksames Instrument dar. In der gegenwärtigen Situation eines neuen Ausbruchs von „Migrantophobie“ und fremdenfeindlichen Äußerungen von Behörden versuchen Vereine und national-kulturelle Verbände, sich „zurückzuhalten“. Ich habe jedoch den Eindruck, dass sie alle ihre Arbeit auch unter solchen Bedingungen fortsetzen werden.

Was raten Sie den Migrant:innen in Russland, damit sie nicht von der Welle des Hasses gegen alle Migrant:innen aus Zentralasien erfasst werden?

Es fällt mir schwer, Ratschläge zu erteilen, und ich mache mir derzeit große Sorgen um die Migrant:innen. Ich fürchte eine Zunahme von Gewalt und Verbrechen, die durch ethnischen Hass motiviert sind.
Nach meinen Beobachtungen haben viele Migrant:innen beschlossen, nach Hause zurückzukehren. Diejenigen, die in Russland geblieben sind, versuchen, weniger aufzufallen und seltener auf der Straße aufzutauchen.

Traumatische Folgen

Gibt es Studien über die psychische Gesundheit von Arbeitsmigrant:innen in Russland in Zeiten von Konflikten und Extremsituationen, zu denen auch die derzeitige migrationsfeindliche Stimmung in Russland gehören könnte?

Solche Studien sind mir nicht bekannt. Es ist „im Moment“ nicht einfach, solche durchzuführen, denn dazu sind Erhebungen unter Migrant:innen in Russland erforderlich.
Forschende, die sich mit der psychischen Gesundheit zentralasiatischer Migrant:innen befasst haben (es gilt meine Arbeit und die von Stevan Weine zu nennen), sind sich jedoch einig, dass akute und Krisensituationen langfristige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Migrant:innen haben können.
Wenn eine Person beispielsweise eine traumatische Situation erlebt oder miterlebt hat (Verhaftung durch die Polizei, Verhöre, harte Bedingungen, Gewalt oder Folter), kann sie eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD), Angstzustände oder Symptome anderer häufiger psychischer Erkrankungen entwickeln.

Was hat sich für Arbeitsmigrant:innen aus Zentralasien in Russland seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine geändert? 

Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, der lange vor dem Februar 2022 begann, haben Migrant:innen aus Zentralasien eine Reihe von Konsequenzen erfahren.
Zuvor war beispielsweise die Grenze zur Ukraine im Gebiet Belgorod die nächstgelegene Grenze zu einem anderen Staatsgebiet im zentralen Teil Russlands, die Migrant:innen kurzzeitig überquerten, um ihre Migrationskarten zu erneuern. Bereits 2014 wurden solche Reisen fast unmöglich.
Der Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine im Februar 2022 hat neue Risiken für Migrant:innen mit sich gebracht. Es gibt viele Berichte darüber, wie versucht wird, sie für den Krieg zu rekrutieren, sei es mit finanziellen Mitteln oder im Zusammenhang mit dem Erteilen eines russischen Passes.
Die Einbürgerung birgt somit auch Risiken. Mir sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen Migranten gleichzeitig mit der Erlangung der Staatsbürgerschaft eine Vorladung zum Militärrekrutierungszentrum erhielten.

 „Russische Behörden sind sich der Vorteile der Migration durchaus bewusst“

Wie sinnvoll oder unsinnig ist Ihrer Meinung nach die derzeitige Politik der russischen Behörden gegenüber Migrant:innen?

Die Migrationspolitik und der öffentliche Diskurs in Russland scheinen auf den ersten Blick dual zu sein.Auf der einen Seite sehen wir Schritte zur Erleichterung rechtlicher Bedingungen und zur Legalisierung von Migrant:innen, auf der anderen Seite macht sich ein Diskurs des Hasses, der Migrantenfeindlichkeit und der Fremdenfeindlichkeit im öffentlichen Raum breit. Gefordert wird, Kontrollen zu verschärfen, einen „digitalen Pass“ für Migrant:innen einzuführen, usw. Betrachtet man jedoch beide Aspekte genauer, so findet sich eine entsprechende Erklärung.

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Einerseits sind die russischen Behörden nicht völlig dumm und sind sich der Vorteile der Migration für das Land durchaus bewusst. Heutzutage wird um solche Ressourcen gerungen, da sie sehr wertvoll sind! Daher verfolgen sie auf der einen Seite eine bedingt günstige Migrationspolitik.
Auf der anderen Seite sind Migrant:innen aus Zentralasien im Kontext der Fremdenfeindlichkeit seit Langem eine Zielscheibe, um Frustration, Aggression und Fremdenfeindlichkeit der russischen Bevölkerung zu kanalisieren. Wenn es innenpolitisch nicht gut läuft, ist es praktisch, einen Sündenbock vorzuhalten, auf den man die ganze Verärgerung und Aggression übertragen kann.
Mit dem starken Anstieg der „Migrantophobie“ nach dem Terroranschlag im März werden Tadschik:innen und zentralasiatische Migrant:innen zur Angriffsfläche.

Ist es möglich, dass eine solche polyvalente Migrationspolitik einer der Gründe für das Anwachsen der migrationsfeindlichen Stimmung in der russischen Gesellschaft ist?

Der Grund für das Anwachsen der migrationsfeindlichen Stimmung ist nicht eine polyvalente Ausrichtung, sondern vielmehr die Ausnutzung des zweiten Aspekts durch die Medien und die russischen Behörden. Migrant:innen werden als gefährliche Außenseiter dargestellt, die für alle Probleme und Misserfolge im Land verantwortlich sind.

Leider ist das Phänomen nicht neu. Behörden in verschiedenen Ländern spielen die „Migrationskarte“ auf verschiedenen Ebenen aus, etwa vor Wahlen und in politischen Debatten. Das ist bequem und sicher für Politiker:innen. Es ist einfacher, die Aufmerksamkeit auf Migrant:innen zu lenken, als sich ernsthaft mit der Lösung von Problemen im Land zu befassen. Diese Vorgehensweise ist jedoch fern von Humanismus und Menschlichkeit.
Migration hat es zu allen Zeiten gegeben, sie ist die Grundlage der menschlichen Entwicklung. So kam es auch, dass sich Menschen seit der Antike auf allen Kontinenten und in allen Ländern der Welt niedergelassen haben.

Migrant:innen und Einwohner:innen der Aufnahmeländer sollten ihre Stimme gegen Migrantenfeindlichkeit und Diskriminierung erheben. Dies wird der Gesellschaft helfen, menschlicher, entwickelter und zivilisierter zu werden.

Asia Plus

Aus dem Russischen von Berenika Zeller

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