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„Das Ewige Thema“ – Ein Gespräch mit der kasachischen Schriftstellerin Roza Muqanova

Die Schriftstellerin Roza Muqanova hat eine der prägnantesten – und erfolgreichsten – Geschichten über die Folgen der Atomwaffentests im heutigen Kasachstan geschrieben. Im Interview erzählt sie von den Hintergründen und davon, was sie mit dem Stück erreichen möchte.

Roza Muqanova

Die Schriftstellerin Roza Muqanova hat eine der prägnantesten – und erfolgreichsten – Geschichten über die Folgen der Atomwaffentests im heutigen Kasachstan geschrieben. Im Interview erzählt sie von den Hintergründen und davon, was sie mit dem Stück erreichen möchte.

Wie schreibt man über das Desaster, ohne beim Lesenden nur Schmerz und Verzweiflung auszulösen? Wie kann man in einer zerbombten Landschaft Schönheit und Ruhe finden? All diese Fragen beantwortet die Kurzgeschichte „Mäñilik bala beıne”, zu Deutsch etwa: „Das ewig-kindliche Gesicht“, der kasachischen Autorin Roza Muqanova, die sie in den Jahren 1988-1989 geschrieben hat. Darin schreibt sie mit poetischer Kraft von der jungen, etwa 16-jährigen Läılä, die ein „ewiges Kind“ geblieben ist, also über eine junge Frau, deren Körper in jungen Jahren aufgehört hat zu wachsen – eine Folge der sowjetischen Atomwaffentests in Kasachstan.

Ewig von der Zukunft getrennt, von ihren Mitmenschen missverstanden, flüchtet das junge Mädchen jeden Abend hinaus in die Steppe, in die Schlucht zwischen den Bergausläufen, um sich heimlich mit dem einzigen Wesen zu treffen, das sie versteht und das sie liebt: Mit dem Mond – oder besser: Mit der Möndin, denn obgleich die kasachische Sprache nicht gendert, wird die Möndin nicht nur klar weiblich, sondern sogar mütterlich beschrieben. Eines Nachts, als Läılä krank im Bett liegt, zeigt sich die mütterliche Möndin, deren Mondstrahlen die Schlucht und die Ebenen nach dem „ewigen Kind“ absucht:

„Die Strahlen der Möndin, die in die tiefe Schlucht fallen, leuchten heller als je zuvor. Sie schweifen über die Erde auf der Suche nach Läılä, dem Mädchen mit dem verweinten Gesicht. Sie suchen und fragen nicht nur das Wasser des Dorfes Qarauyl, sondern auch die Erde und die Berge, seufzend, mit mütterlicher Stimme: „Wohin bist du verschwunden? Warum bist du heute nicht in der tiefen Schlucht?“ Und es scheint, als ob sie, in der Schlucht schwebend, mit innig-warmen Handflächen, ihre Hände ausbreiten.“

Obwohl Läılä am Ende der Geschichte stirbt, wirkt die poetische Stimme der Erzählerin dennoch tröstend. Auch deshalb sticht diese Kurzgeschichte in der Flut an literarischen Produktionen rund um Atomwaffentests und nukleare Katastrophen hervor. Denn wir sehen die Welt durch Läıläs Augen, fühlen mit ihr und erkennen in ihr eine wunderschöne Seele, die uns vergessen lässt, dass ihr Körper der eines Kindes ist, mit alten, viel zu alten Händen. Die Kurzgeschichte zeigt die Trauer und den stillen Kummer der Bevölkerung Kasachstans, die in unmittelbarer Nähe des sowjetischen Atomwaffentestgebiets Semipalatinsk lebte, lebt und überlebt.

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Frau Muqanova ist eine bewundernswerte Person, ihr Drama basierend auf dieser Kurzgeschichte wird seit 1996 auf kasachstanischen Bühnen aufgeführt, und dennoch ist sie nahbar geblieben. Nicht nur in persönlichen Gesprächen, sondern auch später in einem umfänglichen schriftlichen Interview beantwortet sie unzählige Fragen. Die relevantesten und interessantesten Ausschnitte dieses Interviews sind für alle von Bedeutung, die sich für Literatur, Zentralasien und die Fragen nach Ethik, Umwelt und den Problemen nuklearer Zerstörung interessieren.

Verena Zabel: Wie haben Sie die Sowjetzeit erlebt und was denken Sie heute darüber?

Roza Muqanova: Ich habe selbst im Sowjetsystem gelebt und habe sowohl meine Kindheit, als auch meine Schulzeit glücklich verbracht. Danach wollte ich studieren. Als Studentin habe ich dann begonnen, gewisse Hindernisse zu bemerken. Mir fiel auf, dass die Freiheit meines Volkes begrenzt war, dass es nicht seine eigene Geschichte schrieb und dass die Macht der Ideologie bis zu einem gewissen Grade immer siegte.

Dies alles änderte sich allmählich mit der Unabhängigkeit. Literatur, Teile unserer Geschichte, Werke und Forschungen wichtiger kasachischer Persönlichkeiten, die früher zensiert oder komplett verboten wurden, wurden nach und nach veröffentlicht.

Wie hat sich die Unabhängigkeit Kasachstans auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Ohne die kasachstanische Unabhängigkeit wäre es mir unmöglich gewesen, meine Kurzgeschichte „Mäñilik bala beıne” zu veröffentlichen. Durch diese Kurzgeschichte wollte ich das Schicksal meines Volkes erzählen. Ich wollte über das Unrecht schreiben, dass nicht nur dem Mädchen Läılä, sondern uns allen zugefügt wurde. Ich wollte durch die Darstellung von Läıläs Seele aufzeigen, dass sie ein Opfer des politischen Systems war, und dass dieses System ihre Zukunft als Mensch zerstört hat.

Sie selbst wurden unweit vom Atomwaffentestgelände geboren. Was sagten die Leute damals dazu?

Ja, ich wurde in Semipalatinsk (heute Semeı, Anm. d. Red.) geboren. Dort wurden über 40 Jahre lang Atomtests durchgeführt. Die Menschen, die dort lebten, wurden nicht umgesiedelt. Sie wussten auch nicht, was wirklich vor sich ging. Es wurde geheimgehalten, dass es sich um Atombomben handelte und dass diese sehr gefährlich für die menschliche Gesundheit sind. In ihrem Inneren haben die Menschen das alles gespürt, und die Gebildeten unter ihnen haben auch verstanden, dass es an den Atombomben lag.

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Da aber die Kasachen ein Volk waren, das politische Verfolgung, Hunger und Unterdrückung erlebt hatte, wagte es niemand, dieses Thema anzusprechen oder etwas dagegen zu tun. Erst 1988-89 begann man, offen darüber zu sprechen, dass Land und Wasser vergiftet wurden, dass immer weniger Menschen geboren wurden, dass Krankheiten zunahmen und Menschen ungewöhnlich früh starben. Für die Kasachen war diese katastrophale Zeit wie eine Sturzflut, die alles erfasste.

Wie haben die Menschen auf die Kurzgeschichte und das Drama reagiert?

Die Kurzgeschichte kam bei den Menschen sehr gut an. Ein Theaterdirektor hat mir sogar vorgeschlagen, die Kurzgeschichte für die Bühne umzuschreiben. Auch das Drama kam dann bei der Premiere sehr gut an. Doch das Publikum, das zur Aufführung kam, tat mir auch sehr leid, weil alle so gerührt waren, dass sie weinten. Danach wurde das Drama eines der beliebtesten Theaterstücke überhaupt. Etwa 20 Jahre lang spielten wir vor ausverkauftem Haus. Die Leute wurden nicht satt, es zu sehen und die Nachfrage war sehr groß.

Später wurde es aus dem Theaterrepertoire gestrichen, es hieß, das Bühnenbild sei veraltet. Ich erinnere mich noch daran, dass damals junge Studierende im staatlichen Fernsehen auftraten, um ihre Unzufriedenheit mit der Theaterleitung auszudrücken. Diese jungen Menschen wollten, dass das Stück wieder in das Repertoire aufgenommen wird. Das waren für mich sehr interessante Neuigkeiten. Das Drama war so beliebt, dass es später sogar verfilmt wurde.

Das Drama wird immer noch aufgeführt. Inzwischen aber als ein inklusives Theater, in dem die Rolle von Läılä nicht einfach von einem „gesunden“ jungen Mädchen gespielt wird, sondern von einer Schauspielerin, die genauso wie Läılä auch, den Körper eines Kindes hat. Wie hat das Publikum darauf reagiert?

Das Publikum hat reagiert wie immer: Obwohl Läılä eine Behinderte ist, sagen sie, dass Läılä schön ist, dass ihre Seele rein und engelhaft ist und dafür lieben sie Läılä. Sie sympathisieren mit Läıläs Traurigkeit. Als würden sie alles zusammen mit Läılä erleben, beschuldigen sie das politische System, sind von den korrupten Menschen angewidert und verfluchen die katastrophale Waffe, die Läıläs Tod verursacht hat.

ılä verrät ihre Geheimnisse nicht dem Himmel oder der Nacht. Sie spricht auch nicht mit sich selbst, sondern mit dem Mond. Was ist so besonders an dem Mond?

Der Mond ist rein, makellos, sieht milchig weiß aus. Läılä ist auf der Erde, während der Mond sich im Weltraum befindet, doch sie sehen sich. Läılä kann ihre Geheimnisse nicht den Dorfbewohner:innen verraten, denn für sie ist Läılä nur ein Krüppel, eine invalide Person. Sie können Läıläs Seele, ihre Träume und Sorgen nicht verstehen. Läılä musste jemanden finden, der sie verstehen und ihr Leiden teilen kann. Deshalb hat sie den Mond gefunden. Das ist Läıläs Wahl!

Das Drama unterscheidet sich etwas von der Kurzgeschichte. Zum einen dadurch, dass neue Charaktere hinzugefügt wurden, zum anderen dass bestehende Charaktere erweitert wurden. In der Kurzgeschichte trifft ılä auf ihre Jugendliebe Qumar, der zu einem schönen, jungen Mann herangewachsen ist. Er tanzt mit Läılä und ist freundlich zu ihr. Er behandelte sie so, als sei sie ein normales Mädchen. Doch im Drama zeigt sich später Qumars dunkle Seite darin, dass er Läıläs Freundschaft und Vertrauen für Geld verkauft. Warum haben Sie diese Szene hinzugefügt?

Um die Kurzgeschichte in das Genre der Dramaturgie umzuwandeln, wollte ich den Konflikt verschärfen und eine Kulmination des Konfliktes erreichen. Außerdem wollte ich die Jugend vor der moralischen Gefahr, die die Werte von Reichtum und Geld mit sich bringen, beschützen. Die ersten Jahre der Unabhängigkeit waren sehr schwer für die Menschen. Die Lebensbedingungen waren sehr schwer. Diese Realitäten des wirklichen Lebens wollte ich in dem Drama auch darstellen.

Im Drama gibt es auch noch einen weiteren Charakter, der in der Kurzgeschichte gar nicht vorkommt, die verrückte Şökiş. Warum haben Sie sie hinzugefügt?

Als ich noch ein Kind war, gab es in unserem Dorf eine alte verrückte Frau namens Meñtaı. Sogar im Sommer hat sie Winterklamotten getragen. Die Kinder haben sie gejagt und verspottet, wenn sie die Straße entlang ging. Meine Oma hat dieser alten Frau immer warmes Essen, Tee und Süßigkeiten gegeben. Sie hat ihr auch Brot und Irimşik (kasachischer Käse, Anm. d. Red.) mitgegeben. Dann hat Meñtaı wie ein gesunder Mensch geredet und mit meiner Oma viel gesprochen.

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Meine Oma erzählte mir, dass Meñtaı gar nicht verrückt sei. Ihr Vater war früher nicht nur ein reicher Mann, sondern auch ein Landkreisvertreter (rus. Wolostnoj, politisch-administratives Amt im Russischen Reich, Anm. d. Red.). Zur Zeit der Beschlagnahmungskampagne (eine Enteignungskampagne der Bolschewiki gegen die sogenannte Bourgeoisie, Anm. d. Red.) wurde ihr Vater festgenommen und daraufhin wurde sie mental krank. Sie war die Tochter eines bekannten Wolostnoj, so erzählte es meine Oma. Ich habe Şökiş in Anlehnung an diese Meñtaı geschrieben. Obwohl Şökiş verrückt aussieht, ist sie eigentlich gesund, so wie Meñtaı. Weil ihr Kind unter den Folgen der Atomwaffentests gelitten hat, ist sie auch mental krank geworden.

Haben sie andere literarische Texte über Semipalatinsk oder allgemein über Atomwaffentests gelesen?

Ich habe mir Fotoausstellungen über das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk angeschaut, ich habe auch Artikel und Recherchen darüber gelesen. Allerdings hatte ich vor meinem eigenen keine anderen literarischen Werke zu diesem Thema gelesen. In der Wirklichkeit ist es aber so, dass die Menschen ihr Schicksal nicht durch Artikel besser kennen lernen, sondern durch Kunstwerke, Literatur, Kino und Theater.

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Ihre Kurzgeschichte unterscheidet sich von anderen Romanen oder gar Dokumentarfilmen, die meistens die Explosionen selbst detailliert beschreiben, oder auch Aufnahmen davon zeigen. Ihr Fokus liegt nicht in der Darstellung der Explosionen selbst. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Neben dem Zeigen der Explosion, war es vor allem meine Aufgabe, die Ursachen und Wirkungen aufzuzeigen und das Problem selbst auf eine Ebene zu heben, in der es die gesamte Menschheit betrifft. Ich wollte dies dem menschlichen Bewusstsein nicht nur als Information oder als Artikel, sondern eben als Kunstwerk, als literarisches Werk vermitteln. Ich habe geschrieben, weil nicht nur mein Land, sondern die ganze Welt, die unter Krieg leidet, Läıläs Trauer, ihre Tragödie sehen und darüber nachdenken soll. Ich denke, dass der Mensch keine Gewalt gegen die Erde oder gegen die Menschheit anwenden sollte.

Was ist die Bedeutung der Kunst bei solch einem politischen Thema wie Atomwaffentests?

Atomtests wurden nicht nur in unserem Land, sondern auf der ganzen Welt durchgeführt. Doch auch wenn Informationen dazu in den Nachrichten gezeigt werden, handelt es sich dort doch nur um eine Momentinformation. Das verschwindet sehr schnell wieder aus dem Bewusstsein der Menschen. Doch wenn es in der Sprache der Literatur, des Theaters, des Kinos, des Balletts, der Oper, oder der Musik Ausdruck findet, so wird es zu einem ewigen Thema für die Menschheit.

Denn mit unseren Herzen und Seelen verstehen wir, welche Auswirkungen Kriegswaffen auf die Menschheit haben, dass sie die Vernichtung aller Menschen auf der Erde bedeuten könnten. Wir werden dafür kämpfen, dass dies niemals passiert. Für mich als Autorin und Dramaturgin war das notwendig. Ich musste meinen inneren Widerstand durch meine Feder zum Ausdruck bringen.

Vielen Dank für das Interview!

Interview und Übersetzung aus dem Kasachischen
Verena Zabel, M.A.

Eine englische Übersetzung von Roza Muqanovas Kurzgeschichte kann in der frei zugänglichen Anthologie kasachischer Prosa gefunden werden (S. 561-570). Die kasachische Originalversion kann hier gefunden werden (S. 119-127).

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