In den vergangenen 30-40 Jahren wurde weltweit ein Anstieg der Temperaturen beobachtet, insbesondere in Kirgistan. Dies führt zu einer verstärkten Verdunstung von Niederschlag und damit zu Bodentrockenheit. Künstliche Gletscher sollen in Kirgistan dabei helfen, Probleme bei der Wasserregulierung auf abgelegenen Weideflächen und landwirtschaftlich genutzten Flächen zu lösen.
Kumuschaj Abdykalykowa ist Bewohnerin des Dorfes Olon-Bulak in der Oblast Dschalal-Abad. Die Bewohner:innen dieses kleinen Dorfes im Süden Kirgistans litten häufig unter dem Wassermangel, der zu einer mangelnden Bewässerung der Felder und Gärten führte. „Wir leben im Süden des Landes. Aufgrund der klimatischen Bedingungen war Wasser bei uns schon immer ein knappes Gut“, erzählt sie. Laut Abdykalykowa resultierte der Wassermangel oft in Konflikten sowohl zwischen den Bewohner:innen des Dorfes als auch mit denen der Nachbardörfer. Diese Situation zog sich über Jahre. Inzwischen reicht das Wasser für alle. Grund dafür ist ein künstlicher Gletscher, welcher unweit des Dorfes angelegt wurde.
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Geschaffen wurde der Gletscher 2022 auf der abgelegenen Weidefläche Kara-Dobo in der Rajon Aksy der Oblast Dschalal-Abad. Dabei handelt es sich um den ersten künstlichen Gletscher in Kirgistan. Die Bewohner:innen des Dorfes bauten den Gletscher selbst mit technischer Unterstützung durch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und finanziellen Mitteln des UN Peacebuilding Fund. Dafür waren laut Schekerbek Kamtschybek Uulu, Vorsteher der Gemeinde Kaschka-Suu (Rajon Aksy, Oblast Dschalalabad), 5.500 US-Dollar nötig. Zwei weitere künstliche Gletscher wurden 2023 in derselben Rajon auf der Weidefläche Kol in der Nähe des Dorfes Olon-Bulak sowie auf der Weidefläche Kok-Sai bei Kara-Baschat gebaut.
„Aufgrund des Wassermangels ist bei uns das Gras praktisch über Jahre hinweg nicht gewachsen. Jetzt wächst es sehr viel und überall und darüber freuen wir uns sehr. Wir sind sehr zufrieden, die Rinder können frei weiden, es gibt Wasser und Gras. Konflikte zwischen den Anwohner:innen gibt es nicht mehr und das alles Dank des künstlichen Gletschers“, sagt Kumuschaj Abdykalykowa.
Zentrale Rolle der Landwirtschaft in Kirgistan
Kirgistan ist ein Agrarstaat im Hochland. 94 Prozent der Staatsfläche sind gebirgig, was die Landwirtschaft vor große Herausforderungen stellt. Dazu zählt der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie zu Wasser für die Bewässerung. Die Landwirt:innen des Landes sind besorgt über den Mangel an Bewässerung für die Landwirtschaft. Besonders angespannt ist die Lage im Süden des Landes. Hier gibt es im Sommer nur sehr geringe Niederschlagsmengen. Gleichzeitig fällt im Winter kaum Schnee. Die Hauptwasserquellen sind Gebirgsströme, die jedoch in schwer zugänglichem Gelände liegen. Des Weiteren führen die Temperaturschwankungen zu instabilen Niederschlagsmustern und die häufigeren Temperaturspitzen rufen Trockenheit und Dürre hervor, insbesondere auf den Bergweiden. Die Hochlandgebiete Kirgistans, in denen sich vor allem Weideflächen befinden, sind durch deutlich kontinentales Klima geprägt. Dieses zeichnet sich durch extreme Temperaturschwankungen von +40 bis -40 Grad Celsius und geringe Niederschläge im Frühjahr und Sommer aus.
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Laut Dschyldys Toktomamatowa, der nationalen Managerin des FAO-Projektes „Support to rural people in border regions of Kyrgyzstan and Uzbekistan lifts prosperity”, lösen die künstlichen Gletscher das Problem der Regulierung des Wasserhaushalts auf abgelegenen Weiden und schaffen die Voraussetzungen für eine saisonale Rotation der Weideflächen. „Während der Schmelze versorgen die künstlichen Gletscher die Viehzüchter:innen mit Wasser für den Trink- und Haushaltsbedarf sowie für die Versorgung des Viehs“, führt sie aus. Somit helfen die künstlichen Gletscher nicht nur dabei, das Wasser auf rationale Weise zu verteilen, sondern auch Konflikte zwischen Landwirt:innen aufgrund des Mangels von lebenswichtigen Ressourcen zu vermeiden.
Die Technologie hinter den künstlichen Gletschern
Künstliche Gletscher werden durch das Einfrieren von Wasserfontänen bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt angelegt. Dadurch entstehen Türme aus Eis, die in Abhängigkeit vom Wasserdruck und dem Höhenunterschied eine Höhe von 30 bis 50 Metern erreichen. Je größer der Höhenunterschied und je höher der Wasserdruck, desto höher der künstliche Gletscher.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Für den Bau eines künstlichen Gletschers ist es lediglich nötig, eine unterirdische Leitung (Trasse) von der Wasserquelle über eine Entfernung von etwa 1000 bis 3000 Metern zu verlegen, abhängig von der jeweiligen Beschaffenheit des Geländes. Der natürliche Wasserstrom wird durch die Schwerkraft in ein etwa 15 bis 20 Meter hohes vertikales Rohr geleitet. Mit dem Einsetzen der Frostperiode sammelt sich schrittweise Eis in dem künstlichen Gletscher an, dessen Volumen mehrere Tausend Kubikmeter (Tonnen) erreichen kann. Das Volumen des Gletschers kann je nach Wasserdruck, der geplanten Bewässerungsfläche und den Bedürfnissen der Viehzüchter:innen angepasst werden.
Beginnen die wärmeren Tage im Frühling und Sommer, so fängt der „Turm“ aus Eis an zu schmelzen und bietet dadurch den Anwohner:innen einen dauerhaften Zugang zu frischem Wasser, das zum Trinken, für den Haushalt und zum Tränken des Viehs verwendet werden kann. Bei einem Wasserdruck von 5 Litern pro Sekunde werden beispielsweise 432.000 Liter oder 432 Kubikmeter Wasser pro Tag und 12.960 Tonnen oder Kubikmeter Wasser pro Monat im künstlichen Gletscher angesammelt.
Künstliche Gletscher als Gemeinschaftsprojekt
Die Schaffung von künstlichen Gletschern ist ein relativ kostengünstiges Verfahren. Kosten entstehen dabei hauptsächlich durch die Baumaterialien, wie etwa die Kunststoffrohre, die notwendig sind, um eine Wasserleitung von der Quelle zu bauen.
„Der Bau des künstlichen Gletschers durch die Anwohner:innen begann mit der Verlegung der unterirdischen Rohre“, führt Schekerbek Kamtschybek Uulu aus. Für die Wasserversorgung wurde ein Rohr mit 100 mm Durchmesser verwendet. Es wurde darauf hingearbeitet, dass das Wasser von selbst und ohne Unterstützung durch einen Motor fließt. In nur einer Woche huben 55 Personen von Hand einen Graben aus und verlegten die Rohre von der Bergquelle bis hin zur Weide, auf der das Vieh der Dorfbewohner:innen lebt.
Laut Schekerbek Kamtschybek Uulu hat der erste künstliche Gletscher im Dorf Kara-Dobo nach nur einem Jahr bereits positive Ergebnisse hervorgebracht. „Die Umgebung ist deutlich grüner geworden, es ist viel Gras gewachsen. Außerdem hat sich der Tourismus positiv entwickelt. Aber am wichtigsten ist, dass wir kein Wasserdefizit mehr haben“, berichtet er.
Myktybek Kalandarow, Direktor der Abteilung für Weideflächen und Viehzucht im Ministerium für Wasserressourcen, Landwirtschaft und verarbeitende Industrie der Kirgisischen Republik, geht davon aus, dass sich die Schaffung von künstlichen Gletschern in Kirgistan positiv ausgewirkt hat. „Wir unterstützen den Bau von künstlichen Gletschern. Wenn sich diese als erfolgreich erweisen, werden wir zukünftig den Bau künstlicher Gletscher in Kirgistan über unsere Spezialist:innen für Weideflächen weiter verbreiten.“
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Gemäß den Daten der Organisation „Kyrgys Shajyty“ (Anm.: Nationale Organisation der Nutzer:innen von Weideflächen) bestehen in den verschiedenen Regionen des Landes bereits 30 künstliche Gletscher. Weiterhin sollen im Jahr 2024 im Rahmen eines weiteren gemeinsamen Projekts vier neue künstliche Gletscher in den Rajons Batken und Leilek (Oblast Batken) entstehen.
Laut der Klimatologin Soja Kretowa kann die Implementierung von Maßnahmen zur Adaption an den Klimawandel in der Gegenwart dabei helfen, zukünftige Risiken zu verringern. Da diese Praxis bereits weit verbreitet ist und von den Nutzer:innen der Weideflächen angepasst werden kann, kann sie sich nachhaltig verbreiten. „Maßnahmen zur Adaption an den Klimawandel sollten sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene stattfinden. Künstliche Gletscher sind ein Beispiel für lokale Adaption an die fortschreitende Trockenheit und Degradierung von Weideflächen in Kirgistan“, sagt Kretowa.
Gulnara Mambetalijewa für CABAR Asia
Aus dem Russischen von Marie Schliesser
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