Das Theater 705 ist eines der wenigen unabhängigen Theater in Kirgistan, das aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreift. Bei experimentellen und dokumentarischen Performances stellen die Autor:innen Fragen an sich selbst und das Publikum und versuchen dabei, Antworten darauf zu finden. The Steppe sprach mit Darina Kaparova, Produzentin und Produktionsdesignerin des Theaters 705, über dessen einzigartigen Ansatz, seine Formate sowie die staatliche Zensur.
Die Geschichte des Theaters 705 begann mit einer 2005 gegründeten Gruppe kreativer Menschen. Einer der Gründer, der zeitgenössische Künstler Marat Rajymkulow, war damals mit Theateraktivitäten beschäftigt. Später begann die Gruppe zu wachsen und konnte sich in ganz anderen Bereichen beweisen.
Wir führten Recherchen, Kinderworkshops, ein Filmfestival, Ausstellungen und vieles mehr durch. Irgendwann wurde jedoch unklar, was wir genau machten. Aus diesem Grund kam es im Team zu Missverständnissen und als Fortsetzung wurde das Theater 705 gegründet. Im Jahr 2019 begann es, sich zu manifestieren. Gleichzeitig haben wir all das geerbt, was wir zuvor in der Kreativgruppe gemacht hatten. Mittlerweile kennt uns jeder in Bischkek als experimentelles Theater.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!705 ist eine künstlerische Plattform für Regisseur:innen, Künstler:innen, Schauspieler:innen, Musiker:innen und alle Menschen, die mit der Kunst sympathisieren. Wir konzentrieren uns hauptsächlich auf dokumentarische Performances, die die aktuelle Realität berühren. Sie werden sowohl in russischer als auch in kirgisischer Sprache abgehalten.
Fast alle unsere Regisseur:innen und Schauspieler:innen arbeiten an staatlichen Theatern. Aber sie kommen zu uns wegen der Freiheit. Tatsache ist, dass es in Kirgistan viel Zensur und Hierarchie gibt. Bevor man in einem Staatstheater etwas zeigen kann, muss man einen riesigen bürokratischen Weg durchlaufen. Daher wenden sich Regisseur:innen mit ihren Ideen, was sie inszenieren wollen, an das Theater 705. Und wir stellen ihnen nicht nur eine physische Plattform, sondern auch eine Informationsplattform zur Verfügung und übernehmen die gesamte Leitung.
Die Besonderheiten
Die Aufführungen des Theater 705 finden an der Schnittstelle zwischen innovativer Kunst und Klassikern statt. Im Laufe unserer Arbeit kann es sein, dass wir eine gute Symbiose aus der Arbeit eines Regisseurs des Staatstheaters und beispielsweise einer zeitgenössischen Künstlerin erhalten. Auf diese Weise beschäftigen wir uns tiefer mit dem Thema und finden neue Medien.
Es ist uns sehr wichtig, nach neuen Formaten zu suchen. Alle Beteiligten sollten einen Ort haben, an dem sie ohne Zensur, Druck, unklare Fristen oder Verpflichtungsgefühle experimentieren und scheitern können. Man muss einen ziemlich aufrichtigen Impuls haben. Wir nutzen unsere Räumlichkeiten voll aus: Einige der Vorstellungen finden in einem kleinen Saal statt, es gibt aber auch Vorstellungen, die im gesamten Theater stattfinden.
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Wir haben ein recht gemütliches Theater – es bietet Platz für maximal 35 Personen. Die Aufführung eines Stückes erfolgt für mindestens sechs Monate. Das ist ein ziemlich langer Zeitraum und in fast 90 Prozent der Fälle verfügen wir nicht über ausreichende Mittel. Unsere Leute engagieren sich aus persönlichem Wunsch und Initiative und sie finden auch in einer finanziell schwierigen Periode Zeit für die Proben. Aus diesem Grund sind unsere Aufführungen nicht kostenlos. Wir haben verschiedene Preissegmente. Meistens halte ich mich daran, dass wir 70 Prozent der Einnahmen an das Produktionsteam abgeben und das Theater 705 nur den Restbetrag für sich behält. Die Miete wird so aber nicht gedeckt: Das Geld wird für Nebenkosten und einige kleinere Ausgaben verwendet.
Unser Team steht für Barrierefreiheit und legt in erster Linie großen Wert auf das Publikum. 705 ist bestrebt, in Bischkek eine Theaterkultur zu entwickeln.
Beliebte Werke
Die Aufführungen des Theaters 705 sind dokumentarischer Natur und beziehen sich auf die moderne Realität in Kirgistan und Zentralasien. Eine der beliebtesten Produktionen ist „Uja“, was „Nest“ bedeutet. Sie basiert auf Interviews mit sechs Personen und untersucht das Modell der Gesellschaft, in der wir leben und in der jeder meint zu wissen, wie man lebt.
Zu den Charakteren gehören Moldo, eine Großmutter, die in einem Pflegeheim lebt, ein junges Shisha-Mädchen, eine Vertreterin einer ultrapatriotischen Gruppe, eine Feministin und eine Frau, die Waisenkindern hilft. Das sind völlig unterschiedliche Menschen und sie diskutieren darüber, wer sie geworden sind und wie sie dorthin gekommen sind. Die Aufführung findet auf einer Treppe im Theater statt. Das Publikum beobachtet die Aufführung von zwei Seiten und wird Zeuge des Geschehens im „Haus“. Dies ist unsere erste Aufführung, bei der wir die kirgisische Sprache verwenden.
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Zu Beginn der Aufführungen begrüße ich das Publikum und führe sie ins Thema ein. Ich warne immer: Wenn Sie gehen wollen, halten wir niemanden auf. Das ist ein Zeichen dafür, dass man sich hier frei fühlt. Wir sind auch dagegen, dass Leute, wie im Staatstheater, für Schauspieler:innen klatschen.
Nach der Aufführung führen wir eine Diskussion, die manchmal länger dauert als die Aufführung selbst. Wir wissen die Diskussion sehr zu schätzen, da sie eine Fortsetzung dessen ist, was das Publikum gesehen hat. Übrigens haben wir das Album der Sängerin Zere Asylbek kyzy – „Men Qaidamyn“ produziert. In diesem existenziellen Sinne stellen wir im Namen einer Frau die Frage, wer in der Gesellschaft ist.
Im Jahr 2023 reisten wir mit dem selbst verfassten feministischen Stück „So funktioniert es in meiner Welt“ nach Estland zum Theaterfestival „Freiheit“. Es war eines der beliebtesten. Viele bekannte Influencer:innen nahmen daran teil. Insbesondere Eldana Foreyes, Beke Saikal, Zere und andere Aktivist:innen. Allerdings besuchen leider immer weniger Menschen Aufführungen in kirgisischer Sprache. Das ist für uns sehr schmerzhaft. Vielleicht haben wir noch nicht das Publikum erreicht, das uns zuschauen kann. Wir hoffen, dass sich die Situation wieder ändert.
Mit Darina Kaparova sprach Sabina Dschandildina für The Steppe
Aus dem Russischen von Robin Roth
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