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„Auf zum Marsch”: Wofür kämpft die feministische Bewegung Kasachstans?

Seit letztem Frühjahr haben feministische Aktivist:innen zehn Anmeldungen für eine Kundgebung und einen Marsch am 8. März 2024 für die „Freiheit und Sicherheit der kasachischen Frauen” beim Akimat in Almaty eingereicht. Diese wurden jedes Mal abgelehnt mit der Begründung, dass bei einer friedlichen Versammlung mit einem solchen Thema „die Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung bestehe”.

Vlast 

Übersetzt von: Irina Radu

Original (16. Februar 2024)

Können Feminist:innen am 8. März in Kasachstan für Frauenrechte demonstrieren? Foto: Wikimedia Commons

Seit letztem Frühjahr haben feministische Aktivist:innen zehn Anmeldungen für eine Kundgebung und einen Marsch am 8. März 2024 für die „Freiheit und Sicherheit der kasachischen Frauen” beim Akimat in Almaty eingereicht. Diese wurden jedes Mal abgelehnt mit der Begründung, dass bei einer friedlichen Versammlung mit einem solchen Thema „die Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung bestehe”.

Trotzdem begannen feministische Aktivist:innen im Januar mit der Planung einer Kundgebung und eines Marsches zum Internationalen Frauentag. Sie hielten Pressekonferenzen ab, organisierten Streikpostenaktionen und beantragten, eine „Versammlung für eine Kundgebung” zu organisieren.

Vlast berichtet, wie feministische Aktivist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen dafür kämpfen, dass am 8. März ein Frauenmarsch und eine Kundgebung stattfinden.

„Haben Sie keine Angst, in einer Stadt zu leben, in der die Polizei Sie nicht schützen kann?“

„Eine Streikpostenaktion ist etwas, auf das sich Aktivist:innen in verschiedenen Städten Kasachstans geeinigt haben, und es stellt sich heraus, dass es kaum das letzte Mittel ist, um unsere Meinung zum Ausdruck zu bringen”, sagte Veronika Fonova, eine Leiterin der feministischen Gruppe Kazfem, die vor dem Kasachischen Nationalen Opern- und Balletttheater Abay mit einem Plakat stand, auf dem zu lesen war: „Ich stehe hier, damit Sie zum Marsch gehen können.”

Dies ist ihre zweite Streikpostenaktion in einer Woche. Am 3. Februar unternahm ein Mann namens Nikita Bura mit seinen Begleitenden während des ersten Streikpostens einen Versuch, die Aktion zu stören. Er trug eine Maske und filmte alles mit seinem Handy und rief die Polizei – angeblich wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung.

„Das sind Einzelfälle. Ich will nicht, dass die Leute denken, es sei gefährlich, und Angst haben, ihr verfassungsmäßiges Recht wahrzunehmen. Es wird immer Andersdenkende geben.”

Am Ort des Streikpostens hat Fonova eine Gruppe von Unterstützenden – andere feministische Aktivist:innen sowie Mitglieder des Organisationskomitees für den Frauenmarsch 2024. Veronika beginnt die Aktion mit zwei Fragen: „Wird die Person, die mich bei der vereinbarten Streikpostenaktion angegriffen hat, bestraft werden?” und „Wird es eine Genehmigung für eine Kundgebung für Frauenrechte, Freiheit und Integrität am 8. März geben?”  

Schwieriger Dialog mit der Regierung

„Wir sehen, dass es so viele Probleme gibt – Drängeln, Belästigung – die während der Lesung des Gesetzentwurfs diskutiert, aber nicht angegangen wurden. Warum geschieht dies überhaupt? Frauen sterben aufgrund von häuslicher Gewalt, und der Staat will keinen Dialog mit uns führen. Ich denke, das ist ein wichtiges Thema, das man diskutieren sollte”, sagt die feministische Aktivistin.

Fonova stellt fest, dass die Tatsache, dass Begriffe wie „Drängeln” und „Belästigung” nicht berücksichtigt wurden, „ein beunruhigendes Zeichen” ist. Das Innenministerium erklärte jedoch am 13. Februar, dass „die Regierung sich nicht geweigert” habe, diese Artikel unter Strafe zu stellen, und erklärte, dass sie diese Aspekte „prüfe”.

Die feministische Aktivistin fügt hinzu, sie sei empört darüber, dass „die Stadtpolizei nicht in der Lage ist, die Sicherheit der Bevölkerung von Almaty zu gewährleisten, die sich drei Stunden lang in einem Park oder auf einem Platz versammeln.”

„Sie sagen, dass es bei einer solchen Veranstaltung ein Sicherheitsrisiko gibt. Das mag zwar nicht der wahre Grund sein, es klingt für mich ziemlich beunruhigend. Haben Sie keine Angst, in einer Stadt zu leben, in der die Polizei Sie tagsüber im Zentrum nicht schützen kann?”

Warum Aktionen nötig sind

Im Anschluss an den Streikposten von Fonowa begibt sich die Begleitgruppe traditionell in das nächstgelegene Café, um dort zu Mittag zu essen. Dort besprechen sie die Pläne für die nächsten Streikposten. Kamila Ensegen hat die Akimats (staatliche Regionalverwaltung, Anm. d. Red.) von Almaty und Aktau über ihre Aktion informiert.

„Unser Kampf richtet sich nicht gegen Männer oder andere Gruppen von Menschen, sondern wir kämpfen dafür, dass in unserem Land normale Gesetze verabschiedet werden und die Strafverfolgungsbehörden ordnungsgemäß arbeiten”, so Ensegen.

Sie erinnert sich an eine Diskussion über einen Gesetzesentwurf im Mäjlis, bei der der Abgeordnete Anas Bakkojayev sagte, Familienkonflikte seien auf „die lange Rede” der Frauen zurückzuführen.

„Ich hatte gehofft, dass nach dem Tod von Saltanat Nukenova [in einem Restaurant in Astana im November 2023, Anm. d. Red.] bei der Lesung des Gesetzentwurfs wenigstens ein bisschen über Belästigung gesprochen wird. Aber nichts ändert sich, nur die Mädchen ändern sich”, erzählt sie.

„Jedes Jahr kommen fast tausend Menschen zu unseren Demonstrationen und Kundgebungen. Wir sind mehr geworden, und wir wollen über unsere Rechte sprechen. Wir bitten nur um einen Tag im Jahr. Für uns ist dies eine Plattform, ein Ort und ein Umfeld, wo Frauenorganisationen und Frauen über ihre Probleme sprechen können”, erklärt Lyubow Worontsowa, Mitglied des Organisationskomitees.

Moldir Alban, eine feministische Aktivistin und Mitglied des Organisationskomitees, fügt hinzu, dass mit der wachsenden Zahl der Unterstützenden auch die Hindernisse zunehmen.

Widerstand von allen Seiten

„Während die Bewegung wächst, gibt es Widerstand von Seiten des Staates und von Menschen mit konservativen Ansichten. Je näher wir dem 8. März kommen, desto aktiver werden sie. Anstatt uns auf die Aktion selbst vorzubereiten, müssen wir unsere Energie darauf verwenden, das zu bekämpfen”, sagt sie.

Vorontsova erklärt auch, dass sich die Themen der Frauenkundgebungen jedes Jahr ändern; die diesjährige Kundgebung will sich auf die Sicherheit der kasachstanischen Frauen konzentrieren.

„Es geht nicht nur um das Gesetz, sondern darum, dass es in der Praxis funktioniert. Ich sehe Diskriminierung am Arbeitsplatz, im Bildungswesen und in staatlichen Einrichtungen – das sind keine sicheren Bedingungen. Bei einem Streikposten und einer friedlichen Kundgebung sollte ich auch sicher sein”, meint Vorontsova.

Tatiana Tşernobil, Menschenrechtsaktivistin und Mitglied des Organisationskomitees, fügt hinzu, dass sich die Frauen schon vor der friedlichen Versammlung selbst anstrengen müssen, um zu beweisen, dass nicht ihre Aktion „die öffentliche Ordnung bedroht”, sondern sie selbst bedroht werden.

Ein aktuelles Beispiel ist der Protest eines konservativen Teils der Mitglieder des Vereins „Jeltoksan”, die sich am 13. Februar gegen LGBT als „Bedrohung für die Zukunft Kasachstans” aussprachen und ein Verbot von Aufmärschen und Kundgebungen am 8. März forderten. Ihre Aktion sei durch einen Streikposten der feministischen Aktivistin Aktorgyn Akkenjebalasy zur Unterstützung des Marsches in der Nähe des Denkmals von Jeltoksan „provoziert” worden.  

Die feministsiche Aktivistin Kyrmyzy Rustembekovna erinnert an die Bedeutung von Streikpostenaktionen, Kundgebungen und Märschen: „Wir sagen, dass wir hier sind, dass wir existieren und dass wir Unterstützung brauchen, damit die Öffentlichkeit Empathie für Frauen zeigt, die täglich mit Sexismus, Mobbing, Gewalt, Schikane und Homophobie konfrontiert sind.”

Tşernobil fügt hinzu, dass die staatlichen Behörden und die gegnerischen Kräfte sagen: „Wenn es Probleme gibt, melden Sie sie, dann werden wir sie beheben.Aber es geht um die Möglichkeit, zu mobilisieren, Schwesternschaft zu zeigen und sich zu umarmen.”

Die Menschenrechtsaktivistin weist darauf hin, dass es sich nicht um eine Dachorganisation handelt, sondern um eine Gruppe von Menschen, die versuchen, ein Vorbild zu sein: „Wir sind nicht das Sprachrohr aller Frauen in Kasachstan. Wenn Sie etwas ansprechen wollen, sprechen Sie es an, wir werden Sie unterstützen.”

Schließlich stellt Moldir Alban fest, dass trotz des Widerstands das Bewusstsein für den Feminismus in verschiedenen Regionen Kasachstans zunimmt:„In Kasachstan wird sich der Feminismus entwickeln. Die Mädchen lernen ihre Rechte kennen und wissen, dass ihr Ziel nicht nur darin besteht, zu heiraten. Sie können die Welt bereisen, eine Karriere machen, eine Ausbildung erhalten und vieles mehr.”

„Feminist:innen werden zu einer großen politischen Kraft“

Janar Sekerbaeva, Mitglied des Organisationskomitees für den Frauenmarsch und Mitbegründerin der Initiative Feminita, hielt am 14. Februar, dem „Valentinstag”, ebenfalls einen einsamen Streikposten in Almaty ab.

Sie gibt zu, dass es jedes Jahr schwieriger wird, ihre Kundgebungen abzuhalten: „Viele Menschen sind sich dieses unsichtbaren Kampfes, den wir mit den lokalen Regierungen führen, nicht bewusst. Wir erhalten täglich Ablehnungen. Um die Unterstützung der Akimat im Jahr 2021 zu bekommen, mussten wir ab 2017 große Anstrengungen unternehmen. Schon 2022 sagten sie, wir sollten auf einen Marsch verzichten, und nur eine Kundgebung machen. 2023 machten wir eine Kundgebung nach der anderen, Pressekonferenzen, um den Marsch abzuhalten. Dieses Jahr erhielten wir immer wieder Absagen.”

Sie glaubt, dass die Behörden durch die Tatsache eingeschüchtert werden, dass die Frauenbewegung zu einer Massenbewegung und einer großen politischen Kraft wird. Weiter ist sie der Meinung, dass die Behörden die Teilnahme verschiedener Frauengruppen, von Lesben bis hin zu Transfrauen, nicht mögen. „Es ist sehr wichtig, über Inklusion und Intersektionalität zu sprechen”, erklärt die feministische Aktivistin.

Wie andere feministische AktivistInnen ist auch sie unzufrieden mit der Tatsache, dass vier Jahre des Kampfes nicht zu einer Antidiskriminierungsgesetzgebung geführt haben.

Sekerbaeva betont, dass man Gewalt nicht allein durch kulturellen Wandel überwinden kann:„Wir organisieren Schulungen, wir schärfen das Bewusstsein. Aber nur sehr wenige Männer werden davon überzeugt. Wie sollen wir ihnen erklären, dass sie keine Gewalt anwenden sollen?Kennen Sie die Namen der Frauen, die in Dörfer jeden Tag sterben? Niemand kennt sie. Vielleicht erregen sie nicht die Aufmerksamkeit der großen Medien, aber sie sterben. Femizide gibt es seit den 1990er Jahren. Es gab keinen Gesetzesentwurf, als Nasarbaev im Amt war, und es gibt auch keinen Gesetzesentwurf unter der jetzigen Regierung. Was ist denn der Kurs des ‚Neuen Kasachstan‘?”

„Der Kampf der Frauen für ihre Rechte stand auch auf der Tagesordnung der ,Alasch‘-Bewegung”

Die feministische und Menschenrechtsaktivistin Aigerim Kusaıynkysy ist der Ansicht, dass es nicht den Menschenrechtsnormen entspricht, dass die Behörden am 8. März keinen friedlichen Marsch zulassen und sie eine „Genehmigung für eine Kundgebung” einholen muss.

Dennoch weist sie darauf hin, dass der Staat die Kundgebungen und Märsche am 8. März bisher aktiv genutzt hat, um internationalen Organisationen Bericht zu erstatten. „Wenn es aber in diesem Jahr keine ‚Erlaubnis‘ gibt, wird sich das nicht nur negativ auf das Ansehen Kasachstans im Ausland, sondern auch im Land selbst auswirken”, so die Menschenrechtsaktivistin. „Der 8. März ist nicht nur ein Feiertag, an dem Mütter Blumen von ihren Kindern und Angehörigen erhalten, sondern auch ein Tag, an dem Frauen in Kasachstan über ihre Probleme sprechen können. Es ist ein historischer Tag, an dem die Frauen für Bildung und Rechte gekämpft haben.”

Und weiter: „Die kasachstanischen Frauen haben auch schon vor hundert Jahren gekämpft. Da ist das Beispiel von Nasipa Kuljanova. Im Jahr 1907 hielten die kasachischen Frauen in Semeı ihren eigenen Kongress ab, auf dem Männer und Frauen gemeinsam Probleme ansprachen.”

Geschlechterspezifische Probleme bleiben ungelöst

Trotz jahrelanger Bemühungen seien die geschlechtsspezifischen Probleme nach wie vor ungelöst. Eines davon ist der geringe Anteil von Frauen in der Regierung.

„Von den 26 Ministern der neu gebildeten Regierung sind nur vier Frauen. Von den 88 stellvertretenden Ministern sind zehn Frauen. Die Beteiligung von Frauen an der Politik liegt unter 20 Prozent, aber der Frauenanteil in Kasachstan beträgt 52 Prozent. Wer wird dann die Probleme der Frauen bei den Behörden vorbringen? Wenn wir eine demokratische Regierung hätten und die Hälfte des Parlaments und der Regierung aus Frauen bestünde, erhielten die Probleme der Frauen vielleicht eine andere Relevanz”, sagt Kusaıynkysy.

Geschlechtsspezifische Probleme lassen sich ihrer Meinung nach nicht allein durch Gesetze lösen, sondern auch durch einen kulturellen Wandel und eine Änderung der Einstellung gegenüber Frauen: „Wir müssen uns von der Ansicht verabschieden, dass eine Frau eine Mutter ist. Eine Frau ist eine Präsidentin, sie ist eine Wissenschaftlerin, sie ist eine Politikerin. Nur wenn wir unsere Ansichten über solche Dinge ändern, können wir auch die Weltsicht über Frauen ändern.”

Sie merkt an, dass die Definition von Frauen über ihre soziale Rolle leider auch bei Menschen zu beobachten ist, die sich gegen häusliche Gewalt aussprechen: „Wenn sie sich gegen Gewalt aussprechen, sagen sie ‚schlagt keine Mädchen, denn es könnte eure Mutter, Schwester und so weiter sein‘. Warum müssest du mich nur als Schwester sehen? Kannst du mich nicht als menschliches Wesen sehen? Wenn man eine Frau über ihre soziale Rolle definiert, entwertet man die Menschenrechte und die Arbeit der FeministInnen, die seit Jahren dafür kämpfen.”

Sie glaubt, dass der Kampf für die Rechte der Frauen systemisch sein muss – von der Mitarbeit in der Arbeitsgruppe für das Gesetz über häusliche Gewalt bis hin zu Änderungen in Fernsehserien und Filmen, die Frauenfragen geringschätzen.

„Unsere Kultur bewegt sich in eine Richtung und die Politik in eine andere. Dies ist ein Kampf für soziale Gerechtigkeit, für Menschenrechte, für unsere gute Zukunft. Das sind keine Kleinstthemen von bestimmten Frauen. Wir wollen keine Revolution inszenieren und die Frauen verändern. Unser Traum ist es, den Lebensstandard der kasachischen Frauen zu verbessern”, so Kusaıynkysy.

Naserke Kurmangasinova und Almas Kaisar für Vlast

Aus dem Russischen von Irina Radu

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