Für Aliia Bolathan ist die Esskultur eines Volkes einer der Schlüssel zum Verständnis seiner nationalen Identität. Die Historikerin, die sich seit einigen Jahren mit der kulinarischen Geschichte Kasachstans befasst, arbeitet derzeit an der Erstellung eines gastronomischen Grundlagenwerks des Landes. In einem Gespräch berichtet sie darüber, wie sich ethno-demographische Veränderungen auch in der nationalen Küche niederschlagen und welche Kontroversen und Entwicklungen dies mit sich bringt.
Ein Staat, viele Völker, noch viel mehr Gerichte
Obwohl heute ein Arbeitstag ist, herrscht auf dem Tastak-Basar in Almaty bereits seit dem Morgen reges Treiben. Beim Mittagessen an einem Schaschlik-Stand auf dem Markt erzählt Aliia Bolathan, dass sie schon einmal dort war, um die Männer hinter dem Grill zu interviewen, die die nationale Kultur zu ihrem Geschäft gemacht haben.
Diese ‚Schaschlitschnaja‘ (Schaschlik-Imbiss) ist ein Familienbetrieb, den es seit den 90er Jahren gibt. „Die Stammkunden schätzen diesen Laden für seinen seit Jahren währenden Geschmack“, sagt Aliia. Wir finden ein paar Tische vor, mit Brot und Zwiebeln gedeckt. Gegen Mittag bildet sich eine lange Schlange.
„Die Fleischspieße sind seit jeher in der regionalen Esskultur verankert, stellt Aliia fest und nennt noch weitere Nationalgerichte. „In Handbüchern, die seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre veröffentlicht wurden, gibt es einen Abschnitt mit dem Titel ‚Nationalgerichte Kasachstans‘. Sie wurden nach dem Krieg verfasst. Damals führte man eine Menge ethnografischer Forschungen durch. Unter den Gerichten findet sich Fleisch, Lagman, Plov und Schaschlik.“
Kasachstan ist ein Nationalstaat. Das bedeutet, dass hier neben ethnischen Kasachen auch eine Reihe Vertreter anderer ethnischer Gruppen wie Usbeken, Uiguren, Tataren oder Ukrainer leben und geboren wurden. Die nationale Küche bildet dementsprechend alle Gerichte ab, die regelmäßig von den Bewohnern verzehrt werden.
„Natürlich gehören einige Gerichte, die die Kasachen seit Jahrhunderten essen, zur nationalen Küche. Aber nicht ausschließlich. Haben Sie zum Beispiel schon einmal Burme Karyn probiert? Grob gehacktes Fleisch, Kartoffeln und anderes Gemüse werden zusammen mit Kutteln vermengt und in Wasser gekocht. Niemand kocht es zu Hause, es sei denn, es soll demonstrativ als authentisches Essen herhalten. Viele von uns haben dieses Gericht noch nie probiert. Früher gab es dieses Gericht in der traditionellen kasachischen Küche, aber aus verschiedenen Gründen ist es aus dem Massenkonsum verschwunden.“
Auch Gerichte migrieren
„Wir kochen Plov, Lagman, Borschtsch und essen Kuirdak. Mancherorts gibt esNan Kuirdak, was im Kontext des zwanzigsten Jahrhunderts ein durch seine Haltbarkeit außerordentlich praktisches Nahrungsmittel war. Es heißt, es sei unter dem Einfluss der deutschen Aussiedler entstanden. Die Verbreitung ließ nicht auf sich warten, da es schmeckte und die Zutaten für alle verfügbar waren“, fügt die Historikerin hinzu. Ihrer Ansicht nach dürfen die Essgewohnheiten der Völker, die massenhaft nach Kasachstan aussiedelten oder in den 1920er und 1950er Jahren deportiert wurden, nicht in Vergessenheit geraten.
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So hat sich beispielsweise der koreanische Karotten-Salat von einem regionalen Gericht zu einem festen Bestandteil der kasachischen Speisekarte entwickelt. Die Manti-Teigtaschen hingegen haben ihren Ursprung in Zentralasien. Sie gelten heute als historisches Erbe der Region, das über die Seidenstraße bis in die Türkei, nach China und Korea Einzug in andere Kulturen gefunden hat.
„40 Prozent der unter Stalin Deportierten kamen nach Kasachstan. Viele von ihnen blieben im Land. Einige lebten 15 Jahre lang hier und verließen dann das Land. In 15 Jahren lernt man so einiges von seinen Mitmenschen. Hinzukommt, dass das sowjetische System auf die Schaffung einer einzigartigen Kultur abzielte. Auf dessen Grundlage entwickelte Kasachstan seine eigene Küche, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.“
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Wichtig zu erwähnen ist auch, dass das Land nicht mit regionalen Spezialitäten geizt. So war beispielsweise Plov besonders im Süden des Landes in der Vergangenheit eines der Alltagsgerichte. „Die Kasachen lebten nicht allein. Produkte, die sie aufgrund regionaler Gegebenheiten nicht selbst herstellen konnten, beispielsweise Getreidekulturen, erwarben sie durch Tausch und Handel. Der Norden und Osten trieb Handel mit Russland und China, der Süden und Südosten mit den zentralasiatischen Ländern. Die wichtigste Errungenschaft in diesem Bereich ist die Speisekarte, die auf wissenschaftlichen und kulturellen Forschungen beruht. Da habe ich die hard facts schwarz auf weiß. Immerhin sind diese Gerichte Teil unser aller Kindheit und nach wie vor aktuell. Die Geschmäcker rufen nicht nur Emotionen hervor, sondern haben auch eine kulturelle Bedeutung“, erklärt Bolathan.
Esskultur als DNA eines Volkes
Die Forscherin ist sich sicher, dass die Esskultur und ihre Erforschung im Zuge der aktuellen Debatte um Entkolonialisierung an Bedeutung gewonnen hat. „Es gibt Dinge, die eine Gesellschaft unabhängig von Sprache, Religion, Glauben und anderen Merkmalen vereinen. Das sind zum Beispiel die Herkunft, die Flagge, der Ort sowie die Geschichte vor und seit der Unabhängigkeit. Viele halten Sprache für das wichtigste Teilstück nationaler Identität. Doch manchmal geht nationale Identität darüber hinaus und so ist die Esskultur ein nicht weniger relevanter Indikator. Südkorea zum Beispiel legt großen Wert auf die Essenskultur, um der Welt ihre einzigartige Identität zu präsentieren.“
Bolathan merkt an, dass in den postsowjetischen Ländern allgemein wenig Forschung zur Esskultur bestünde. „Das ist nicht nur die Aufgabe der Forscher, sondern auch der staatlichen PR. Zwar übt sich der Staat bereits in Propaganda für die nationale Identität. So wurden Programme zur Stärkung der Kultur geschaffen. Die waren damals sinnvoll, aber haben ausgedient. Immer wieder höre ich, ich studiere ein irrelevantes Thema, aber wenn man anfängt, die Wege der Esskultur zu studieren und zu verstehen, wie sie mit der Migration der Menschen zusammenhängen, versteht man ihr Leben, ihren Kummer, ihre Freude, ihre finanzielle Lage“, so Aliia.
In der Not schmeckt Beşbarmak auch ohne Teigbeilage
Laut Aliia hatte der Übergang der nomadischen Kasachen zur Halb- und Vollsesshaftigkeit, die Kolonisierung und später die Zwangskollektivierung sowie die Hungersnot während der Sowjetzeit verheerende Auswirkungen auf die Ernährungsgewohnheiten. „Ich habe bei Menschen, die im Nachkriegsjahrzehnt gelebt haben, Erinnerungen an den ‚Geschmack der Kindheit‘ gesammelt. ‘Lebensmittel aus Mehl, Salz und Wasser‘ erinnerten sie an ihre Kindheit und seien geschmacklich nicht zu übertreffen, hieß es. Şelpeki und Baursaki – Das ist ja im Grunde nichts weiter als frittiertes Brot und ein Überbleibsel des kolonialen Erbes. Das war weder schmackhaft noch gesund, aber Brot und Wasser war alles, was sie hatten. Im Laufe der Zeit wurde es zu einem festen Bestandteil unserer nationalen Identität und der Traditionen.“ Folglich hätten sich die Essgewohnheiten während der Angliederung Kasachstans an das Russische Reich zwar nicht radikal geändert, seien aber als Spiegel der Beziehung des Kolonisators zur Kolonie zu betrachten.
Eine beispielhafte Geschichte erzählt das heutige kasachische Nationalgericht, das sich früher ganz schlicht ‚Fleisch‘, also ‚et asu, tabak tartu‘ nannte, da es damals auch die Hauptzutat war und ohne Teig gekocht wurde. Als die Kasachen sesshaft wurden, verringerte sich die Zahl der Tiere. Parallel dazu entwickelte sich die Landwirtschaft und verschaffte dem Gericht die Teigbeilage. Der Name ‚Beşbarmak‘ folgte erst zehn Jahre darauf. „2015 kochten wir für einen Eintrag im Guinness-Buch den größten Beşbarmak. Dank der weltweiten Vernetzung ist dieser Name inzwischen weit verbreitet.“
Der frühere Name ‚Bişbarmak‘ stammt aus dem 18. Jahrhundert. Damals herrschten die Kleine, Mittlere und Große Horde in verschiedenen Teilen des heutigen Mittel- und Südkasachstan. Während es zu kriegerischen Auseinandersatzungen mit den westmongolischen Dsungaren kam, versuchte der russische Zar, die ersten Vorstöße nach Zentralasien, besonders in die nördlichen Steppengebiete. Die Kleine Horde pochte auf Unterstützung der Russen im Kampf gegen die Dsungaren und so unterwarfen sie sich im Jahr 1731 freiwillig dem Russischen Reich. In diesem Zuge kam es auch zu einer kulinarischen Annäherung. „Als die russische Delegation das erste Mal kasachstanisches Land betrat, tischte man ihnen Fleisch auf. Eine tatarisch-baschkirische Gruppe dolmetschte voller Sorgfalt, um kulturellen Konflikten vorzubeugen, die die Mission ins Wanken hätten bringen können. So wurden die Vertreter des Reiches aufgefordert, mit den Händen, genauer, mit ‚fünf Fingern‘ zu essen. Denn das ist die Übersetzung von ‚bish barmak‘ in der tatarischen und baschkirischen Sprache. Auf diese Weise kam das Gericht zu seinem heutigen Namen. Mitte des letzten Jahrhunderts kam es zu wissenschaftlichen Diskussionen um die Namensherkunft. Wenngleich die korrekte kasachische Bezeichnung ‚bes barmak‘ heißen müsste, setzte sich doch seit den 1970er Jahren mit fortschreitender Russifizierung auch die russische Schreibweise durch. Die Forscherin betont, dass dies auch im Kleinen zeigt, wie wenig die kasachische Kultur berücksichtigt wurde und bis heute unter den Folgen der Kolonialisierung leidet.
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Küchentradition im Wandel
„Die nationale Kultur wird hierzulande als etwas angesehen, das sich in Raum und Zeit nicht verändert. Und doch ist es gleichsam wichtig, die eigene Kultur zu teilen und für Veränderungen bereit zu sein. Denn wenn wir uns wünschen, dass sie sich weiterentwickelt und die Massen erreicht, müssen wir auch mit den neuen Ernährungs- und Konsumgewohnheiten gehen. Je mehr Menschen die Kultur konsumieren und leben, desto mehr wird sie bewahrt und lebt in einer neuen Form weiter. Vor kurzem besuchte ich die südöstlich gelegene Stadt Taldyqorgan, wo viele Jahre lang koreanische Großmütter Salate verkauften. Kürzlich ersetzte sie ein kommerzielles Geschäft. Dort ist nun in den Regalen überall ein und derselbe koreanische Salat zu finden. Natürlich war das Salatgeschäft der Familien vom authentischen Standpunkt aus gesehen einzigartig. Aber die bloße Tatsache, dass sie es geschafft haben, diesen Salat als Kulturgut in der Gesellschaft zu verbreiten und in eine neue Form zu bringen, ist beachtlich“, meint Aliia. In dieser Hinsicht sind Restaurants und Cafés interessant, die jetzt mit traditionellen Gerichten experimentieren und diese an die Nachfrage anpassen.
„Ich sehe diese Entwicklung gerade hinsichtlich des Tourismus positiv und bin auch für Fastfood-Varianten traditioneller Gerichte offen. Allerdings gefällt es mir nicht, dass diese Restaurants sich oft ‚nationale Küche‘ schimpfen. Passender fände ich Bezeichnungen wie ‚regional‘ oder ‚selbstgemacht‘. Doch Versuche, sich den Essensgewohnheiten anzupassen, heiße ich grundsätzlich gut.“
Redaktion von Vlast
Übersetzet von Arthur Siavash Klischat
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