Unter dem Motto „Decolonizing the (post-)soviet screen“ fand vom 26. April bis 2. Mai 2023 das 23. goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden statt. Dem Schwerpunkt Dekolonialisierung widmeten sich unter anderem zahlreiche Kurzfilmbeiträge – auch aus Zentralasien.
Nicht erst seit dem 24. Februar 2022 hört man den Begriff der Dekolonialisierung im Hinblick auf den postsowjetischen Raum immer häufiger: Viele postsowjetische Staaten ringen bereits seit dem Zerfall der Sowjetunion mit dem Erbe der sowjetischen Politik und der Frage der eigenen kulturellen Identität. Der großflächige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verlieh der Auseinandersetzung mit dem russischen/sowjetischen Imperialismus noch einmal eine besondere Dringlichkeit – auch in Zentralasien.
Diese Entwicklung griff die 23. Edition des goEast Festivals des ost- und mitteleuropäischen Films in Wiesbaden nun auf und widmete sich schwerpunktmäßig dem kulturellen und filmindustriellen Erbe der Sowjetunion und ihm entgegengesetzten, dekolonialen künstlerischen Ansätzen.
Zentralasiatischer Kurzfilm beim „Rheinmain Kurzfilmpreis – Native Edition“
Auch in der Kurzfilmsparte legte das Festival einen besonderen Fokus auf bisher marginalisierte filmischen Sprachen und Stimmen jenseits von dominanten Mainstreamnarrativen. In der Kategorie „RheinMain Kurzfilmpreis“ mit dem diesjährigen Titelzusatz „Native Edition“ liefen daher dieses Jahr erstmals ausschließlich Werke „von indigenen Filmemacher:innen sowie von Filmschaffenden aus marginalisierten und osteuropäischen Minderheiten des postsowjetischen Raums“.
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Neben Kurzfilmen etwa von burjatischen und tartarischen Regisseur:innen konkurrierten auch drei zentralasiatische Kurzfilme um den mit 2.500 Euro dotierten Preis. Zwar überzeugte die Jury letztendlich der tschetschenische Film „No Nation without culture“ (Vladlena Sandu, 2022), doch die drei zentralasiatischen Beiträge „Ertak“, „Neither in the Mountains nor in the Fields“ und „Aralkum“ boten einen spannenden Einblick in aktuelle Trends im zentralasiatischen Kurzfilm.
Lobende Erwähnung für „Aralkum“
Keinen Preis, dafür eine „lobende Erwähnung“ der Jury erhielt „Aralkum“ von Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluktenko. Die usbekisch-deutsche Koproduktion erzählt vom Verschwinden des Aralsees und der Ausbreitung der titelgebenden Wüste Aralkum, die sich heute auf großen Teilen des ehemaligen Seegrunds erstreckt.
Mit seiner gekonnten Zusammenstellung von Archivmaterial und gefilmten Passagen führt der Kurzfilm dem Publikum die drastischen Folgen der sowjetisch geplanten Baumwollwirtschaft vor Augen: das Aussterben heimischer Tierarten, von denen nur noch Präparate zeugen, die zum erliegen gekommene Fischindustrie – symbolisiert durch die verrosteten Schiffe, die im ehemaligen Hafen von Mo‘ynaq im Wüstensand liegen – und nicht zuletzt die Resignation der lokalen Bevölkerung, die mit dem Verschwinden des Sees teils auch ihren Lebensinhalt verloren hat.
Durch die Straßen des Ortes am Rande der neu entstandenen Wüste weht immer mal wieder ein unwirtlicher, staubiger Wind, ansonsten scheint die Region still zu stehen. Hoffnung spendet einzig der Saxaul: das einzige Gewächs, das in der Aralkum wachsen kann, und das seit einigen Jahren dort gezielt angepflanzt wird, um die Schäden der Verwüstung abzumildern.
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Die eindrücklichen, langsamen Filmaufnahmen und das Archivmaterial aus Zeiten, als der See noch zum Fischen diente, werden durch Zitate aufgebrochen – teils von einem einheimischen ehemaligen Fischer, teils aus wissenschaftlichen Texten. Welche Aussagen von wem stammen, ist meist nicht gekennzeichnet, und so verdichten sich individuelle Erfahrung und wissenschaftliche Analyse zu einem Gesamteindruck der verheerenden Folgen der sowjetischen Planwirtschaft in Zentralasien. „Aralkum“ trifft damit den Nerv des diesjährigen Festivalthemas und der aktuellen Debatte um die Folgen des russischen Imperialismus.
Multiethnisches Kirgistan: Neither on the Mountain nor in the Field
Auf Archivmaterial greif auch die kirgisische Filmemacherin Gulzad Egemberdieva für ihren Kurzfilm „Neither on the Montain nor in the Field“ zurück. Mit selbst gedrehten Aufnahmen, Fotografien, ethnografischem Material und aufgezeichneten Telefongesprächen setzt sie daraus ein Gesamtkunstwerk zusammen, das die Vielfältigkeit und unterschiedlichen Herausforderungen verschiedener ethnischer Gruppen in Kirgistan zeigt. So treten Angehörige unterschiedlicher ethnischer Gruppen, von Pamirkirgis:innen bis Landwirt:innen in der Ebene, scheinbar in einen Dialog über Themen wie kulturelles Erbe und Freiheit.
Immer wieder steht auch die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Emigration im Raum – in Gesprächen der Porträtierten, aber auch in den – nur hör- und nicht sichtbaren – Telefongesprächen der Regisseurin, die zum Studium nach Kanada ausgewandert ist, mit ihrem Vater.
Dass Egemberdieva sich auf diese Art selbst in den Kurzfilm einbringt, ist kein Zufall: In einer Diskussionsveranstaltung des Symposium beim goEast Festival betonte die Regisseurin, wie wichtig es sei, die eigene Positionierung nicht auszublenden, sondern explizit zu reflektieren. Die Arbeit mit persönlichen Archiven und ethnografischem Material ermögliche Zugang zu Themen, die im Kirgistan der Sowjetzeit ausgeblendet wurden und noch heute im dominanten Diskurs nur wenig Raum finden. Mit ihrem Kurzfilm möchte sie derartigen Themen wieder Raum geben.
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Doch nicht nur in dieser Position zeigt sich die Dekolonialität von „Neither in the Mountains nor in the Fields“: Der Kurzfilm flicht auch explizit, wenn auch nicht aufdringlich, die koloniale Vergangenheit Kirgistans ein, beispielsweise wenn die Porträtierten über die Kollektivierung von Land und Vieh in der Sowjetunion, die willkürliche Grenzziehung im Pamirgebirge sowie die erzwungene Ansiedlung von vormals nomadischen Gruppen sprechen.
Die sowjetische Vergangenheit, das macht Egemberdieva mit ihrem Film deutlich, soll nicht verschwiegen werden, vielmehr soll die Erinnerung weitergegeben werden. So sagt auch ihr Vater in einem der Telefongespräche im Kurzfilm: „If you don‘t know the past, its history, it will be difficult to exist in the present.“
Queerer Kurzfilm aus Usbekistan: „Ertak“
Mit „Ertak“ erzählt die usbekische Fotografin und Regisseurin Kamila Rustambekova mit unglaublicher Zartheit die Geschichte eines usbekischen Jugendlichen, der seine dörfliche Heimat und seine Familie hinter sich lässt, um mit seinem Freund in die Stadt zu fliehen. Sehr subtil und feinsinnig zeichnet Rustambekova die homosexuelle Beziehung der beiden, die gemeinsam viel länger als mit den Eltern vereinbart durch die Umgebung streifen.
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Spätestens als die Mutter anschließend ihren Sohn zur Rede stellt, wird jedoch deutlich, dass ihr Sohn und auch sie von den Nachbar:innen bereits missbilligende Blicke und Anfeindungen erfahren. Ohne erhobenen Zeigefinger schafft die Regisseurin es hier, auf die noch immer stark präsente Diskriminierung queerer Menschen in Usbekistan aufmerksam zu machen.
Der Protagonist (der nie ganz zu sehen ist, immer nur von hinten oder vom Hals abwärts) entschließt letztendlich, mit seinem Freund den Ort zu verlassen und in die Stadt zu ziehen, wo es sicherer für die beiden ist. Als zum Schluss des Films die beiden jungen Männer nebeneinander vor einem noch im Bau befindlichen Hochhaus in einer zentralasiatischen Großstadt – womöglich Taschkent – stehen, erweckt das einerseits Hoffnung.
Man möchte dem Protagonisten glauben, dass sie hier von nun an sicherer sein werden als auf dem Land. Und doch bleibt ein mulmiges Gefühl, wo doch bekannt ist, dass in Usbekistan homosexuelle Handlungen unter Männern nach wie vor gesetzlich unter Strafe stehen. Ein mutiger Kurzfilm, der einfühlsam die Beziehungen der Charaktere und das alltägliche Leben im ländlichen Usbekistan einfängt.
Feministisch und dekolonial – die Kurzfilm-Auswahl von DAVRA Collective
Unter dem Motto der Dekolonialisierung stand auch das Abendprogramm am Samstagabend im Murnau Filmtheater in Wiesbaden, das vom DAVRA Collective kuratiert wurde. Das Künstler*innenkollektiv aus Zentralasien wurde von der usbekischen Regisseurin und Videokünstlerin Saodat Ismailova für die letztjährige documenta 15 gegründet, um weibliche Künstler*innen der jüngeren Generation aus ganz Zentralasien zusammenzubringen und künstlerischen und inhaltlichen Austausch zu fördern.
Beim goEast-Festival präsentierte das Kollektiv – vertreten durch Aida Adilbek und Zumrad Mizalieva – eine Auswahl von sieben Kurzfilmen, die teils von Mitgliedern aus dem Kollektiv stammen – beispielsweise „Send me your words“ (Aida Adilbek, KAZ 2020) und „Autonomy“ (Zumrad Mizalieva, UZB 2022) –, teils aus den Archiven, mit denen die Filmemacherinnen arbeiten.
Die Arbeiten, so betonen Mizalieva und Adilbek, sollen zum einen schlicht die Lebensrealität vor Ort in ihrer Vielfalt zeigen: Das reicht von passiv-aggressiver Kommunikation mit den Nachbar*innen in einem hellhörigen sowjetischen Hochhaus durch Klopfen auf Heizkörper („Send me your Words“, Aida Adilbek, KAZ 2020) über einen als Touristenattraktion gehaltenen Steinadler, der argwöhnisch die Waldarbeiten in den Bergen Kirgistans zu beobachten scheint („Escape from Freedom“, Art-group „Strekooza“, KGZ 2010), hin zu Alltagstätigkeiten wie der Zubereitung von Plov („Hard to digest“, Nazira Kamiri, TJK 2021) und dem Herstellen von traditionellen Teppichen im Pamir (Madina Saidshoeva, TJK 2022).
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Dabei wird deutlich, dass sich die Beobachtung oder Darstellung von Alltäglichem nur schwer von Politischem trennen lässt: So etwa in „Autonomy“, einem Kurzfilm von Zumrad Mizalieva (UZB 2022), der infrage stellt, ob eine usbekische Frau tatsächlich nur als Mutter ihre Erfüllung finden kann. Oder im Kurzfilm „I met a girl“ (Alla Rumyantseva, TJK 2014), der die Rolle der Frau in Tadschikistan kritisch beleuchtet.
Feministische Perspektiven scheinen generell sehr präsent in dieser Kurzfilmauswahl: So werden immer wieder traditionelle Rollenbilder und Erwartungen an Frauen und Mütter infrage gestellt. Ebenso spielt die Auseinandersetzung mit der kolonialen Sowjetvergangenheit der zentralasiatischen Länder eine wichtige Rolle – mal subtiler und hintergründiger, mal schmerzhaft deutlich wie im Stop-Motion-Film „All the Dreams we dream“ von Asel Kadyrkhanova, der die Hungersnot in Kasachstan in den 1930er Jahren als Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft thematisiert.
Den sieben Kurzfilmen vorangestellt wurde der Kurzfilm „The Burden of Virginity“ der usbekischen Filmemacher:innen und Aktivist:innen Umida Ahmedova und Oleg Karpov, die Adilbek und Mizalieva als wichtige Vorbilder für das DAVRA Collective beschreiben. Der Film nimmt den Mythos der Jungfräulichkeit in den Blick und lässt Frauen zu Wort kommen, deren Töchter Stigmatisierung und Ausgrenzung erfahren, weil sie die „Überprüfung“ ihrer Jungfräulichkeit nicht bestanden haben.
Kontrastiert werden diese Gespräche mit Bildern von Hochzeitsvorbereitungen. Der Film war bei seiner Veröffentlichung bereits ein großes Politikum: Für den bereits 2008 erschienenen Film wurde Akhmedova nach seiner Veröffentlichung wegen „Verleumdung und Beleidigung des usbekischen Volkes und seiner Traditionen“ angeklagt und verurteilt.
Zwischen Filmkunst und Aktivismus
„The Burden of Virginity“ zeigt von allen Kurzfilmen am deutlichsten, wie sehr beim zentralasiatischen Kurzfilm die Grenzen zwischen Aktivismus und Kunst verschwimmen. Das ist teils auch den strukturellen Umständen geschuldet: Neben den noch immer stark sowjetisch geprägten Kino- und Filminstitutionen in den zentralasiatischen Ländern, die sowohl Inhalte als auch künstlerische Techniken nach wie vor stark prägen, gibt es kaum Möglichkeiten, sich alternativ auszudrücken oder auszubilden.
Umso wichtiger – das betonen die zentralasiatischen Filmemacher*innen vor Ort in Wiesbaden immer wieder – ist der Austausch zwischen Künstler*innen und das Schaffen von lokalen, unabhängigen Netzwerken. Gerade junge Filmemacher:innen, die mit ihren politischen Meinungen und künstlerischen Positionen in den teils autoritär regierten zentralasiatischen Staaten anecken, sind auf Netzwerke wie das DAVRA Collective angewiesen, um sich weiterentwickeln zu können und Fördergelder zu erlangen.
So lassen sich die zentralasiatischen Kurzfilmbeiträge beim diesjährigen goEast-Festival auch als aktivistische Intervention verstehen und zeigen, wie viel Aufbruchsstimmung derzeit in der künstlerischen Szene in Zentralasien zu herrschen scheint. Nur in Turkmenistan scheint die repressiv-autoritäre Regierung jegliche unabhängige Filmkunst unmöglich zu machen, wie auch zentralasiatische Filmemacher:innen wie Anisa Sabiri aus Tadschikistan beim Symposium bedauern – aus diesem zentralasiatischen Land findet sich daher auch beim Festival kein einziger Filmbeitrag.
Die Kurzfilme „Aralkum“, „Neither in the Mountains nor in the Fields“ und „Ertak“ sind noch bis 18. Mai auf der Klassiki verfügbar.
Annkatrin Müller
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