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Sprache als Mittel zur Identitätsfindung und Abkehr von kolonialen Strukturen

Der Zerfall der Sowjetunion führte 1991 zur Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten und stieß einen Ablösungsprozess von der Kolonialmacht Russland an. Trotzdem ist Russisch weiterhin die zweite Amtssprache in Kasachstan und große Teile der Bevölkerung sprechen sie besser als Kasachisch, unter anderem, weil sie sozialen Aufstieg und bessere Karrieremöglichkeiten verspricht.

Elmira Kakabaeva
Elmira Kakabaeva (Foto: Facebook-Seite TEDxAstana)

Der Zerfall der Sowjetunion führte 1991 zur Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten und stieß einen Ablösungsprozess von der Kolonialmacht Russland an. Trotzdem ist Russisch weiterhin die zweite Amtssprache in Kasachstan und große Teile der Bevölkerung sprechen sie besser als Kasachisch, unter anderem, weil sie sozialen Aufstieg und bessere Karrieremöglichkeiten verspricht.

Elmira Kakabaeeva ist eine kasachische Autorin und Gründerin des Frauenkurses „Family Ethnography, or How to Decolonize Your Writing“. Im Dezember trat Elmira in der Hauptstadt bei TEDxAstana auf und sprach darüber, wie die eigene Sprache durch das Niederschreiben von Familiengeschichten entkolonialisiert werden kann.

Speziell für Masa Media erzählte die Autorin, was Dekolonisierung ist, warum ihr dieses Thema wichtig ist und ob die kasachstanischen Behörden bei der Dekolonisierung helfen können.

Begriffsklärung: Was ist Dekolonisation?

Die dekoloniale Perspektive bietet Menschen die Möglichkeit, die Art und Weise zu wählen, wie sie die Gesellschaft betrachten möchten. Die Macht des Wissens in der Dekolonisation liegt in der Weitergabe und Wiedererzählung von Erfahrungen. So können zum Beispiel unsere Großeltern Zeuge bestimmter Ereignisse gewesen sein. Auf dieser Grundlage können sie eine kreative Geschichte oder Kurzgeschichte schreiben. Indem wir ihren Erinnerungen und Gefühlen mehr Aufmerksamkeit schenken, dekolonisieren wir unsere Herangehensweise an das Schreiben.

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Im dekolonialen Ansatz versuchen wir Vergleiche mit anderen Völkern zu vermeiden und berücksichtigen stattdessen den historischen Kontext und das lokale Wissen. In der kasachischen Kultur zum Beispiel wurde das Wissen hauptsächlich mündlich überliefert: Aitys (ein improvisierte Poesie-Wettbewerbe, Anm. der Redaktion), Epen, Zhyrs (epische Lieder, Anm. der Redaktion) und Lieder waren natürliche Formen der Wissensweitergabe; das Schreiben von Büchern war dagegen eher eine privilegierte Praxis.

Wir können unser Schreiben dekolonisieren, indem wir eine lokale Quelle dem Buch eines russischen Ethnographen vorziehen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Akzeptanz von Quellen: ein schriftlicher Text kann als wissenschaftlich glaubwürdiger angesehen werden als eine Geschichte, ein Mythos oder ein Lied.

Worin liegt der Unterschied zum Postkolonialismus?

Im Gegensatz zur Dekolonisation baut die postkoloniale Theorie auf den westlichen Theorien und Ansätzen zum Verständnis der Gesellschaft auf. Dies ist beispielsweise an der Untergruppe der Subaltern Studies (Studien über die Unterdrückten) erkennbar, einer Gruppe südostasiatischer Wissenschaftler:innen, die den indischen Kontext untersuchten. Problematisch daran ist, dass sie in Oxford und Cambridge studiert hatten und ihre eigene Gesellschaft in Indien mit den Augen westlicher TheoretikerInnen betrachteten.

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Daneben gibt es den peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, der unter anderem die Dependenztheorie und die Kolonialität der Macht beschrieb. Er gründete seine Theorie auf den Schriften lokaler lateinamerikanischer Gelehrter und definierte als erster den Begriff der Kolonialität.

Dekoloniale WissenschaftlerInnen verweisen außerdem auf die Zapatisten, eine anarchistische Bewegung in Mexiko, die mit der derzeitigen Regierung für die Rechte der indigenen Bevölkerung auf ihr Land kämpft. Daher ist die Dekolonisation in erster Linie ein rechtlicher Prozess zur rechtmäßigen Rückgabe von Rechten an Land, Ressourcen, Sprache und Kultur.

Wie Elmira begann, sich für ihre eigene Geschichte zu interessieren

Vor vier Jahren begann ich mich für die Geschichte meines Großvaters, Smagul Kakabaev, zu interessieren. Im Jahr 1931, während er in Samara studierte, erhielt er einen Brief von seinem Vater, der ihn bat, nach Hause zurückzukehren. Als mein Großvater in seine Heimatstadt Bayanaul ankam, erkannte er, dass eine Hungersnot ausgebrochen war und sie fliehen mussten. Zusammen mit den Familien seiner Brüder (etwa 25 Personen) verkauften sie ihren Besitz und flohen zuerst nach Sibirien und dann weiter nach Kamtschatka.

Diese und andere Geschichten wurden mir in meiner Familie erzählt, und ich war im Misstrauen gegenüber diesen Geschichten gefangen. Ich hatte das Glück, dass mein Großonkel der Ethnograph Halel Argynbaev ist. Er war noch ein Kind als sie fliehen mussten und als er später ein Gelehrter wurde, beschrieb er diese Erfahrung. Zum Beispiel schilderte er, wie die Familie mehrere Tage hintereinander in einem Zug reiste, wie sie zum ersten Mal Hering und Walfleisch aß und wie sie gemeinsam auf einem Schiff zur Halbinsel (Kamtschatka) segelte.

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Ich habe eine Zeit lang in Moskau, Wien und Tel Aviv gelebt. Fremd in einem Land und einer Kultur zu sein hat in mir den Wunsch geweckt, mich selbst und meine eigenen Wurzeln besser kennen zu lernen. Während meines Studiums der Sozialanthropologie an der Central European University entwickelte ich ein klares Verständnis von meiner eigenen Perspektive auf Kasachstan. Ich verstand, dass die Dekolonisation das Potenzial hat, einen geeigneten Blickwinkel zu finden.

Um die Prozesse zu erklären, die in Kasachstan stattfinden, muss man keine Theorie aufstellen, die beispielsweise von französischen SoziologInnen stammt. Es ist durchaus möglich, eine neue, für unsere Region geeignete Theorie zu entwickeln.

Frauen sind in der Geschichte unsichtbar

Das Erzählen von Geschichten ist tief in der kasachischen Kultur verankert, auch unsere Familienstammbäume (kasachsisch: Shezhire) sind darauf aufgebaut. Als ich 17 Jahre alt war, brachte mein Vater mir unseren Shehzire – ein großes, goldgeprägtes Buch mit schönem Raschelpapier. Er hatte schon oft davon gesprochen und ich war sehr gespannt. Eifrig blätterte ich durch die Seiten über unsere Familie.

Ich fand den Namen meines Großvaters und fuhr mit dem Finger über die Namen meines Vaters, seiner Brüder, meiner Brüder, meiner Cousins. Nur meinen eigenen Namen konnte ich nicht finden. Niemand hatte mich davor gewarnt, dass nur die männlichen Vorfahren aufgezählt werden und Frauen im Shehzire keine Erwähnung finden. Damals wurde mir bewusst, dass ich in der Familiengeschichte keine Rolle spiele, genauso wie meine apa und aje (Großmütter), meine Mutter, meine Tanten und Schwestern keine Rolle spielen.

Aber wer ist es, der die dort genannten Nachfolger auf die Welt bringt? Sie sind ja nicht einfach aus dem Nichts aufgetaucht! Ich war sehr, sehr wütend.

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Aus diesem Grund biete ich meinem Kurs „Familienethnographie oder Wie man sein Schreiben dekolonisiert“ nur für Frauen an. Ich möchte jede dazu ermutigen, mit der eigenen Großmutter zu sprechen, ihre Geschichte sowie die Geschichte ihrer Mutter und Großmutter zu erfahren. Sie sollen ihre Namen kennen und sowohl sie als auch sich selbst in die Familiengeschichte eintragen.

Ich möchte zeigen, dass Traditionen durchaus verändert werden können. Es ist der Wunsch und der Wille der Person, die den Stammbaum erstellt. Zwei Teilnehmerinnen erzählten in meinem Kurs, dass in ihren Stammbäumen auch Frauen verzeichnet waren. So sind sie aufgewachsen.

Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

Ich biete meinen Kurs für Frauen in Kasachstan an, aber ich bin auch Teil einer Gemeinschaft von SchriftstellerInnen in Russland, für die ich ebenfalls Kurse gebe. Dort gibt es eine 50%ige Quote für Frauen aus Sibirien, der Wolga, dem Ural und den nationalen Republiken. Seit Kriegsbeginn beobachte ich eine gesteigerte Nachfrage nach Kursen zum Thema Selbstfindung und Identitätssuche zu beobachten. Ein Mädchen erzählte mir: „Ich wusste, dass ich tatarische Wurzeln habe, aber ich habe mich noch nie so sehr dafür interessiert.“

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Die russischen Behörden behaupten, den Nationalsozialismus zu bekämpfen und dadurch wird das Verständnis ihrer eigenen Geschichte für die KursteilnehmerInnen relevant. Viele Teilnehmerinnen möchten herausfinden, wie ihre Vorfahren in Russland oder unter der Sowjetherrschaft gelebt haben.

Die meisten Anfragen kommen von Vertreter:innen der einheimischen Bevölkerung Sibiriens und des Fernen Ostens, also aus den Republiken Sacha, Burjatien, Tuwa. Für sie wird dieses Thema zu einer politischen Frage, denn viele der im Krieg mobilisierten Soldaten kommen aus diesen Republiken. Dort haben sich Antikriegsbewegungen gebildet, weil Russland gegen den „Nazismus“ der asiatischen Minderheiten kämpft.

Für die Republiken der Russischen Föderation ist die Geschichte der Entkolonialisierung ein sehr aktuelles und komplexes Thema. Kasachstan ist ein unabhängiger und souveräner Staat mit eigener Verfassung und Staatssprache. Die Volksrepubliken dagegen sind immer noch Teil der Russischen Föderation und sie sind immer noch Kolonien. Das macht es ihnen schwer ihre Geschichte zu finden und sich von der Geschichte des Russischen Reiches zu trennen.

Die Macht der Sprache

Kolonialismus ist auch ein mentaler Zustand. Das Imperium verschwindet, die Kolonie erlangt die Unabhängigkeit, bleibt aber mit einem kolonialen Bewusstsein und einer kolonialen Mentalität zurück. In Kasachstan sprechen wir aufgrund unserer Geschichte immer noch besser Russisch als Kasachisch.

Kasachische Staatsangehörige mit Russischkenntnissen haben zum Beispiel bessere Chancen, auf der sozialen Leiter aufzusteigen und Karriere zu machen. Die kasachische Muttersprache kann ein Werkzeug sein, das uns die Kraft und Energie gibt, wir selbst zu sein.

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Ich denke, es ist nützlich, Sprachen zu mischen und mit ihnen zu spielen. Der jamaikanische Schriftsteller Marlon James zum Beispiel schreibt ein afrikanisches Pendant zur Serie „Game of Thrones“, ein Fantasy-Epos voller Monster, Sex und Gewalt im mittelalterlichen Afrika. Die Figuren in seinem Buch sprechen eine Mischsprache aus Kreolisch, Englisch und Afrikanisch. Es steht uns ebenfalls frei, drei Sprachen in den Texten zu verwenden, auch damit können wir unser Schreiben und unsere Sprache dekolonisieren.

Können die kasachischen Behörden den Prozess der Entkolonialisierung unterstützen?

Sobald sich der Staat an diesem Diskurs beteiligt, wird es schnell auf internationaler Ebene politisch. Plötzlich stellen sich Fragen wie „Wer ist dein Nachbar? Wer hat mehr Atomwaffen? Ist dieses Land eher mit den USA, China oder Russland befreundet?“. Kasachstan versucht aktuell mehrere Partnerschaften aufrechtzuerhalten. Ich denke wir könnten etwas mutiger sein.

Zum Beispiel müsste sich Qasym-Jomart Toqaev nach seinem Wahlsieg nicht mit Wladimir Putin treffen, das hat etwas Koloniales an sich, auch die Regierung ist noch in den sowjetischen Mustern gefangen und wiederholt diese. Es ist nicht absehbar, wie viele Generationen es dauern wird, dies zu überwinden. Die Entkolonialisierung ist ein langer Prozess. Menschen, die eine dekoloniale Perspektive einnehmen, sind gegen die künstliche Konstruktion von Grenzen und die Bildung eines nationalstaatlichen Systems.

Durch die Vertretung verschiedener Bevölkerungsgruppen im Parlament kann die politische Entscheidungsfindung offener und demokratischer gestaltet werden. Durch die Repräsentation ethnischer Minderheiten finden auch die Stimmen und Bedürfnisse anderer Identitäten und Interessengruppen, die die kasachische Gesellschaft ausmachen, Eingang in politische Entscheidungen. Die entkolonialisierte Macht des Volkes kann sich in einem transparent arbeitenden und vielfältig aufgestellten Parlament zeigen.

Aidar Elkeyev für Masa Media

Aus dem Russischen von Ramona Bleimhofer

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