Das Gipfeltreffen der fünf zentralasiatischen Staaten in Tscholpon-Ata schien ein Durchbruch gewesen zu sein: Die Präsidenten diskutierten die Grenzziehung zwischen ihren Staaten, den Ausbau der industriellen Zusammenarbeit sowie den Bau einer Eisenbahnlinie aus China. Dennoch ändere sich in der Region kaum etwas, so Temur Umarov, Wissenschaftler für Zentralasien und China sowie Mitglied des Carnegie Endowment for International Peace.
Warum gerade die Eliten Usbekistans ihre Wirtschaft nicht öffnen wollen und mächtige Gruppen in Kirgistan kein großes Interesse an der Eisenbahn aus China haben, erklärt er im Interview mit Kloop. Wir übersetzen das Interview mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Kloop: Das Angebot des kasachstanischen Präsidenten Toqaev, Kirgistan und Tadschikistan bei der Grenzziehung zu helfen, das Abkommen zwischen Kasachstan und Usbekistan zum Wasserkraftwerk „Kambar-Ata 1“, die Aufrufe des usbekischen Präsidenten Mirziyoyev zur industriellen und verkehrstechnischen Zusammenarbeit… Glauben Sie, dass damit ein rein zentralasiatisches Pendant zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) oder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) geschaffen werden soll?
Temur Umarov: Bislang sehe ich dazu keinerlei Anzeichen. Erstens: Die Länder der Region haben kein gemeinsames Ziel. Im Falle der EAWU ist die Sache klar: Integration, ein gemeinsamer Markt, eine Zollunion. Die OVKS überwacht ebenfalls die kollektive Sicherheit der Region. Doch was wollen die zentralasiatischen Länder gemeinsam erreichen? Ich habe den Eindruck, dass dort alle politischen Regime unterschiedliche Ziele haben.
Selbst der Vertrag über die Freundschaft zwischen den fünf Ländern, den Kasachstan und Usbekistan durchzusetzen versuchten, wurde nicht angenommen, obwohl er weder bindend wäre noch die Souveränität eines Landes bedrohen oder die Länder zu einer Integration zwingen würde. Doch selbst eine solche symbolische Geste scheint für Tadschikistan und Turkmenistan bisher überflüssig.
Meines Erachtens ist es daher zu früh, von einem Durchbruch zu sprechen. Es ist allerdings ein gutes Zeichen, dass solche Treffen nun jährlich stattfinden. Dort treffen sich nicht nur die Präsidenten, sondern es stehen große Teams hinter der Organisation. Man lernt sich persönlich kennen, tauscht Kontakte über soziale Medien aus und kann in dringenden Fällen entsprechend Kontakt aufnehmen. Das vereinfacht und verbessert den Entscheidungsprozess.
In Zentralasien scheint sich mit Kasachstan und Usbekistan eine Keimzelle der Modernisierung zu bilden. Unter den vorigen Präsidenten Karimov und Nazarbaev bestanden konkurrierende Ambitionen, doch die neue politische Führung ist bereit, diese zugunsten gemeinsamer Interessen teilweise aufzugeben.
Ich stimme zu, dass sich ein usbekisch-kasachstanisches Tandem herausbildet, und das ist ein natürlicher Prozess, denn sie haben gemeinsame Ziele und kennen die Grenzen ihres Handelns; die Gesellschaft ist viel anspruchsvoller geworden und wünscht sich keine Rückkehr in alte Zustände. Beide Länder wollen Investitionen anziehen und ihre Wirtschaft so weit wie möglich diversifizieren, um weniger abhängig von Russland zu sein.
Kirgistan ist dem Freundschaftsvertrag zwischen Kasachstan und Usbekistan beigetreten. Interessant ist die Einschätzung der Perspektiven Usbekistans durch die Politiker in Bischkek. Kurz vor dem Gipfel sagte Premierminister Akylbek Dschaparow vor kirgisischsprachigen Journalisten, er glaube, dass Usbekistan in zehn bis fünfzehn Jahren zu China aufschließen werde.
Ich denke, dies ist die persönliche Meinung von Herrn Dschaparow. Kirgisische Politiker sagen in der Regel gerne Dinge, die die Schlagzeilen aufblähen, jedoch nicht der Wahrheit entsprechen. Natürlich hat Usbekistan großes Potenzial. Es ist jedoch zu früh, um zu sagen, dass die Wirtschaft Usbekistans auf dem Weg nach oben ist. Bei Kasachstan hingegen ist dies bereits eindeutig der Fall: Ein Blick auf dessen BIP genügt, ist es doch fast dreimal so hoch wie das von Usbekistan.
Außerdem steht die kasachstanische Wirtschaft in engem Kontakt mit ausländischen Investoren und ist in die Weltwirtschaft integriert, während die usbekische Wirtschaft noch sehr isoliert ist. Die landeseigene Produktion – von Socken bis hin zu Smartphones – funktioniert in einem geschlossenen protektionistischen Umfeld. Öffnet sich die usbekische Wirtschaft allerdings global noch weiter, werden die heimischen Produzenten nicht mehr mit den internationalen konkurrieren können.
Im Moment kauft die usbekische Bevölkerung keine iPhones, sondern Artel, keinen Mercedes, sondern Chevrolet. Weil die Menschen keine andere Wahl haben, gehen sie zu ihren eigenen Monopolisten. Und das ist ein politisches Problem, kein wirtschaftliches, denn hinter jedem großen Unternehmen in Usbekistan steht ein bekannter Geschäftsmann, der mit den Behörden in Verbindung steht oder selbst dazugehört (z. B. die Imperien AKFA und Artel). Die usbekischen Eliten haben ihre eigenen Interessen und die Öffnung der Wirtschaft gehört nicht dazu.
Ändert sich dabei das Gesamtbild auch für Kirgistan? Im Zusammenhang mit dem Eisenbahnprojekt Usbekistan-Kirgistan-China sind einige Aktivitäten zu verzeichnen. Wahrscheinlich hat es mit der allgemeinen Entwicklung der Ost-West-Routen zu tun und mit der Tatsache, dass der Transport über Russland (wo dieses Projekt nicht gern gesehen wurde) kompliziert geworden ist. Und das Wasserkraftwerk „Kambar-Ata 1“ ist nicht mehr länger ein gemeinsames Projekt mit Russland, sondern mit Kasachstan und Usbekistan. Welche Rolle spielt Kirgistan in diesem Dreigespann?
Ich glaube nicht, dass sich für Zentralasien durch Russlands Krieg in der Ukraine irgendetwas grundlegend geändert hat. Natürlich gibt es noch nie dagewesene Ereignisse: neben dem Krieg noch Covid oder den Staatsstreich in Kirgistan. Ignoriert man jedoch diese Schlagzeilen, bleiben die objektiven Faktoren dieselben. Bislang sehe ich in Kirgistan keinen qualitativen Übergang vom alten zum neuen Wirtschaftssystem. Zwar denkt Präsident Sadyr Dschaparow über eine Aufhebung des Abkommens nach, aber hier geht es eher um politische Fragen.
Bislang versucht er meines Erachtens lediglich, die Macht in seinen Händen zu konsolidieren, um alle Ressourcen des Landes zu kontrollieren und sie so einzusetzen, wie er es für notwendig hält. In Wirklichkeit gibt es aber noch keine Ergebnisse und Kirgistan hat seinen Platz in dem zentralasiatischen Fünfergespann bisher nicht verändert – es bleibt unverzichtbares Transitgebiet für chinesische Waren. Diesen neuen Projekten stehe ich recht skeptisch gegenüber. Und ich habe den Eindruck, dass die politischen Eliten Kirgistans, zumindest bestimmte einflussreiche Gruppen, gegen eine Eisenbahnlinie Usbekistan–Kirgistan–China sind – dadurch würden sich deren Einkommen drastisch vermindern.
Beziehen Sie sich auf das, was im Fall Matraimow aufgedeckt wurde?
Ich beziehe mich auf die Arbeitsweise der kirgisischen Zollbehörde. Kirgistan profitiert in hohem Maße von seiner günstigen Lage zwischen China und dem übrigen Zentralasien. Betrachtet man die Differenz zwischen der chinesischen und der kirgisischen Export-Import-Statistik, so stellt man fest, dass innerhalb von vier Jahren zehn Milliarden US-Dollar spurlos verschwunden sind. Kommt die Eisenbahnlinie China–Usbekistan zustande, wird Kirgistan eher als Transitland denn als Lieferort genutzt und die Matraimows und andere Gruppen verlieren ihre Haupteinnahmequelle.
Daher sehe ich keinen Grund für sie, den Status Quo jetzt ändern zu wollen. Außerdem glaube ich nicht, dass Sadyr Dschaparow lange genug an der Macht sein wird, um Boni für die Verhinderung des Baus der Eisenbahn zu bekommen. Wenn er jetzt mit dem Bau anfängt, gilt er als derjenige Präsident, der viel Geld aus dem Haushalt ausgegeben und den Staat gar dabei verschuldet hat. Doch kann er auf seinem Stuhl sitzen bleiben, bis die Eisenbahnlinie in Betrieb genommen wird und die Menschen erkennen, dass das Geld mit gutem Grund ausgegeben wurde?
Das Einzige, worüber sich die fünf Präsidenten einig waren, waren ihre Befürchtungen hinsichtlich der Nachhaltigkeit ihrer Regierungen. Dschaparow wies die Motive der Proteste als „weit hergeholt“ zurück. Der tadschikische Präsident Rahmon stellte eine Verbindung zwischen den Protesten in Kasachstan, den sozialen Medien und dem Islamismus her. Toqaev schlug im Wesentlichen eine Zusammenarbeit vor, um Medieninformationen zu filtern. Gehe ich recht in der Annahme, dass jede Modernisierung in Zentralasien dazu verdammt ist, eher autoritär als demokratisch zu sein?
Ja, und das ist mein eigentlicher Hauptpunkt. Hört man das Wort „Reformen“, denkt man unweigerlich, dass sich Usbekistan oder Kasachstan in liberale Demokratien nach westlichem Vorbild verwandeln werden. Das ist damit aber nicht gemeint. Mit der Zeit werden diese politischen Regime weniger kannibalistisch, sondern moderner, und wenden mildere Methoden an, um dieselben Probleme zu lösen. Jedoch spricht niemand von einer Machtübergabe an Institutionen – es handelt sich immer noch um personalistische Autokratien. Und in klassischen Autokratien gibt es keine Kommunikationskanäle zwischen Regierung und Gesellschaft.
Kirgistan ist verständlicherweise eine andere Geschichte, doch die Bezeichnung als Demokratie bleibt auch hier schwierig. Dennoch gibt oder gab es fast überall in Zentralasien einen Machttransfer – außer in Tadschikistan, aber auch dort ist er unvermeidlich. Die neuen Regime sind sich bewusst, dass sie nicht in der Lage sein werden, in der gleichen Weise zu existieren wie ihre Vorgänger. Die Zeiten haben sich geändert: Internetzugang besteht überall, die Menschen lassen sich leichter mobilisieren und veranstalten Proteste in nie dagewesenem Ausmaß. Was in Karakalpakstan passiert ist, kann mit den Ereignissen von 2005 verglichen werden, als es in Andijon Proteste gab, die von den Behörden gewaltsam unterdrückt wurden. In Turkmenistan, obschon ein geschlossenes Land, kommt es zu „Hungerrevolten“ vor Geschäften, welche Lebensmittel zu staatlichen Preisen verkaufen. Die Situation in Kasachstan und Kirgistan versteht sich von selbst.
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Die Regime verstehen, dass sie alle im selben Boot sitzen: Wenn eines zusammenbricht, wird das Stabilitätspotenzial des nächsten dramatisch sinken. Deshalb suchen sie nach Möglichkeiten der Stabilisierung. Eine davon ist die Kontrolle von Informationsflüssen und Medien. So wurde die Idee einer Einrichtung eines zentralasiatischen Fernsehsenders aufgeworfen, um die Berichterstattung zu kontrollieren. Zurzeit hat man das Gefühl, dass sie entweder von den in Zentralasien beliebten russischen Medien oder von den sozialen Netzwerken, die sich ebenfalls der Kontrolle der Behörden entziehen, kontrolliert wird. Und die Eliten möchten eine Situation ähnlich wie in Russland oder China, wo die autoritären Regime relativ stabil sind. Schauen Sie sich die Lage in Russland an: Viel schlimmer kann es nicht kommen. Aber bisher haben wir weder einen Staatsstreich noch Massenproteste erlebt – nichts. Und das gefällt den zentralasiatischen Regimen.
Das Gespräch führte Viktor Muchin für Kloop
Aus dem Russischen von Michèle Häfliger
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