Mindestens 55 Menschen wurden getötet und über 27.000 evakuiert. Dies ist die Bilanz der gewaltsamen Zusammenstöße an der kirgisisch-tadschikischen Grenze, nachdem ein Streit um Wasser eskaliert war. Novastan sprach mit dem Politikwissenschaftler Parwiz Mullodschonow, um die Gründe für die Grenzstreitigkeiten in der Region zu verstehen.
Ende April haben Tadschikistan und Kirgistan die gewalttätigsten Grenzkämpfe seit der Unabhängigkeit beider Staaten geführt. Der Verlauf der Ereignisse wird je nach Quelle unterschiedlich beschrieben, Auslöser scheint aber ein Streit um die Nutzung einer Wasserversorgungsanlage zu sein. Diese befindet sich auf kirgisischem Gebiet entlang der Straße, die die tadschikische Exklave Woruch mit dem Rest des Landes verbindet.
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Was am 28. April wie in anderen Fällen zu Scharmützeln zwischen lokalen Gemeinschaften führte, wurde am nächsten Tag zu einem großen Konflikt zwischen den Streitkräften beider Länder. Die kirgisischen Behörden berichten von 36 Toten, darunter ein 12-jähriges Mädchen, und 189 Verletzten. Mehr als 44.000 Menschen wurden ins Regionszentrum Batken evakuiert. Tadschikistan, ein geschlossener autoritärer Staat, hat offiziell keine Todesopfer gemeldet, aber lokale Medien berichten von 19 Toten. Nach einem erfolglosen ersten Waffenstillstand einigten sich beide Seiten darauf, die Grenze am Sonntagabend zu demarkieren, ohne jedoch Details zu veröffentlichen.
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In einem am 30. April geführten Interview mit dem Politikwissenschaftler Parwiz Mullodschonow erörtert Novastan die Gründe für diese Zusammenstöße, die zwar in der Region häufig sind, aber bisher nie eine solche Intensität erreicht hatten. Mullodschonow ist Forscher an der EHESS in Paris und hat regelmäßig für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und die auf Friedenskonsolidierung spezialisierte Nichtregierungsorganisation International Alert an der Beilegung von Grenzstreitigkeiten in der Region gearbeitet.
Novastan: Im Ferganatal sind die Grenzen seit langem umstritten, nur zwei Drittel der 971 Kilometer langen tadschikisch-kirgisischen Grenze sind demarkiert. Was ist das Problem in dem Abschnitt, wo die Zusammenstöße begannen?
Parwiz Mullodschonow: Das Problem ist, dass sich die demografische Situation ändert, aber die Karten diesen Änderungen seit den 1920er Jahren nicht mehr folgen. Die Tadschiken folgen der Karte von 1924-1929, als es keine Enklave Woruch gab. Die zwischen der Enklave und Tadschikistan lebende nomadische kirgisische Bevölkerung wurde angesiedelt. Daher wurde Woruch de facto eine Enklave mit tadschikischer Bevölkerung. Der Besitz von Wasser- und Landressourcen wurde von den sowjetischen Behörden geregelt und es gab keinen signifikanten Unterschied. Das System der Wasserversorgung berücksichtigte nicht die territoriale Aufteilung der ethnischen Gruppen. Während der Sowjetunion war dies zunächst kein Problem, aber aufgrund der wachsenden Bevölkerung auf beiden Seiten, insbesondere auf der tadschikischen Seite, wurden die Land- und Wasserressourcen zu einer Spannungsquelle.
Haben die Zusammenstöße nach dem Zusammenbruch der UdSSR begonnen?
Es gab bereits während der Sowjetzeit Zusammenstöße. Der erste Konflikt begann 1989 noch in der Sowjetunion. Danach begannen die sowjetischen Behörden, dem Problem ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Es wurden viele Kommissionen eingerichtet, aber es wurde nicht gelöst. Danach existierte der Konflikt fast 23 Jahre in latenter Form. Es gab die ganze Zeit Zusammenstöße, und es war nie eine ganz friedliche Situation. Die Bevölkerung lebt seit Jahrzehnten mit den Konflikten, wobei auf beiden Seiten regelmäßig Menschen festgenommen werden.
Trotzdem gab es vor 2014 nur Konflikte zwischen der ansässigen Bevölkerung, ohne Intervention der Streitkräfte. 2014 waren erstmals Grenzschutzbeamte beider Seiten beteiligt, und die Schusswechsel begannen. Das war bereits eine neue Stufe, als diese Zusammenstöße nicht nur zwischen den Gemeinden, sondern auch zwischen den Militärs ausgetragen wurden.
Wie hat der Konflikt diesmal begonnen?
Vor einigen Tagen begann das Problem mit einer Wasserstelle, die von beiden Seiten genutzt wird. Sie befindet sich an der Straße, die die Exklave Woruch mit dem Rest des Landes verbindet. Es gab eine Vereinbarung zwischen Tadschikistan und Kirgistan: Während der Wintermonate bis zum April nutzt die kirgisische Seite diese Wasserstelle, von April bis September wird sie hingegen von Tadschiken genutzt. Im Sommer nutzte die kirgisische Seite das Tortkul-Wasserreservoir (etwa 20 Kilometer weiter nordöstlich, Anm. d. Red.) und die Tadschiken die Wasserstelle.
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In diesem Jahr gibt es im Tortkul-Wasserreservoir zu wenig Wasser, so dass die Kirgisen immer mehr aus der Wasserstelle holten, auch wenn sie nicht das Recht dazu hatten. Die tadschikische Seite war dagegen und vermutete, dass Kirgisen nachts das Wasser stehlen. Daher versuchten sie, eine Überwachungskamera zu installieren, was zu einem neuen Konflikt führte. Seit vielen Jahren häufen sich Probleme, und dieser Vorfall war nur der Auslöser.
Die Region wird jedes Jahr von schweren Dürreperioden getroffen und Zentralasien ist im Allgemeinen eine der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen. Könnte dies das Problem verstärkt haben?
Der Klimawandel spielt hier wahrscheinlich eine Rolle, da dieses Jahr weniger Wasser im Tortkul-Stausee vorhanden ist. Das Problem mit dem Wasser besteht aber seit Jahren, da der Wasserbedarf mit dem Bevölkerungswachstum wächst. Außerdem begann die Bevölkerung Reis anzubauen. Der ist rentabler, braucht aber mehr Wasser. Zu guter Letzt ist das sowjetische Bewässerungssystem nicht sehr effizient und erfordert dauerhafte Investitionen. Es wäre möglich, dieses Bewässerungsproblem durch den Bau einer neuen und effizienten Infrastruktur zu lösen, aber das wäre sehr teuer. Einige internationale Organisationen versuchen, die Probleme mit umstrittenem Land durch die Finanzierung neuer Infrastrukturen zu lösen. Sie verfügten jedoch nicht über genügend Mittel, um dies entlang der ganzen Grenze zu tun. Es wäre das Beste, aber es gibt weder Mittel dafür noch politischen Willen auf beiden Seiten.
Dieser groß angelegte Konflikt war lange von Experten befürchtet worden. Warum haben die Regierungen beider Länder nicht schon früher versucht, dieses Ressourcenproblem zu lösen?
Keine der Regierungen hatte nach dem Zerfall der Sowjetunion Zeit dafür. In Tadschikistan gab es einen Bürgerkrieg und dann eine Post-Konflikt-Situation. Und in Kirgistan gab es drei Revolutionen. Andererseits ist die Frage schwer zu lösen, da es sich um eine so komplexe Situation handelt. Auf Gemeindeebene sind beide Seiten nicht dazu bereit, Kompromisse einzugehen.
Die kirgisischen Behörden waren seit der Machtübernahme von Sadyr Dschaparow bereit, Grenzstreitigkeiten zu lösen. Es wurde sogar eine Vereinbarung mit Usbekistan gefunden.
Eigentlich begann die ganze Geschichte vor einigen Wochen, als die neue kirgisische Regierung das Problem anging, um bessere Umfragewerte zu erhalten. Sie schloss ein Abkommen mit Usbekistan, das von kirgisischen Einheimischen abgelehnt wurde. Man versuchte auf ähnliche Weise, den tadschikisch-kirgisischen Streit zu lösen, und begann militärische Manöver an der Grenze durchzuführen, um Druck auszuüben. Das verursachte eine völlig entgegengesetzte Reaktion und erhöhte die Spannungen. Die kirgisische Regierung wollte keinen neuen Konflikt, sie wollte nur Druck ausüben und das Problem lösen. Aber die tadschikische Regierung konnte ihren Vorschlag nicht annehmen.
Könnte es einen Gebietsaustausch geben?
Das wurde vom kirgisischen Präsidenten vorgeschlagen, aber es war ein sehr grober Vorschlag, der für Duschanbe nicht akzeptabel war. Selbst wenn es zu einem Gebietsaustausch kommen würde, müssen die Leute aus Woruch die gleiche Infrastruktur oder zumindest eine angemessene Entschädigung erhalten. Es geht nicht nur um Gebäude, sondern auch um Gärten, Weiden, Bäume, Landwirtschaft. Es ist eine Bevölkerung von Bauern und Händlern, die das Land seit Jahrhunderten kultiviert haben. Es ist für sie fast unmöglich, in ein anderes Gebiet zu ziehen, weil ihr ganzes Leben und ihr Lebensunterhalt von diesem Land abhängen. Darüber hinaus sieht der Bischkeker Vorschlag keine Entschädigungen vor.
Wird es einen Krieg geben?
Ich denke nicht, dass es einen großen Krieg geben wird, da keine Seite über die wirtschaftlichen Ressourcen dafür verfügt, insbesondere angesichts der Pandemie. Meiner Meinung nach werden sowohl Bischkek als auch Duschanbe versuchen, den Konflikt erneut einzufrieren, möglicherweise mithilfe eines internationalen Vermittlers wie Russland oder Usbekistan. Usbekistan war bereits in Verhandlungen verwickelt. Es hat Angst vor einem großen Konflikt in der Region, da in Kirgistan eine usbekische Minderheit lebt.
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Die Mehrheit der Experten erwartet, dass es eine Einigung geben wird, aber andererseits können wir sehen, dass es eine öffentliche Mobilisierung von beiden Seiten gibt. Es gibt Gruppen junger Menschen, die versuchen, von beiden Seiten an die Grenzen zu gelangen, um „das Land zu verteidigen“. Die Regierungen versuchten, sie nicht in das Grenzgebiet zu lassen. Sie wissen, dass sie die Kontrolle verlieren, wenn diese Leute es bis an die Grenze schaffen. Tadschikistan hat bessere Erfolgschancen, weil es ein Zentralstaat mit einer starken Regierung ist. Kirgistan hat nach den Revolutionen eine aktivere Gesellschaft. Für die neue Regierung wird es nicht einfach werden, diese Bewegungen zu kontrollieren.
Das Interview führte Clara Marchaud
Aus dem Englischen von Robin Roth
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