In diesem Sommer ist die russische Übersetzung von „Hungrige Steppe. Hunger, Gewalt und Gründung des sowjetischen Kasachstans“ (The Hungry Steppe: Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan), einem Buch der amerikanischen Historikerin Sarah Cameron, erschienen. Bereits zuvor war das Werk unter Beteiligung der Dosym-Sátbaev-Stiftung auf Kasachisch veröffentlicht worden. Das Buch ist dem Thema der Hungersnot in der kasachischen Steppe in den Jahren 1930-1933 gewidmet. Das Buch ist das Ergebnis jahrelanger wissenschaftlicher Arbeit von unter anderem russischen und kasachstanischen Archiven, deren Material zum ersten Mal Gegenstand der Forschung wurde. Die folgende Rezension von Sergej Kim erschien am 9. September 2020 auf Vlast. Wir übersetzen sie mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
„Asharshylyq“(Kasachisch für Hunger) ist ein so umfangreiches und unerforschtes Thema, dass man ihm jedes Jahr wissenschaftliche Konferenzen widmen könnte, wo Forscher aus verschiedenen Disziplinen (Geschichte, Wirtschaft, Soziologie, Ethnographie usw.) und mit verschiedenen Perspektiven (postkoloniale Theorie, Gender, Nationsbildung, Gedächtnispolitik, mündliche Geschichte) das Thema behandeln und Vorträge halten könnten. Stattdessen werde ihr von Doktoranden berichtet, dass Forschungsleiter zur Untersuchung anderer Themen raten, schreibt Sarah Cameron.
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Die zweideutige offizielle Position in dieser Frage (die Tatsache des Hungers und Fehler der Sowjet-Macht werden anerkannt, allerdings wird nicht daran erinnert, um Konflikte in der Gegenwart zu vermeiden) und die damit verbundene Selbstzensur in der Wissenschaft aber auch im Journalismus erzeugt schmerzhafte Spannung rund um das Thema. Umso bedeutsamer ist das Erscheinen des Werks „Hungrige Steppe“ in russischer und kasachischer Sprache als Möglichkeit, Diskussionen zu vertiefen und zu diversifizieren sowie um scholastische Streitigkeiten, wie zum Beispiel um das Wort „Völkermord“, zu vermeiden.
Ein Versuch der Modernisierung
In ihren Studien betrachtet Cameron die Kollektivierung in Kasachstan als einen Versuch zur Konstruktion einer neuen sowjetischen Nation und gleichzeitig als Modernisierung der nomadischen Gesellschaft. Dabei stellt sie dies in den breiten Kontext der imperialen Kolonialisierung. Sie zeigt überzeugend, dass die Kolonialpolitik (insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten des Russischen Reichs) in den kasachischen Steppen zur enormen Transformation der nomadischen Lebensart und zur Veränderung der ökologischer Umgebung geführt hat. Die Massenumsiedlung von Bauern aus dem europäischen Teil Russlands und aus Sibirien in den Süden hatte maßgeblich die Steppen belastet. Die Nomaden wurden von traditionellen Weiden verdrängt, der Boden wurde verdorben, Wasserreservoirs trockneten aus, die Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung von Epidemien nahm zu. Das alles hatte negative Auswirkungen, die folglich das Ausmaß der Hungersnot beeinflusst hat.
Interessant ist, dass mit der Sowjet-Macht der Kurs in Richtung Sesshaftmachen und „Zivilisierung“ der Kasachen, der bereits seit der Zeit von Katharina II betrieben wurde, nicht unabdingbar war. Noch am Anfang der 20er Jahren waren die sowjetischen Agronomen der Meinung, dass genau die nomadische Viehzucht die beste Möglichkeit sei, die trockenen Regionen Kasachstans effizient zu nutzen. Und das Hauptziel der neuen Sowjetmacht war nicht die Zerstörung der traditionellen Landwirtschaft, sondern die Erhöhung ihrer Effizienz. Das Kapitel der wissenschaftlichen und politischen Debatten der 20er Jahre über die Zukunft des kasachischen Volk regt an, über alternative Wege der Modernisierung der nomadischen Gesellschaft nachzudenken, die realisiert werden könnten, wenn der innerparteiliche Kampf nicht zum Aufstieg Stalins und des Terrors geführt hätte.
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Einige Studien aus dieser Zeit, wie zum Beispiel das Buch des Ethnographen und Landwirt Sergej Schwezow „Kasachischer Haushalt unter seinen natürlichen historischen und alltäglichen Bedingungen“ (Казахское хозяйство в его естественно-исторических и бытовых условиях) von 1926, in dem argumentiert wird, dass nomadische Viehzucht nicht etwas Rückschrittliches im Vergleich zur sesshaften Landwirtschaft sei, könnte auch heute neugierig machen. Cameron verwendet solche Texte um zu beweisen, dass die verheerenden Entscheidungen der Moskauer Führung während der Kollektivierung in Kasachstan nicht das Ergebnis von Unwissenheit und mangelnder Kenntnis des lokalen Kontexts waren. Das Risiko, eine große Zahl von Menschen zu töten, war wohl bekannt, wurde jedoch aus politischen und wirtschaftlichen Gründen ignoriert. Trotz der neutralen und allgemein etwa distanzierten Stellung der Forscherin zum Thema, lässt sie hier zu, die Ereignisse von damals zu bewerten und erklärt: „Die kasachische Hungersnot war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“
Der Kollektivierung und der Hungersnot, sowie Goloschtschjokins vorangegangener Kampagne „Kleiner Oktober“ wurden drei Kapitel des Buches gewidmet. Cameron beschreibt sehr detailliert die Ereignisse von 1928-1934 Jahren in chronologischer Reihenfolge. Die Idee, dass die schlechte Organisation und Vorbereitung der Kollektivierung, Personalmangel vor Ort, die Vernachlässigung des Lebens und der Interessen der Einheimischen zu Durcheinander, lokalem Aktivismus, Plünderungen, Gewalt und Massenflucht geführt haben, zieht sich als roter Faden durch die ganze Erzählung. Die Reaktion auf mehrere Wellen der Kollektivierung (eine kleine Pause wurde nach Stalins Artikel „Schwindel vor Erfolgen“ (Головокружение от успехов) in der Ausgabe der „Prawda“ vom März 1930 genommen) waren Aufstände in den Grenzgebieten. Diese Ereignisse führten zu einer enormen sozialen Katastrophe. Um diese einigermaßen zu überwinden, brauchte es ein paar Jahrzehnte.
Ein gelungenes Werk
Cameron ist es gut gelungen, in ihrem Narrativ Erfahrungen von Augenzeugen der 30er Jahren, die damals noch Kinder waren, wiederzugeben. Die Autorin beherrscht sowohl die russische als auch die kasachische Sprache. Deshalb konnte sie eine beeindruckende Menge an Memoiren und Archivmaterialien verwenden, was das Gespräch über diese Tragödie weniger abstrakt macht und dazu befähigt, den Schwerpunkt auf die einfachen Menschen zu legen, die diese Ereignisse miterlebt und darunter gelitten haben, die aber darüber hinaus in den Augen der Regierung selbst daran schuld waren. Das Scheitern der Kollektivierung wurde oft von der Parteispitze mit der „Unterentwicklung“ der Nomaden und ihrem Festhalten an den aus der Sicht der historischen Skala des Marxismus-Leninismus rückständigen Sippenbeziehungen erklärt. Aber wir begegnen in der bolschewistischen Rhetorik jener Zeit auch dem ewigen Lied von „ausländischen Agenten“, Schädlingen und Günstlingen der Beys, die die Bevölkerung zu Aufruhr, Flucht und Ungehorsam verführten.
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Immerhin ist Cameron der Ansicht, dass die Kollektivierung letztendlich trotz ihrer Ungeheuerlichkeit der Sowjetregierung ermöglicht hat, mehrere Ziele in Bezug auf Kasachstan zu erreichen. So sei es gelungen, die Kasachen in die lokalen Partei-Institutionen und Behörden zu integrieren sowie die Nationalität zum Hauptelement in der Identität der Einheimischen zu machen. Das Projekt des nationalen Aufbaus und der Modernisierung der nomadischen Gesellschaft hatte begonnen, allerdings zu einem hohen Preis.
Man darf erwarten, dass die Veröffentlichung von „Hungrige Steppe“ neue Seiten der öffentlichen Diskussion über die Hungersnot möglich macht. Cameron selbst gibt zu, dass das Thema noch „viele Geheimnisse birgt“. Einige Themen, die in der Studie nur angeschnitten sind, könnten durchaus zum Thema von Dissertationen werden. Außerdem wächst offenbar auch das Interesse westlicher Akademiker an diesem Problem, so dass es zu kurz gedacht wäre, einheimische Wissenschaftler weiterhin einzuschränken und damit ausländischen Historikern die Möglichkeit zu geben, eine Erzählung über den Hunger in Kasachstan zu konstruieren.
Sergej Kim für Vlast
Aus dem Russischen von Kunduz Zhyrgalbekova
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