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Aurora – „Wie eine Miniatur von ganz Kirgistan“

REZENSION. „Aurora“, das ist ein liebevoll gedregter kirgisischer Arthouse-Film, der die Zuschauer in zahlreiche Problematiken des zeitgenössischen Kirgistans einführt, all das vor der malerischen Kulisse des Yssykkölsees. Der 2018 erstmals in Busan gezeigte Film ist das erste Werk des jungen, vielversprechenden Regisseurs Bekzat Pirmatow.

Aurora Filmplakat Ausschnitt
Der Film "Aurora" verbindet verschiedene Handlungen eines Tages im gleichnamigen Sanatorium am Yssykkölsee

REZENSION. „Aurora“, das ist ein liebevoll gedregter kirgisischer Arthouse-Film, der die Zuschauer in zahlreiche Problematiken des zeitgenössischen Kirgistans einführt, all das vor der malerischen Kulisse des Yssykkölsees. Der 2018 erstmals in Busan gezeigte Film ist das erste Werk des jungen, vielversprechenden Regisseurs Bekzat Pirmatow.

Diese Rezension ist Teil von „Cinestan“, einer Artikelreihe, in der verschiedene Mitglieder oder LeserInnen von Novastan ihre besten filmischen Momente über Zentralasien teilen. Jeder Artikel dieser Serie beschreibt einen Film, der in Zentralasien produziert oder gedreht wurde und online verfügbar ist.

Als Aurora, das Filmdebüt von Autor und Regisseur Bekzat Pirmatow, zum ersten Mal in Bischkek gezeigt wurde, saß auch  Bolotbek Schamschijew im Raum. Der seitdem verstorbene Filmemacher war einer der Hauptakteure der sogenannten „goldenen Ära“ des kirgisischen Kinos in den 70ern und 80ern. Erzählungen zufolge sprang er am Ende des Filmes erfreut auf: „endlich!“. „Dies ist ein vollkommen ungewöhnlicher Film“, erklärte er kurz darauf Journalisten. Tatsächlich: „Aurora“ ist wie ein frischer Atemzug in der modernen kirgisischen Kinolandschaft.

Angefangen mit dem Drehbuch: Der eigentliche Hauptcharakter ist die Kulisse, das Pensionat „Aurora“ am Nordufer des malerischen Yssykkölsees. Das als Initiative von Leonid Breschnew im Jahr 1979 gebaute Sanatorium befindet sich bis heute im Besitz des nun unabhängigen kirgisischen Staats, wie man in der Einleitung erfährt.

In diesem stillen, wie in der Zeit steckengebliebenen Kontext verwebt der Film Charaktere und Handlungen eines Tages zu einem Puzzle, das sich erst am nächsten Morgen auflöst. „Pirmatow zeigt beachtliches Talent in nicht-linearer, expressionistischer Geschichtenerzählung“, meint auch eine Kritik im Rahmen des Busan International Film Festival 2018, wo der Film seine Weltpremiere feierte.

Kirgisische Dekadenz

„Aurora“ war auch Kirgistans Eintrag zu den jüngsten Academy Awards, schaffte es aber nicht jenseits der Longlist. Vielleicht ist der Film zu spezifisch kirgisisch für ein breiteres Publikum. Dafür bietet er aber einen sehr aktuellen Einblick in das zeitgenössische Kirgistan, fern von den üblichen folkloristischen Darstellungen, Komödien oder historischen Epen der lokalen Kinoszene.

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Es ist ein ironischer, düsterer Blick. Der Yssykölsee ist ein Ort, an dem vor allem auch Einwohner der Hauptstadt Bischkek Erholung suchen, zur Feriensaison ein Treffpunkt für Leute verschiedener Regionen und gesellschaftlicher Schichten. „Vom welchem Berg bist Du gekommen?“, erwidert in der Eröffnungsszene zum Beispiel eine verärgerte Frau dem Kellner, nachdem er sie „Edsche“ (kirgisische Ansprache für ältere Frauen, wörtlich „ältere Schwester/ Cousine“) genannt hat. „Deine Edsche sitzt zu Hause und melkt die Kühe“, sagt sie dem zweiten Kellner, als dieser den Fehler wiederholt.

Durch seine einfachen, aus dem Leben gegriffenen Charaktere wirkt das Pensionat „Aurora“ wie eine „Miniatur von ganz Kirgistan“, so die kasachstanische Filmexpertin Gúlnar Ábikeeva in ihrer Rezension. Der Film ist „vollkommen kirgisisch – in seinem Geiste, seiner Stimmung, seinen Helden“. Er zeichnet das Bild einer kirgisischen Dekadenz, in der sich einerseits seit der Sowjetunion kaum etwas verändert hat, aber andererseits mit der Einführung eines ungeregelten Kapitalismus Geld und Beziehungen Macht bedeuten.

Sogar die Mafia bekommt Angst, wenn sie mich sieht“, droht zum Beispiel ein Charakter in der zweiten Szene. An einer anderen Stelle versucht eine Firmenchefin einen Steuerbeamten mit einem iPhone zu bestechen.

Aurora Filmausschnitt
„Brahms, der dritte Teil der Symphonie Nummer drei, ich kann einfach nicht auf sie verzichten“ – Filmausschnitt aus Aurora

Selbst das Schicksal von „Aurora“ selbst wird von Geld bestimmt: Chinesische Investoren machen ein verlockendes Angebot, um den Ort langfristig zu mieten, wollen aber dafür seinen Namen ändern. Eine junge Studentin vergleicht das mit einer Straße in Bischkek, die nach türkischer Renovation zur „Ankara-Straße“ wurde: „Aber die Chinesen sind keine Türken, sie können das ganze Land renovieren“, fügt sie hinzu, und drückt damit in der Gesellschaft verbreitete antichinesische Sorgen aus.

Ein Hoch auf die Kultur

Vor dem Hintergrund dieser Dekadenz bieten vor allem kulturelle Errungenschaften und die Kunst Hoffnung, und zwar an Stellen, wo man es nicht erwarten würde. So eine Szene mit zwei jungen Frauen, die sich auf einer Jacht sonnen und dabei diskutieren, welche Musik sie mitnehmen würden, wenn sie auf einmal von Außerirdischen entführt würden: „Brahms, der dritte Teil der Symphonie Nummer 3, ich kann einfach nicht auf sie verzichten“. Selbst die drei zeitreisenden Kiffer, die einzigen durchwegs positiven Figuren, zeichnen sich in erster Linie durch ihre große Liebe zu Ästhetik und der Musik von Johann Sebastian Bach aus.

Kirgisische Kultur kommt dabei auch nicht zu kurz. Offensichtlich sind die Bezüge zu Tschingis Aitmatows Roman „Der weiße Dampfer“, nach dessen Vorbild bereits das Sanatorium gebaut wurde und der mehrmals im Film zitiert wird. Aber auch die Hintergrundmusik mit Klassikern der kirgisischen Pop-Musik wie Mirbek Atabekows „Kündör Dschangyrat“ („Die Tage erneuern sich“) verleiht dem Film ein extra Stück Authentizität.

Bemerkenswert sind schließlich auch zwei Charaktere, die im Film sich selbst spielen: Der Moderator der Glückwünschsendung „Arnoo Kontsert“, Baktybek Mamytow, und der auf Drogentherapie spezialisierte Arzt Dschengischbek Nasaralijew. Beide sind in Kirgistan langjährige Berühmtheiten und werden bereits in der Einleitung des Films eingeführt, was aus ihnen auch eine Art allegorische Brücke zur Vergangenheit macht.

Die Kunst der Filmästhetik  

Die Handlung des Films endet am Vormittag, genauer gesagt zum Morgengrauen. Eine elegante Abrundung, so ist auch „Aurora“ die lateinische Bezeichnung für Morgenröte. Auch der Rest des Films besticht durch seine Ästhetik. Schon allein die Einleitungsszene, in der die Putzfrau ihrem Mann Tee zubereitet, während dieser einen Fernsehbeitrag zur Polygamie schaut, zeigt die Liebe zum Detail und die Findigkeit des Filmteams.

Die Musik, teils mit Stücken von Bach, Mozart und Rachmaninow, teils von Alexander Yurtaev eigens für den Film komponiert, trägt auch im Wesentlichen zur Atmosphäre bei. Insbesondere bei landschaftlichen Aufnahmen entsteht dabei eine unheimliche Harmonie mit der wunderschönen Umgebung des Yssykkölsees. Die Kameraführung ist gekonnt und verschafft dem Film einen ruhigen Ton, entsprechend dem entspannenden Wellengang auf dem Wasser. Die erste Szene im Sanatorium ist sogar eine ungeschnittene fünfminütigen Sequenz.

„Aurora“ wurde von dem unabhängigen Filmstudio „TopTash“ mit einem sehr kleinen Budget gedreht. Wie Pirmatow später in einem Podcast erklärte, haben die Mitarbeiter des Studios dabei gar gänzlich ohne Honorar gearbeitet. Das gelungene Ergebnis ist somit ganz auf die Arbeit und Leidenschaft der Filmcrew zurückzuführen. Eine Leidenschaft, die man auch bei der Sichtung noch förmlich spüren kann.

Einzelne Szenen von „Aurora“ sind in der Originalversion auf dem Youtube-Kanal des Toptash Filmstudios zu sehen.

 Florian Coppenrath
Novastan.org

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