In Bischkek sind kaum Menschen mit Behinderung auf den Straßen zu sehen. Nur ab und an trifft man einen oder zwei, dann vorwiegend aber als Bettler am Straßenrand. Was sind die Gründe und Ursachen dafür? Wie unterscheiden sich Stadt und Land im Umgang mit Menschen mit Behinderung? Und was wird getan, um sie besser in die Gesellschaft einzugliedern? Ein Kommentar von Ainaz Sulaimanova.
Das Thema Integration von Menschen mit Behinderung ist in der kirgisischen Presse gerade recht präsent: Seit Neuestem hat Bischkek einen Kindergarten speziell für Kinder mit Down-Syndrom und Anfang Oktober wurde der Bau des ersten Spielplatzes für Kinder mit Behinderung eingeleitet. Zwar sind dies wichtige erste Maßnahmen, doch Behinderung ist in der Gesellschaft Kirgistans nach wie vor ein Tabu-Thema.
Abseits der Gesellschaft
Im Stadtbild Bischkeks sind Menschen mit Behinderung kaum wahrnehmbar, anders verhält es sich in den Dörfern auf dem Land. In Kyzyl-Asker zum Beispiel, in der Region Dschalal-Abad im Süden des Landes, findet man im öffentlichen Raum durchaus Menschen mit Hör- oder Sehschädigungen, ebenso wie mit zerebralen Bewegungsstörungen, zu denen auch Kinderlähmung zählt.
Meist werden die Betroffenen ins Dorfleben mit eingebunden, hüten Vieh und ernten Baumwolle mit den anderen. Doch auch wenn das Zusammenleben dort sichtbarer als in den Städten ist, passiert es nicht selten, dass sich Dorfbewohner über sie lustig machen.
Was macht der Staat (nicht)?
Die Abteilung für soziale Fürsorge des Ministeriums für Arbeit und Soziales bietet bestimmte Hilfeleistungen an, wie zum Beispiel eine monatliche Beihilfe bis zum 18. Lebensjahr. Außerdem gibt es Rehabilitationszentren, die im staatlichen Auftrag soziale Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung erbringen. Laut einem Bericht des Ministeriums erhielten im Jahr 2012 25.346 Kinder mit Behinderung eine solche soziale Beihilfe. Im darauffolgenden Jahr stieg diese Zahl auf 26.672 an.
Dazu gibt es in Kirgisistan 104 Kinderheime, in denen auch Kinder mit Behinderungen wohnen. Allein in einem davon wohnen 257 Kinder, die teils von ihren Eltern verlassen wurden. Doch die Nachfrage nach solchen Plätze ist größer als das, was geboten wird.
Ein weiteres Problem ist die Infrastruktur. Es ist fast unmöglich, sich mit einem Rollstuhl in der Stadt frei zu bewegen. Die Transportmittel und viele öffentlichen Gebäude sind nicht barrierefrei, und dazu kommen die mangelhaften Zustände der Straßen und viele Treppen. Hörgeschädigte sehen sich einem erschwerten Zugang zur Information konfrontiert. In den nationalen TV-Kanälen werden die Nachrichten nicht in Gebärdensprache gedolmetscht. Vor zehn Jahren gab es eine solche Übersetzung noch, die heute bestenfalls mit Untertiteln ersetzt wird.
Hinter der Diskriminierung steht ein gesellschaftliches Problem:
Viele Menschen in Bischkek stecken noch im Schwarz-Weiß-Denken fest. Für sie gibt es entweder reich oder arm, Mann oder Frau, gesund oder ungesund. Gefördert werden nur die Erstgenannten. Menschen mit Behinderung entsprechen nicht den Erwartungen von privilegierten Menschen. Viele Menschen in Kirgisistan nehmen Behinderungen als Fehler wahr. Aus diesem Denken entspringen der Hass, die Vernachlässigung und die Diskriminierung, die den Betroffenen oft gegenübertreten. Der gesellschaftliche Druck bringt sogar einige Eltern dazu, ihre behinderten Kinder zu verstecken und darüber zu schweigen. Besonders betroffene Beamte versuchen ihre Kinder zuhause zu lassen.
Hilfe aus der Zivilgesellschaft
Der Großteil der Unterstützung kommt von Nichtregierungsorganisationen. Besonders aktiv sind der lokale Verband der Eltern von Kindern mit Behinderung (ARDI) und die gesellschaftliche Vereinigung von Frauen mit Behinderung ‘Nazik kyz‘ – Zartes Fräulein. Letztere organisiert zum Beispiel Modeschauen von selbst designten Kleidern. Mehrere der Hilfsorganisationen, Stiftungen und Vereine in Bischkek werden aus dem Ausland initiiert, finanziert und betrieben, so wie das Rehabilitationszentrum Nadjeschda oder die Stiftung Zuversicht für Kinder.
Eine ‚Happyend-Geschichte‘ über Jugendliche mit Behinderung bietet das Beispiel des Sozialdorfes ‘Manas’. Dieses Dorf befindet sich 60 km westlich von Bischkek im Ort Murake und wurde 2004 gegründet. Zuerst wurde ein Haus mit Gemüsegarten gebaut. Seitdem hat das Projekt vielseitige Unterstützung bekommen und wird allmählich erweitert. 2007 wurde mit Hilfe einer Spende ein zusätzliches Grundstück gekauft, auf dem eine Holz- und Filzwerkstätte errichtet wurden. Mittlerweile gibt es zwei Häuser, in denen momentan insgesamt 18 Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung wohnen. Es gibt vier Sozialarbeiter, die als Bezugspersonen fungieren. Sie führen ein relativ aktives Leben. Sie züchten Vieh, bauen Gemüse an, produzieren Filzprodukte und verdienen dadurch ihren Lebensunterhalt.
Die Fortsetzung dieser Geschichte findet im Gebäude des Dramatheaters in Bischkek statt. Dort treten die „Manas“-Bewohner als Hauptakteure des Projekts „Heroes“ auf, das vom Theater Thikwa in Berlin und dem Deutsch-Kirgisischen Kulturverein geleitet wird. Damit soll die Zusammenarbeit von professionellen Schauspielern und Amateurschauspielern mit Behinderung gefördert werden. Ihr Ziel sei es, eine andere Wahrnehmung der Behinderung zu ermöglichen, und die Bühne sei das beste Instrument dazu, sind die Initiatoren überzeugt.
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Die weit verbreitete Behindertenfeindlichkeit und der Mangel an Inklusion ins soziale Leben führt dazu, dass Menschen mit Beeinträchtigung im Alltag unsichtbar werden. Beispiele wie das Sozialdorf ‚Manas’ oder auch der geplante Spielplatz ändern diese Einstellung in der Gesellschaft. Behinderte Menschen sind kein ‚Klotz am Bein’ sondern gleichberechtigte und arbeitsfähige Menschen. Akzeptanz und Einbindung von behinderten Menschen sind erste Schritte zu mehr Sichtbarkeit.
Ainaz Sulaimanowa
Redaktion: Ann-Kathrin Rothermel & Daniela Neubacher