Die Füße fest im Steigbügel verankert. Das Haupt von breiten Schultern getragen. Der ernste Blick des Fürsten Árpád richtet sich in die Ferne, entlang der Prachtallee Budapests, eintausend Jahre zurück. Als Anführer der Magyaren eroberte und besiedelte er einst das Karpatenbecken und bekam dafür ein Denkmal mitten am Heldenplatz der heutigen Hauptstadt. Der Mythos vom ungarischen Reitervolk, das aus dem fernen Asien stammt, war geboren, und stützt seither die Identität der Nation. Unter dem Motto der „Ostöffnung” verstärkt Ungarns Führung zunehmend seine Kontakte nach Zentralasien. Als engster Partner gilt Kasachstan. Mit dem Brückenschlag nach Osten schlägt das EU-Land jedoch eine umstrittene Richtung ein.
Ein Teil Asiens findet sich schon im Namen: In der Landessprache heißt Ungarn nämlich „Magyarenland“ (Magyarország), benannt nach jenen Völkern, die ursprünglich aus Gebieten des Urals nach Westen wanderten und sich im 10. Jahrhundert im Karpatenbecken ansiedelten. Seit damals haben zahlreiche Eroberungen und Fremdherrschaften ihre Spuren verwischt – etwa durch den Mongoleneinfall, die Aufnahme verschiedener Turkvölker im Mittelalter, deutsche und slawische Einwanderer oder die Herrschaft der Osmanen. Dennoch behaupten nicht wenige Ungarn, dass heute noch die Verwandtschaft mit den Ethnien aus dem Ural und der zentralasiatischen Steppe nachweisbar sei. Gern wird eine Studie des ungarischen Wissenschafters András Zsolt Bíró zitiert, in der er behauptet eine genetische Verbindung zwischen dem kasachischen Stamm der „Madjar“ mit dem Ungarn (Magyaren) gefunden zu haben. Bíró bekam dafür 2008 eine Ehrung vom kasachischen Kulturministerium.
Mit dem Slogan „Wir sind alle verwandt“ erklärten bisher vor allem Politiker der rechtsradikalen Partei „Jobbik“ den engen Kontakt zum selbsternannten Brudervolk, den Kasachen. Wissenschaftlich sei die genetische Verwandtschaft aber nicht beweisbar, meint eine ungarische Historikerin, die anonym bleiben möchte, im Novastan-Interview. „Das ungarische Volk will daran glauben, dass wir in Europa etwas Wichtiges, Einzigartiges sind, etwas, das man unbedingt vor der westlichen Globalisierung oder vor was auch immer schützen soll.” Der Glaube an die Einzigartigkeit der Ungarn müsse “die wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit und Erfolglosigkeit ausgleichen”.
Ostöffnung unter Orbán
Inzwischen ist der Kontakt zu Kasachstan lange kein Projekt des rechtsradikalen Flügels mehr. Der Premierminister Ungarns und Anhänger der national-konservativen Partei (Fidesz), Viktor Orbán, verwendet den Rückbezug auf die alten Verwandtschaften im Osten als Rechtfertigung für das außen- und wirtschaftspolitische Programm der rechts-konservativen Regierung. Hinter dem Motto der „Ostöffnung“ verbirgt sich eine umstrittene Außen- und Wirtschaftspolitik, die politische Nähe zu Ländern wie Russland, Aserbaidschan und die Türkei, bis hin zu China, Kuwait, Saudi Arabien oder dem Iran sucht.
Politisch äußert sich die Nähe durch häufige gegenseitige Besuche von diplomatischen Delegationen – im Herbst dieses Jahres mit Aserbaitschan und im Sommer mit Kasachstan. Letztere scheinen für Ungarn besonders profitabel zu sein. Orbán erklärt das Interesse Ungarns an Kasachstan mit einfachen Worten: Wir kommen aus einem Teil der Welt, in dem es eine Krise gibt und sind in einem Teil der Welt angekommen, in dem es keine gibt.
Das Polnische Institut für Internationale Beziehungen (PISM) sieht vor allem seit dem Regierungsantritt von Orbán im Jahr 2010 eine Wende in der ungarischen Außenpolitik, bei der gegenüber diplomatischen Beziehungen vor allem die Wirtschaft in den Vordergrund rückt. Eine Reihe neuer Wirtschaftsabkommen zwischen Kasachstan und Ungarn unterstützt diese These.
Öl, Stein und Fisch – kasachische Reize
Nach Angaben der kasachstanischen Botschaft in Budapest sind aktuell 58 ungarische Unternehmen und Joint Ventures in Kasachstan tätig. Darunter vor allem in der industriellen Produktion, in der Bau- und Agrarwirtschaft, ebenso wie im Energiesektor. Der größte ungarische Mineralölkonzern, MOL (Magyar Olaj- és Gázipari Részvénytársaság), hält nach offiziellen Angaben Anteile von 25 beziehungsweise 49 Prozent an den Projekten zur Entwicklung der Lagerstätten „Fedorov” sowie „Karpovskiy North“ im Westen Kasachstans. Kasachischer Partner ist dabei KazEnergy, ein Konglomerat aus über 50 verschiedenen Konzernen aus der Mineralöl- und Energiewirtschaft.
Bezeichnenderweise veranstalteten 2013 die kooperierenden Energie-Unternehmen MOL und KazEnergy eine Rally, um nach eigenen Angaben die „historischen Wurzeln“ der magyarischen Stämme zu verfolgen.
Dzhambulat Sarsenov, Vize-Präsident von „KazeEnergy“ bestätigte kürzlich, dass weitere Kooperationen mit Ungarn im Öl- Gasbereich besprochen worden seien. Im Rahmen der Kooperation würde der Partner im Westen Expertentreffen über die Entwicklungsmöglichkeiten von Ölindustrien veranstalten. Außerdem sei Ungarn bereit Kasachstan als Kandidat für die Durchführung des World Petrolium Congress 2017 in Astana zu unterstützen, so Sarsenov.
Sehr attraktiv ist auch die Baubranche für Ungarn. Hier steht die EXPO 2017 im Vordergrund des ungarischen Interesses. Ungarn hätte sich bei der Zuteilung der Austragung für Astana eingesetzt, heißt es von Seiten des kasachstanischen Außenministeriums. Dabei ist das ungarische Engagement im Bau von Objekten bereits Bestandteil von Nazerbajews Strategie für 2050. Kasachstans Bauwirtschaft ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Ungarn sieht hier, wie auch andere europäische Staaten, neue Möglichkeiten in Zentralasien. „Kasachstan ist der lebende Beweis, dass es keine Weltwirtschaftskrise gibt. Es gibt Teile der Welt, die eine Krise haben, und Teile, die keine haben.“, sagte Viktor Orbán kurz nach seiner Rückkehr von einem Kurzbesuch in Astana im Jahr 2012. Tatsächlich aber war Kasachstans Bauwirtschaft stark von der Finanz- und Immobilienkrise 2008/2009 betroffen. Eine Analyse des GTI (Germany Trade and Invest) zufolge sei die Bauwirtschaft infolgedessen „nahezu zum Erliegen gekommen“, erholte sich aber schrittweise vor allem durch öffentlich finanzierte und geförderte Projekte. Hier gelten auch die Aufträge für die kommende EXPO als wichtiger Rückenwind für die Branche.
Zudem scheint Ungarn auf den kasachischen Fisch gekommen zu sein. Um das romantische Idyll auf dem größten ungarischen Binnengewässer, dem Balaton, zu bewahren, wurde bereits im Dezember letzten Jahres die gewerbliche Fischerei verboten. Der dadurch entstandene Fischbedarf wird derzeit zu 95 Prozent durch Importe aus Kasachstan und der Türkei gedeckt.
Laut Kashagan Today betrug das ungarische Investment in Kasachstans Wirtschaft zwischen 2005 und 2013 mehr als 60 Millionen Dollar.
Ein ungarischer Sonderweg?
Auch wenn die vermeintliche „Ostöffnung” unter einem wirtschaftlichen Primat zu stehen scheint, werden zumindest die politischen Implikationen von der Orbán-Regierung schnell unter den Teppich gekehrt. Die ungarische Außenpolitik sei in erster Linie “ungarnfreundlich”, so die Wortwahl des Premierministers.
Besonders wird die Akzeptanz der Orbán-Regierung gegenüber den herrschenden autokratischen bis diktatorischen Systemen in den jeweiligen Partnerländern kritisiert. Auch auf manch Plakaten der Großdemonstration im November 2014 war zu lesen: „Wir sagen nein zur aktuellen Außenpolitik!“
Ungarns Premierminister weist die Vorwürfe mit Entschiedenheit zurück. In offiziellen Statements werden Gemeinsamkeiten und gegenseitige Anerkennung verlautbart: „Auch in der EU denken sie, dass Institutionen selbstständig funktionieren, aber sogar ein Auto funktioniert nicht ohne Chauffeur. Glücklich sind jene Länder, die eine klare Führung haben“, sagte Orbán bei einem Treffen ungarischer und aserbaidschanischer Geschäftsleute Mitte November. Ähnlicher Auffassung sei man wohl auch beim politischen Stil. So heißt es etwa auf der Webseite des kasachischen Außenministeriums: „Beide Seiten teilen ähnliche Positionen zu den meisten wichtigen Themen internationaler Politik.“
Zusätzlich sorgt Ungarns Verhalten in der Ukraine-Krise in Brüssel und Washington für Argwohn bis hin zum Fundamentalvorwurf der „Russlandfreundlichkeit”. Im Mittelpunkt der Kritik steht der Stopp der Gaslieferungen in die Ukraine mit der Begründung eines gesteigerten Gasbedarfs sowie der Priorität, die eigenen Gasspeicher auffüllen zu wollen. Außerdem zeigte sich Ungarn an einer Kooperation mit Russland für den Bau der South-Stream-Pipeline interessiert. In Kooperation mit dem staatlich kontrollierten Energiekonzern Gazprom sollte durch die Pipeline russisches Gas ohne Abhängigkeit von den Transitländern Weißrussland und der Ukraine nach Zentral- und Westeuropa geliefert werden. Die Pläne scheitern vorerst allerdings an der Blockadehaltung Bulgariens. Zum anderen steht das Engagement der ungarischen Regierung in der Karpatenukraine und der damit einhergehende Anspruch für die dortige ungarische Minderheit als Schutzmacht aufzutreten.
Eine solche ungarische Außenpolitik wirkt langfristig als Sand im Getriebe, sowohl in der transatlantischen Partnerschaft als auch bei einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Inwiefern die propagierte „Ostöffnung” diesen Prozess aber beschleunigt oder nur eine vorübergehendes Krisensymptom ist, bleibt indessen abzuwarten.
Zu Gast bei Verwandten?
Philipp Karl forscht zu Rechtsradikalismus in Ungarn. Im Novastan-Interview weist er darauf hin, dass die vermeintlichen Abstammungszusammenhänge von Seiten der Politik als legitimatorisches Vehikel genutzt werden: „Nach innen haben sie das klare Ziel die eigene Abstammung beziehungsweise Vergangenheit mythologisch und teils pseudowissenschaftlich zu überhöhen und somit von der wenig rosigen Gegenwart abzulenken. Nach außen stellt es eine Möglichkeit dar, die Annäherung an wenig demokratische beziehungsweise autoritäre Regierungen legitim und natürlich erscheinen zu lassen.” Karl betont zudem, dass sich die Jobbik-Partei explizit in ihren Wahlprogrammen die Ostöffnung im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich zur Aufgabe gemacht hat. Jobbik ist bei den Parlamentswahlen 2014 mit einem Anteil von 20 Prozent der Stimmen zur drittstärksten Partei aufgestiegen.
Dennoch sei es, Karl zufolge, unwahrscheinlich, dass ein gelebter Turanismus (also die Ideologie über eine gemeinsame Abstammung der Turkvölker) eine weitreichende Renaissance in Ungarn erleben wird. Dafür sei die Christianisierung unter dem Heiligen Stephan (Szent István), dem ersten ungarischen König, und der damit begründete Anschluss an das „moderne Abendland” zu fest in der kollektiven Identität verankert. Nichtsdestotrotz dienen turanische Elemente „als ideologischer Überbau zu Treffen und Vereinbarungen der ungarischen Regierung insbesondere mit Kasachstan”.
Kulturaustausch zwischen Puszta und Steppe
Nicht ganz 4000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen der ungarischen und kasachischen Hauptstadt. Wie ungarische Medien im Sommer dieses Jahres berichteten, soll es bald auch Direktflüge zwischen den Ländern geben. Seitens des Budapester Flughafens hätte man von den Plänen gehört, konkrete Informationen darüber gebe es allerdings nicht. Auch die Fluglinie Wizzair, die auch Flüge nach Baku und Dubai anbietet und laut der Kommunikationsabteilung des Flughafens für Direktflüge nach Astana in Frage käme, belässt es auf Anfrage von Novastan bei dem Statement, dass man lediglich von Plänen wisse.
Vielleicht können bereits im Sommer 2015 die ersten ungarischen Touristen Kasachstan direkt anfliegen, zeitlich passend zum ungarischen Filmfest, das jährlich in Almaty stattfindet. Im Jahr 2010 wurde das Festival gegründet, und ist ein weiteres Beispiel für den verstärkten Kulturaustausch der beiden Länder. Zudem finden bereits seit 13 Jahren „Tage der Kultur Kasachstans“ in Ungarn und das ungarische Pendent dazu in Kasachstan statt. Die ungarische Akademie der Wissenschaften MTA präsentierte dieses Jahr die ungarische Übersetzung von Präsident Nursultan Nazarbajews Autobiographie – mit Unterstützung seitens MOL. Und im Sommer erschien der Spielfilm basierend auf dem Buch im ungarischen öffentlich-rechtlichen TV.
Zu Árpáds strammen Reitern am Budapester Heldenplatz gesellten sich jüngst auch weitere zentralasiatische Spuren ins Stadtbild. 2013 wurde im angrenzenden Stadtwäldchen eine Straße in „Astana-Straße“ benannt. Und im Sommer 2014 weihte eine Delegation aus Kasachstan eine Büste des Dichters Abai Qunanbajuly ein. Das vier Meter hohe Denkmal, so wird der ehemalige Vize-Bürgermeister Miklós Csomós (Fidesz) zitiert, sei als „Geschenk des kasachischen Volkes“ und Zeichen der „ausgezeichneten ungarisch-kasachischen Beziehungen“ gemeint.
Alina Kozhakhmetova
Redakteurin für Novastan.org, Kasachstan
Daniela Neubacher
Antje Lehmann
Korrekteurinnen für Novastan.org