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Mit Behinderung auf der Bühne

„Fünf, sechs, sieben. Erhebt euch. Atmet tief in den Brustkorb und konzentriert euch.“ Mit diesen Worten beginnt jede Probe des Theaters Lizo in Taschkent (Usbekistan).

dana Luisa Podsadny 

Lizo Usbekistan
Lizo Usbekistan

„Fünf, sechs, sieben. Erhebt euch. Atmet tief in den Brustkorb und konzentriert euch.“ Mit diesen Worten beginnt jede Probe des Theaters Lizo in Taschkent (Usbekistan).

Oksana, blind, kommt in einem Postauto an und betritt den Raum mithilfe eines Langstocks. Eine Tür öffnet sich und langsame, entspannende Musik ist zu hören. 15 Personen liegen dort auf dem gefliesten Fußboden, machen eine Übung nach der anderen. „Ihr seid Raketen, große Raketen“, sagt Liliya Pavlovna Sevastyanova dabei zu ihren Schauspielern. Liliya, eine zierliche und fragile Frau von 55 Jahren, ist Gründerin und Direktion des Theaters. Und es ist kein Theater wie jedes andere. Es ist das erste Theater Zentralasiens, das Menschen mit Behinderungen integriert.

Lizo Usbekistan

1982 gegründet, bestand es als Theater für modernen Tanz bis 2000. Doch für Liliya Pavlovna blieben in dieser Zeit bestimmte Fragen unbeantwortet. Vor allem eine Erinnerung ging ihr dabei immer wieder durch den Kopf. Sie war fünf oder sechs Jahre alt und ider Großvater ihrer damals besten Freundin war körperlich behindert. Er hatte seine Beine im Krieg verloren. Seitdem verließ er das Bett nicht mehr, war immobil, inaktiv, sozusagen erstarrt.

„Wir haben seinen Anblick gemieden und wussten nicht, wie wir mit ihm umgehen sollten“, erzählt Liliya nach der Probe. „Außer Verwirrung hat er bei mir nichts ausgelöst. Er war vollkommen allein und schrie immer irgendetwas. Er wollte Zigaretten, aber die Ärzte hatten ihm verboten, zu rauchen. Mir war klar, dass diese Situation in gewisser Weise ungerecht war. Ich wusste, dass es in meiner Stadt Menschen mit Behinderung gab, aber so was blieb verborgen, in Dunkelheit und Trostlosigkeit.“ Eine in Zentralasien, wo Menschen mit Behinderung meist unsichtbar bleiben, oft geteilte Erfahrung.

Ein Theater, fast wie jedes andere

Das Lizo hat keine eigenen Räume für die Aufführungen seiner Stücke. Sie finden deshalb im Russischen Dramatischen Theater oder im Theater der Jugend, Ilkhom, statt. Bis vor kurzem musste es sogar noch Miete für einen Proberaum zahlen. Mittlerweile hat sich das geändert und es wurden barrierefreie Räume gefunden.

Theater Lizo

Heute beginnen hinter den Kulissen die Proben für ein neues Stück, welches „Das eingebildete Porträt“ heißen wird. Liliya fordert die Schauspieler dazu auf, über das Thema Liebe nachzudenken. Auf ihren Reflexionen und Improvisationen soll das Stück basieren. In der Zwischenzeit hält die Direktorin die einzigartigen Erfahrungen der Lizäer – wie sie sich nennen – in ein paar Bildern fest.

„Die Liebe umfasst alles, sie leidet, erduldet und vergibt. Und erstrebt dabei nichts für sich selbst“, zitiert Liliya das Evangelium. „Yurochka, sieh in dich hinein, nicht zu deiner Seite, denn in dir existiert etwas sehr spannendes – deine Seele.“ Yurochka gibt sein bestes. Er hat das Downsyndrom.

Hier arbeitet jeder auf seine Weise. Liliya lobt den einen, tadelt den anderen. Das hat seinen Grund. Sie glaubt, dass Bewegungen nicht erfunden, sondern geboren werden. „Wenn jemand vor der Aufführung ausfällt, können wir ihn nicht ersetzen. Denn wir simulieren das nicht. Wir spielen niemanden, sondern improvisieren jedes Mal.“

Theater Lizo Usbekistan

Neben ungefähr 40 Schauspielern mit Behinderung helfen um die 20 Freiwillige bei der Umsetzung der Stücke: sie kümmern sich um die Requisiten, heißen das Publikum willkommen und assistieren den Schauspielern. Shaknoza Babasadykova bereitet die Kostüme für den Tag der Aufführung vor. „Ich gestehe, ich weine. Ich weine jedes Mal. Es ist schwer zu erklären, dass man Leute wie mich nicht leicht zum Weinen bringt.“

Alexandra Plotnikova hat Erb-Rott-Muskeldystrophie, eine Muskelerkrankung, und ist seit sieben Jahren beim Theater. „Ich bin zum Theater gegangen, um an meiner Kondition zu arbeiten und habe gelernt, zu fliegen. Dank unseres Trainings spüre ich meinen Körper besser – ich habe ihn erst richtig kennen gelernt. Mehr als einmal habe ich die Behauptung einiger Ärzte widerlegt, die meinten, man könne meinen Zustand nicht verbessern.“

Alexandra studiert an einer Niederlassung der Moskau Staatlichen Universität in Taschkent. Sie wird Psychologin. Ihre Freundin und Klassenkameradin, Shaknoza Babasdykova, gesteht, dass sie sich nicht mehr daran erinnern kann, wie Alexandra früher war. „Ich erinnere mich an das letzte Mal, dass wir Sashka angezogen haben: Während meine Freundin sie ausgezogen hat, habe ich ihre Schuhe mit Baumwolle gefüllt, da sie ihr zu groß sind. Das ist immer lustig. Sashka [Alexandra] ist wie eine Puppe, sie kann sich nicht bewegen und wenn wir sie loslassen, fällt sie. Die Kulissen sind sehr eng, wirklich schmal, und dort sollte man dann die Perücken wechseln – aber dann verliert jemand seinen Hut… Das kostet uns eine Menge Energie.“

Barrierefreie Gebäude sind in Zentralasien selten

Liliya fährt fort, die Geschichte der Geburt des Theaters zu erzählen. In den 1990ern kam sie das erste Mal nach Frankreich. Sie saß auf einer Bank und sah eine Gruppe von Personen vorbeigehen, die an zerebraler Kinderlähmung litten. „Der letzte in der Gruppe blieb stehen, kam zu mir und fing an, mit mir zu sprechen. Ich wusste nicht, wie ich mit ihm kommunizieren sollte.“

Theater Lizo Usbekistan

In Zentralasien sind Behinderungen noch immer eine sensible Frage, die kaum diskutiert wird. Die Menschenrechtsberichte für Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan gehen davon aus, dass 2011 mehre tausend Kinder aufgrund einer körperlichen Behinderung nicht eingeschult wurden. Einige Initiativen gibt es, wie der Laden „KoldoShop“ in Bischkek, in dem auch Produkte verkauft werden, die speziell für Menschen mit Behinderung hergestellt wurden. Und vor kurzem wurde, ebenfalls in Bischkek, ein Spielplatz für Kinder mit physischen Beeinträchtigungen eröffnet . Doch dies sind eher Einzelfälle, als die Regel. Seitens des Staates besteht durchaus der Wille, etwas an der Situation zu ändern: es bestehen bereits einige Gesetze, die Menschen mit Behinderung sozialen Schutz gewähren. Doch diese müssen auch umgesetzt werden. Für die Angehörigen bleiben Kinder mit Behinderung eine Bürde, derer sich viele schämen, solange sich die Mentalität in der Gesellschaft nicht ändert.

Theater Lizo Usbekistan

Nachdem sie ihnen den Weg von der Entfremdung zur Liebe gezeigt hat, versucht Liliya den Leuten beizubringen, eine Person nicht mit ihrem Körper gleichzusetzen. Der Zuschauer geht diesen Weg, der für sie so lang war, innerhalb weniger Stunden einer Aufführung. „Ich konzentriere mich sehr oft auf mich selbst, mein Leben und meine Probleme“, gibt Ruslan Ergashev zu, Schauspieler des Lizo wie auch des Ilkhom. „Dies hier ist eine kleine Insel: du kommst und verstehst, dass andere es schwerer haben als du. Und dass sie trotzdem die Kraft haben, zu kommen und ihre Arbeit zu machen.“

Dana Oparina

Aus dem Französichen übersetzt von Luisa Podsadny

 

 

 

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