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“Erinnere dich immer daran, woher du kommst” – Vom Studium in Deutschland und Barrieren im Kopf

Unsere Autorin ist zum Studium aus Usbekistan nach Deutschland gekommen und schreibt über Barrieren bei ihrer Integration in eine „freie, liberale und tolerante“ Gesellschaftsordnung. Es geht um veränderte Beziehungen mit den Eltern und darum, wie sie über die anfängliche Phase der Integration hinweggekommen ist.

Die Redaktion 

Zwischen der Heimat und der neuen Umgebung

Unsere Autorin ist zum Studium aus Usbekistan nach Deutschland gekommen und schreibt über Barrieren bei ihrer Integration in eine „freie, liberale und tolerante“ Gesellschaftsordnung. Es geht um veränderte Beziehungen mit den Eltern und darum, wie sie über die anfängliche Phase der Integration hinweggekommen ist.

Laut dem Central Asia Migration Tracker sind 2019 circa 2.900 Studierende aus Usbekistan in die Europäische Union gekommen, davon ein bedeutender Teil nach Deutschland. Nicht nur hohe Bildungsqualität und bessere Lebensbedingungen, sondern auch eine tolerante und demokratische Gesellschaftsordnung machen Deutschland zu einem gefragten Zielland. Trotzdem werden junge Studenten und Studentinnen dort mit sozialen Integrationsproblemen konfrontiert, die sie meistens allein lösen müssen.

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Ich komme aus der Stadt Samarkand, im Südosten Usbekistans. Dort habe ich eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht besucht und viel Erfahrung durch die Begegnung mit deutschen Freiwilligen und Lehrern gesammelt. In meinem Abschlussjahr habe ich ein Vollstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) bekommen, um an der Freien Universität (FU) Berlin Publizistik- und Kommunikationswissenschaften zu studieren. Seit Oktober 2020 wohne ich nun in Berlin und besuche erstmal das Studienkolleg der FU. Die Integrationsprozesse haben mich persönlich und meine Freunde, mit denen ich zusammen nach Deutschland gezogen bin, beeinflusst.

In der usbekischen Schule gibt es ab der 7. Klasse ein neues Fach namens „Idee der nationalen Unabhängigkeit und Grundlagen der Geistlichkeit“. Ziel des Unterrichts ist es, Schülern und Schülerinnen ein Gefühl des Patriotismus zu vermitteln und sie in einem nationalen, usbekischen Geist zu erziehen. Am Anfang einer Ausgabe des entsprechenden Lehrbuchs wird der erste Präsident Usbekistans Islom Karimov (1991-2016) zitiert: „Die Idee der nationalen Unabhängigkeit, die die kollektiven Interessen der Nation zum Ausdruck bringt, sollte zu einem unzerstörbaren Bollwerk zum Schutz der nationalen Unabhängigkeit, der nationalen Kultur und der Spiritualität des Volkes werden. Sie wird als starker Anreiz für die Offenlegung der Persönlichkeit jedem helfen, seine Fähigkeiten und Talente zu zeigen, um ein modernes Weltbild zu bilden“.

Der Druck, sich „usbekisch“ zu verhalten

Trotz der Aussage, die nationale Idee diene der Persönlichkeitsbildung junger Leute, habe ich das immer mit bestimmten Beschränkungen in Verbindung gebracht. Tatsächlich lässt die Verbindung von Identität und nationaler Ideologie keine freien und unabhängigen Gedanken zu. Das Lehrbuch besagt, es sei sehr wichtig, die usbekische Mentalität, nationale Sitten und Bräuche immer im Auge zu behalten. Durch die Werte, die das Fach vermittelte, bildete sich in meinem Kopf ein „richtiges“ und „usbekisches“ Verhaltensmodell. Ich sah es kritisch, und dennoch habe ich mich seltsam gefühlt, als ich für Usbekistan untypische Entscheidungen getroffen habe. Wie zum Beispiel als minderjährige Frau in das „freie“ und „offene“ Europa zu ziehen.

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Als ich in der 8. oder 9. Klasse war, wurde meine Gruppe völlig unerwartet zu einer Versammlung in die Aula gerufen. Es waren alle Schüler aus der Mittel- und Oberstufe dabei. Bei der Versammlung zeigten uns Beamte aus den lokalen Bildungsbehörden, wie die Jugend in Europa aussieht: Shorts, kurze Röcke und gefärbte Haare stellten sie usbekischen Nationaltrachten gegenüber. Außerdem redeten sie über das notwendige Verhalten von Jungen und Mädchen in der Gesellschaft. Erstere sollen sich „männlich“ verhalten und dementsprechend aussehen, weil sie später zum „Haupt“ der Familie und zum Vorbild für ihre Söhne werden. Mädchen sollen schüchtern, ruhig und tugendhaft sein und auch ihre Kinder später nach diesen Prinzipien erziehen. Laut den Seminarleitern sei es falsch, den Europäern nachzuahmen, denn „sie ziehen doch keine usbekische Nationaltracht an, warum sollten denn wir uns wie sie kleiden?“

Das ist nicht der einzige Punkt: Als usbekische Jugend tragen wir die Verantwortung für die nächsten Generationen und müssten laut dem usbekischen „Ma‘naviyat“ handeln und unsere „O‘zbekchilik“ nicht vergessen. Das Wort „O‘zbekchilik“, in etwas „Usbekischhaftigkeit“ umfasst Sitten und Bräuche, die die usbekische Lebensart charakterisieren. Und „Ma‘naviyat“ ist ein Modell des „richtigen, tugendhaften und ordentlichen“ Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft. Es bildet den Kern der Erwartungen und wird auch auf der Mikroebene der Familie übertragen.

Eine Bekannte meiner Oma erzählte ihr einmal, dass ihre Enkelin sich nach ihrem Umzug nach Europa komplett verändert hätte. Sie habe angefangen zu rauchen, Alkohol zu trinken und habe Piercings in der Nase. Dazu bemerkte die Freundin meiner Oma,  dass man Mädchen nicht nach Europa ziehen lassen darf, weil sie sich dann so verändern, dass man „sie nicht mehr erkennen kann“. Es gibt selbst ein Vorurteil, dass die Mädchen, die in Europa studiert haben, bestimmt keine Jungfrauen mehr sind und sozusagen „nicht mehr gebraucht werden“. Auch ohne Drogen- und Alkoholkonsum wird man von manchen Menschen in Usbekistan verurteilt, wenn man in Europa wohnt.

Als Frau habe ich oft in Usbekistan gehört, dass ich meine Meinung nicht so oft äußern soll und unterwürfig sein muss. „Das ist hier nicht Europa, vergiss bitte nicht, wer du bist“, sagte mir einmal eine Lehrerin, als ich meinte, homosexuelle Beziehungen und Ehen seien absolut normale Ehen und sollten respektiert werden. Sie antwortete, dass homosexuelle Menschen krank seien und man sie behandeln lassen solle. Als ich etwas Auffälliges an meinem Aussehen hatte, zum Beispiel lose Haare oder Ringe an den Fingern, gab es immer Konflikte mit Lehrern: Auch in den Schulvorschriften steht, dass Mädchen sich bescheiden benehmen und anziehen sollen. Aber Aussehen und Verhalten sind für mich zwei voneinander getrennte Konzepte: Wenn ein Mädchen sozusagen „bescheiden“ aussieht, heißt das nicht, dass sie sich dementsprechend benimmt. Ich habe bis heute Angst verurteilt zu werden, weil ich mich „anders“ anziehe. Wenn mich jemand auf der Straße komisch anschaut, denke ich immer noch, dass es bestimmt etwas mit meinem „falschen“ Aussehen zu tun hat. Diese Erfahrung der ständigen Beurteilung von Frauen, die ich aus Usbekistan mitgekriegt habe, bildet Barrieren in meinem Kopf und schaden sehr meiner mentalen Stabilität.

Der Druck sich anzupassen

Solche Barrieren äußern sich zum Beispiel in meiner Sozialisation in Deutschland. Im studentischen sozialen Umfeld sind meistens ganz offene, freimütige und politisch aktive junge Leute. Aus meiner Sicht entsteht die implizite Erwartung an Studenten aus dem Ausland, dass sie sich in diesem „freien“ Umfeld ähnlich verhalten sollen, um „angenommen“ zu werden. Mehrere Diskussionsthemen schienen mir zu Beginn nach meiner Ankunft in Deutschland beschämend. So ist das Thema Sex in etwa ein Tabu, wozu es in Usbekistan keine Aufklärung sowohl in den Schulen als auch in den Familien gibt.

Ähnliches beschäftigt auch meine Bekannte Madina, die ebenfalls vor kurzem zum Studium aus Usbekistan nach Deutschland gekommen ist: „In der Praxis ist es schwierig seine eigenen Grenzen zu überschreiten, weil man sein ganzes Leben nur eine Meinung über Sex gehört hat. Aber mit Laufe der Zeit gewöhnt man sich daran, über alles Mögliche zu sprechen und seine Weltanschauung zu erweitern und es scheint nicht mehr ‚komisch‘“, meint sie.

Auch „Partykultur“ als ein wichtiger Teil der Jugendkultur war für mich in Usbekistan kaum verfügbar, weil meine Eltern es mir nicht erlaubten. Da es aber in Deutschland ein untrennbarer Teil des „normalen“ Lebens ist, muss man daran teilnehmen, um neuen Menschen kennenzulernen und sich in der Studentenschaft zu integrieren. Im Wohnheim unter Pandemiebedingungen hieß das kleine wöchentliche Küchentreffen, bei denen wir kochen und feiern, aber auch über verschiedene politische Themen sprechen. Am Anfang hatte ich Angst davor, dass meine Eltern von mir enttäuscht werden, falls sie über solche „Partys“ erfahren. Als ich meiner Mutter darüber erzählte, ist nichts Schlimmes passiert, was mich sehr überrascht, aber auch gefreut hat. Ich glaube man kann es damit erklären, dass sie sich schon daran gewöhnt hat, sich mich in einem anderen Land vorzustellen. Ab dem Zeitpunkt haben meine Eltern auch begonnen, mich und meine Interessen zu respektieren und mir mit einem gewissen Verständnis gegenüberzutreten.

Familienbeziehungen

Da ich früher den größten Teil meines Lebens mit meiner Familie verbracht habe, war tägliche Kontrolle ihrerseits etwas Gewöhnliches für mich. Erst als ich umgezogen bin, habe ich gemerkt, dass eine solche Kontrolle meine persönlichen Grenzen verletzt, als meine Familie allzu oft nach meinem Standort und meiner sozialen Umgebung gefragt haben. Obwohl ich es früher auch verstanden habe, schien es mir „normal“ zu sein und ich habe dieser Kontrolle nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt.

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Wir halten Kontakt durch soziale Netzwerke, so wird die Kontrolle und der Druck heute nur auf diesem Weg ausgeübt. „Einmal hat meine Mutter mir geschrieben, dass ich ein Profilbild bei Telegram löschen soll, wo eine animierte Heldin im BH stand. Sie meinte, es sei zu auffällig und vulgär. Ich glaube, sie war nicht wegen dem Bild an sich besorgt, sondern wegen dem Gedanken an andere Verwandte, die das sehen könnten. Sie könnten ja denken, dass ich irgendwie ‚leichtsinnig‘ bin“, meint auch Madina.

In Usbekistan ist es sehr wichtig, welchen Eindruck andere Menschen von einem haben. Wenn ein Mädchen verheiratet werden muss, wird etwa von der Seite des Verlobten geprüft, welchen Ruf sie unter den Nachbarn hat. „Ich habe immer noch Angst davor, Bilder mit Bier, Zigaretten oder von Partys zu posten, weil meine Eltern denken würden, dass ich eine Alkoholikerin bin oder so etwas und von mir enttäuscht wären. Dann kriege ich Nachrichten von meiner Mutter und es kann zu einem Streit führen“, meint Madina.

Auch meine Mutter sagte mir mal so etwas wie „Du musst dich immer daran erinnern, wo du herkommst“. Das übt einen sehr starken negativen Druck aus auf uns als selbständige Menschen, die nicht mehr mit den Eltern wohnen. Dadurch kann man einerseits „verklemmter“ werden, aber auch „selbstbewusster, wenn man dagegen kämpft und seine eigene Position verteidigt“, meint Madina gerne.

Im Ganzen war dieses erste Jahr in Deutschland ein großer Schritt für mich, um mich selbst mit meiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen und um meine eigenen Stärken und Schwächen zu bestimmen. Diese kurze Zeit hat mich gelehrt, wie ich meine Erfahrung in meiner Selbstidentifikation besser einbringen kann.

Eine wichtige Erkenntnis, zu der ich innerhalb dieser kurzen Zeit in Deutschland gelangt bin ist, dass ich mich für meine Rechte und für die anderer Frauen einsetzen kann. Am 8. März 2021 gab es in Berlin einen großen feministischen Protest, bei dem sich Frauen und Männer für mehr Geschlechtergleichheit versammelten. Laut rbb24.de protestierten circa 10.000 Menschen berlinweit und auch ich war dabei. Es war ein starkes Erlebnis für mich, dass so viele Menschen für ein gemeinsames Ziel zusammenkommen, also für die Gerechtigkeit und das friedliche Zusammenleben der beiden Geschlechter. Für mich bedeutet aber Aktivismus nicht nur aktive Teilnahme an Protesten, was in Usbekistan überhaupt verboten wäre, sondern auch ehrliche und offene Diskussionen, und Informationen auch mit anderen Menschen zu teilen.

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Ich bin offener geworden und auch selbstbewusster, da ich all meine Probleme allein lösen musste, neue Kontakte geknüpft habe und viele neue Ereignisse durch mich fließen gelassen habe“, beschreibt auch Madina ihren bisherigen Aufenthalt in Deutschland. Je länger man außerhalb des Heimatlandes wohnt, desto mehr distanziert man sich vom nationalen und wird sozusagen „transnational“. Genau ab diesem Wendepunkt stürzten die Barrieren in meinem Kopf zusammen.

Solche Konzepte wie Meinungs-und Pressefreiheit, aktives politisches Leben und Geschlechtergleichheit sind nicht mehr etwas „Europäisches“ für mich, sondern sind genau das, was uns als selbständige Persönlichkeiten ausmacht. „Das heißt aber nicht, dass ich die usbekische Kultur vergessen habe oder sie nicht respektiere.Ganz im Gegenteil, vermisse ich sie immer mehr als ein wichtiger Teil meines Lebens“, ergänzt Madina. Aber unsere „O‘zbekchilik“ und unsere Mentalität sollte nicht die allseitige Entwicklung der Jugend und dadurch auch des Landes beeinträchtigen.

Lola*
Journalistin für Novastan.org

Redaktion: Florian Coppenrath

*Ein Pseudonym

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Kommentieren (1)

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Wedelstaedt, 2021-04-26

Guten Morgen,

vielen Dank für die interessanten Eindrücke „von der anderen Seite aus“.

Ich denke, dass viele, die von „Ausländern Integration“ in Deutschland verlangen, sich darüber klar sein müssen, dass jeder unterschiedlich sozialisiert ist.

Ich habe in meinem Unterricht viel mit Menschen aus anderen Kulturen zu tun (ich bin in der Erwachsenenbildung) tätig – und bekomme dort hautnah mit, wenn Ansichten aufeinanderprallen.

Mfg aus Köln

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