NACHHALTIGES ZENTRALASIEN. Ainur Sospanova von der Qazaq Green Association spricht über erneuerbare Energien in einem Land, dessen Wirtschaft lange fast ausschließlich auf die Öl- und Erdgasindustrie setzte.
Kasachstan war das erste Land in Zentralasien, das erneuerbare Energiequellen entwickelte. Seitdem sind mehr als zehn Jahre vergangen. Welche Errungenschaften Kasachstans in Bezug auf die Entwicklung erneuerbarer Energien in diesen Jahren würden Sie als besonders wichtig bezeichnen?
Als wichtigste Errungenschaft betrachte ich die Verabschiedung des Gesetzes „Über die Unterstützung der Nutzung erneuerbarer Energiequellen“ im Jahr 2009, das die Grundlage für die Entwicklung der erneuerbaren Energien gelegt und den Sektor grundlegend verändert hat. Damals gab es weder ein Verständnis für die wirtschaftlichen Aspekte des Modells noch der Auswirkungen auf Energie und Umwelt. Heute haben wir ein Gesetz über erneuerbare Energien, Verträge und ein System für den Kauf und Verkauf von Strom, einen einzigen Abnehmer und vor allem Tarife, zu denen Strom aus erneuerbaren Energien gekauft wird. Diese werden jährlich indexiert, was für Investierende sehr wichtig ist. Mit anderen Worten, es gibt ein System, das von den großen Finanzinstituten wie auch von den Investierenden akzeptiert wird.
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Auch für mich persönlich als Expertin ist der Einstieg von Ölgesellschaften in den EE-Sektor in Kasachstan ein Erfolg. In den Jahren 2013 und 2014 gab es kein Interesse an erneuerbaren Energien. Heute konzentrieren sich alle großen Öl- und Gasunternehmen in Kasachstan, darunter NCOC, KazMunayGaz, Total, Eni und Chevron, auf die Umsetzung einer kohlenstoffarmen Strategie. Einige haben bereits Portfolios mit erfolgreich umgesetzten Projekten – zum Beispiel Eni und Total. Andere schmieden Pläne für die Zukunft. Das ist ein großer Schritt.
Vor welchen Herausforderungen steht Kasachstan derzeit in der weiteren Entwicklung erneuerbarer Energien und der Dekarbonisierung der Wirtschaft im Allgemeinen?
Als die Strategie zur Erreichung der Kohlenstoffneutralität bis 2060 entwickelt wurde, war ich als Expertin Teil der Arbeitsgruppe. Natürlich ist die Tatsache, dass es ein solches Dokument gibt, bereits ein großer Erfolg für Kasachstan. Doch leider enthält das verabschiedete Dokument keine Indikatoren. Meiner Meinung nach muss die Strategie für jeden der Sektoren verfeinert und Wege zur Dekarbonisierung der Wirtschaft gefunden werden.
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Einer der wirksamen Mechanismen ist, die direkte Verbrennung von Kohlenwasserstoffen in der Industrie zu reduzieren und die Prozesse wo möglich zu elektrifizieren. Und natürlich sind neue Technologien wichtig – wie CCUs, die Wasserstoff als alternativen Kraftstoff nutzen. Aber ich würde sagen, dass die Wirtschaftlichkeit der grünen Wasserstoffproduktion in Kasachstan noch unklar ist. Dies gilt etwa für die Verfügbarkeit von Wasser für die Elektrolyse.
Die kommenden Jahrzehnte in Kasachstan werden von großen Veränderungen im Energiesektor geprägt sein, ob wir das wollen oder nicht. Nicht nur die Technologie wird sich ändern, sondern auch der Markt. Der Ausgleichsstrommarkt, der in Kasachstan am 1. Juli 2023 eingeführt wurde, wird sich auf die Strominfrastruktur auswirken, insbesondere im Hinblick auf den wachsenden Anteil der erneuerbaren Energien. Ja, die Verbrauchertarife werden unweigerlich steigen, aber es ist unmöglich, die Tarife ständig unter Kontrolle zu halten, ohne die bestehende Infrastruktur zu modernisieren. Wenn sich das Energiesystem Kasachstans entwickeln und an die neuen Herausforderungen anpassen soll, führt an einer Erhöhung der Verbrauchertarife kein Weg vorbei.
Sie stehen am Anfang der Entwicklung der erneuerbaren Energien in Kasachstan. Welche Faktoren können Ihrer Meinung nach dazu beitragen, die Unterstützung für die Energiewende sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch im Energiesektor zu stärken? Können Sie Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung nennen?
Ich arbeite seit 2009 im Bereich der erneuerbaren Energien. Meiner Meinung nach hat sich die Einstellung gegenüber erneuerbaren Energien und der Energiewende in den letzten 14 Jahren deutlich verbessert. Früher haben die Entscheidungstragenden die Bedeutung der erneuerbaren Energiequellen nicht verstanden und waren manchmal sogar gegen ihre Entwicklung. Heute gibt es viele öffentliche Vereinigungen, die sich für eine grüne Zukunft einsetzen. Studierende und Schulkinder sind sich des Klimawandels bereits bewusst und fördern diese Ideen in ihren Familien. Es ist klar, dass das vor allem in den Großstädten ein Thema ist. Aber ich denke, dass die Menschen in ländlichen Gebieten, wo Anlagen für erneuerbare Energien entwickelt werden, konkrete Vorteile für sich selbst sehen. Das öffentliche Bewusstsein ändert sich also allmählich, und dieser Prozess wird sich noch verstärken – vielleicht nicht so rasch wie in Europa, aber trotzdem.
Der zweite Punkt ist die Neuausrichtung des Fachwissens. Ich denke, dass Berufe im Zusammenhang mit Kohlenwasserstoffen weniger werden, da sich immer mehr Menschen für nachhaltige, „grüne“ Berufe entscheiden werden. Es gibt bereits positive Entwicklungen. In Aktau wird etwa gemeinsam mit Deutschland eine technische Universität eröffnet. Die Öluniversität in Atyrau, die traditionell Ölfachleute ausbildete, bietet nun Masterstudiengänge für nachhaltige Entwicklung an. Universitäten, die sich bisher mit reiner Energietechnik befasst haben, wie die Universität für Energietechnik und Kommunikation in Almaty, die Eurasische Nationale Universität und die Agraruniversität, bilden jetzt Personal für den Bereich erneuerbare Energien aus. Wir sehen eine allmähliche Umorientierung hin zu grünen Berufen. Es ist auch wichtig, dass sowohl kleine und mittelständische Unternehmen und Haushalte Zugang zu Wissen über die Nutzung erneuerbarer Energien für ihren Bedarf haben. Solche Kurse sind im Entstehen. Unser Verband hat kürzlich die Qazaq Green RES-Schule eröffnet. Wir haben bereits die ersten Kurse durchgeführt und sehen Interesse an dem Thema.
Es ist auch wichtig zu bedenken, dass in Kasachstan die Trends von oben gesetzt werden. Unser Präsident (Qasym-Jomart Toqaev, Anm. d. Red.) unterstützt die grüne Agenda, weshalb sich die Einstellung von Akims, Ministern und anderen Entscheidungstragenden allmählich ändert. Das System zur Förderung erneuerbarer Energien wird verbessert, woran unser Qazaq-Verband große Verdienste trägt.
Sie haben kürzlich an der Studienreise nach Deutschland zum Thema Living Labs für die Energiewende teilgenommen. Wie groß ist Ihrer Meinung nach dessen Potenzial für die Beschleunigung der Energiewende in Kasachstan und in der gesamten zentralasiatischen Region?
Es ist eine sehr effektive Maßnahme, um den umfassenden deutschen Ansatz zur Energiewende zu demonstrieren. Ich habe den Eindruck, dass sich das ganze Land auf die Energiewende vorbereitet, von Handwerksberufen – Elektrikerinnen, Installateure – bis hin zu den Bundesministerien. Alle begreifen, dass die Energiewende unausweichlich ist und bei allen Aspekten der Arbeit berücksichtigt werden muss.
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In unserem Fall müssen wir jedoch diejenigen Berufe schulen, um geeignete Technologien für den Klimawandel nutzen zu können. Ihr Dienstleistungsangebot sollte auch wasser- und energiesparende Technologien umfassen. Wenn unsere Technikleute anfangen umzudenken, werden wir auch Veränderungen auf der Ebene der Haushalte, einzelner Unternehmen und Gemeinden beobachten. Das haben wir in den Living Labs in Deutschland gezeigt. Es ist sehr wichtig, eine gemeinsame Sprache zu finden, nicht nur mit Fachleuten, sondern auch mit normalen Menschen, die daran interessiert sind, weniger für Tarife auszugeben. Wir müssen mit ihnen in einer Sprache sprechen, die sie verstehen, und ihnen erklären, dass man mit teureren, grünen Technologien in Zukunft Geld und Ressourcen sparen kann. Ich glaube, dass der mehrstufige und systematische Ansatz, der uns in den Living Labs vorgestellt wurde, der Schlüssel dazu ist.
Dieses Interview ist im Rahmen einer Studienreise zentralasiatischer Expertinnen und Experten nach Deutschland im Juni 2023 entstanden. Die Studienreise zum Thema Reallabore der Nachhaltigkeit und Energiewende wurde von der Organisation SPCE Hub und der Intersectoral School of Governance Baden-Württemberg (ISoG BW) durchgeführt. Das Projekt wurde vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) mit Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert.
Das Interview führte Yana Zabanova
Aus dem Englischen von Michèle Häfliger
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