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Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen in Tadschikistan

Weltweit sind Frauen mit Behinderungen 1,5- bis 10-mal so häufig von physischer und sexualisierter Gewalt betroffen wie Frauen ohne Behinderungen. Zahlreiche Menschenrechte bleiben ihnen verwehrt, so ist der Zugang zu Bildung und medizinischer Grundversorgung stark erschwert.

Asia Plus 

Übersetzt von: Marie Schliesser

Original (30. November 2023)

Frauen in Tadschikistan erfahren in Gesellschaft und Familie Diskriminierung. Bild: Wikimedia Commons
Frauen in Tadschikistan erfahren in Gesellschaft und Familie Diskriminierung. Bild: Wikimedia Commons

Weltweit sind Frauen mit Behinderungen 1,5- bis 10-mal so häufig von physischer und sexualisierter Gewalt betroffen wie Frauen ohne Behinderungen. Zahlreiche Menschenrechte bleiben ihnen verwehrt, so ist der Zugang zu Bildung und medizinischer Grundversorgung stark erschwert.

Die Mehrheit der Frauen mit Behinderungen in Tadschikistan sieht sich von Geburt an Diskriminierung gegenüber, wenn ihre Familien die Entscheidung treffen, den Mädchen keine Bildung zukommen zu lassen, sondern sie daheim vor den Augen der Nachbar:innen zu verstecken. Diese Art von Bevormundung erfahren Frauen mit Behinderungen oft ihr ganzes Leben, häufig mit traurigem Ende.

Vor einigen Jahren besuchte Sitora Kurbonowa, Aktivistin und Leiterin der NGO „Safoi Konibodom“, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzt, für einen Ultraschall eine der Entbindungskliniken Duschanbe. Jedoch war es ihr nicht möglich, selbst hineinzukommen. Die marmorne Eingangsrampe war im falschen Winkel erbaut, sodass eine Nutzung im Rollstuhl nicht möglich war. Dies ist bei der Mehrheit öffentlicher Einrichtungen in Duschanbe der Fall. Sitora musste deshalb vier Männer um Hilfe bitten, die sie letztendlich ins Untersuchungszimmer trugen.

Als ich das medizinische Personal fragte, wie oft Frauen im Rollstuhl ihre Praxis besuchen, erfuhr ich, dass dies innerhalb von zwei Jahren nur einmal passiert war. Und das ist nicht verwunderlich, für Frauen mit Behinderungen sind die allermeisten Einrichtungen in unserem Land unzugänglich“, sagt Sitora.

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Fünf Jahre nach diesem Vorfall nahm sie an der Studie „Menschen mit Behinderungen: Barrieren für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ teil. Allerdings hatte sich in dieser Zeit die Situation wenig geändert. Menschen mit Behinderungen sind in Tadschikistan aus vielen wichtigen Teilen des sozialen Lebens ausgeschlossen. Dies betrifft zweifellos alle Menschen mit Behinderungen, sowohl Frauen als auch Männer. Frauen mit Behinderungen müssen allerdings nicht nur mit diesen allgemeinen, sondern auch mit genderspezifischen Problemen kämpfen. Beispielsweise bleiben ihnen häufig ihre sexuellen und reproduktiven Rechte verwehrt, sie werden Opfer von sexuellem Missbrauch oder Zwangssterilisation.

Nach Angaben der UN ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen mit Behinderungen von Familienmitgliedern oder Betreuer:innen körperlich oder sexuell missbraucht werden, 1,5- bis 10-mal höher als bei Frauen ohne Behinderungen. Darüber hinaus leben laut Statistik von UN Women 19,2 Prozent der Frauen mit einer Behinderung, also eine von fünf. Bei den Männern liegt die Quote mit 12 Prozent deutlich niedriger.

Frauen mit Behinderung sind von der frühesten Kindheit an einer mehrfachen Diskriminierung ausgesetzt. Zum einen aufgrund ihres Geschlechts, zum anderen aufgrund von körperlichen Aspekten. Gerade diese Gruppe ist am häufigsten von häuslicher Gewalt betroffen, hat keinen Zugang zu Bildung und grundlegenden Menschenrechten, wie reproduktiver und sexueller Gesundheit“, erzählt Saida Inojatowa, Leiterin der „Liga der Frauen mit Behinderungen Ischtirok“ (Anm. d. Red.: Ischtirok – Tadschikisch für „Teilhabe“).

Grundsätzlich andere Herangehensweise gegenüber Jungen mit Behinderungen

Sitora ist der Meinung, dass eine Frau mit Behinderung vor allem innerhalb der eigenen Familie diskriminiert wird: „Wenn die Angehörigen der Meinung sind, dass sich die Situation niemals ändern wird, dann hört die Familie auf, ihre Ressourcen und Energie für das Mädchen mit Behinderung aufzuwenden. Die Fürsorge für sie beschränkt sich lediglich auf Essen und Kleidung.“

Sie erhält keinen Zugang zu Bildung, und solange die Eltern am Leben sind, lebt sie in ihrem Haus. Nach dem Tod der Eltern wird eine Frau mit Behinderung meistens in eine spezielle Einrichtung gesteckt, in der sie unter traurigen Umständen bis ans Ende ihrer Tage lebt.

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Gegenüber Jungen mit Behinderungen ist die Herangehensweise eine andere: die Familie gibt sich Mühe, ihm einen Beruf beizubringen und einen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Für einen jungen Mann mit Behinderung wird immer versucht, eine Braut zu finden.

Dabei kann die Braut auch eine junge Frau ohne Behinderung sein, aber beispielsweise aus einer armen Familie. Und dann liegt die Sorge um den Ehemann auf ihren Schultern“, so Sitora.

Weltweite Statistiken bestätigen Sitoras Ausführungen: laut Daten der UN liegt die Beschäftigungsquote von Frauen mit Behinderung bei lediglich 19,6 Prozent, während sie sich bei Männern mit Behinderung auf 52,8 Prozent beläuft. Dieses Gefälle in der Beschäftigung zwischen Männern und Frauen wird unter anderem durch mangelnde schulische und Berufsausbildung bedingt. Darüber hinaus wirkt sich die langjährige Diskriminierungserfahrung negativ auf das Selbstbewusstsein von Frauen mit Behinderungen aus.

Wir treffen tagtäglich Frauen mit Behinderungen, die keinerlei Übung darin haben, mit anderen Leuten zu kommunizieren, sich nicht selbst vorstellen können, die ein so geringes Selbstwertgefühl haben, dass sie sich nicht trauen, wichtige Entscheidungen in ihrem Leben zu treffen, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. All dies sind Folgen der Diskriminierung, der die Frauen über Jahre ausgesetzt sind“, sagt Saida.

Sie zählt grundlegende Dienstleistungen auf, zu denen Frauen mit Behinderungen keinen Zugang haben: neben medizinischen Einrichtungen auch Schönheitssalons oder Schutzräume für Überlebende häuslicher Gewalt.

Mangel an Aufklärung über Rechte

Sitora weist darauf, dass Zentren für reproduktive Gesundheit inzwischen Frauen mit Behinderungen die Möglichkeit bieten, Ärzt:innen zuhause anzurufen, um sich beraten zu lassen, wobei dieses Angebot bisher wenig genutzt wird. Der Expertin zufolge ist das mangelnde Interesse an Beratungsangebot der Zentren darauf zurückzuführen, dass Frauen mit Behinderungen nicht über ihre reproduktiven Rechte aufgeklärt sind.

In der Regel erlauben die Familien den Mädchen mit Behinderung den Besuch einer Gynäkologin nicht, weil sie der Meinung sind, dass eine Untersuchung durch eine solche Fachärztin für sie nicht nötig ist. Schließlich soll sie ja niemals Mutter werden…

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Bei einem der Trainings zu reproduktiven Rechten rief mich eine der Teilnehmerinnen zur Seite. Unter Tränen berichtete sie, dass ein junger Mann, der ihr sehr gefiel, ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, ihre Familie ihr aber eine Heirat nicht erlaube. Dies begründete die Familie damit, dass ihr Mann sie in jedem Fall aufgrund ihrer Behinderung verlassen werde, und sie dann zur Familie ihrer Eltern zurückkehre, womöglich sogar schon mit einem Kind. Darüber hinaus begleitet eine Frau mit Behinderung immer die Meinung, dass sie nur Kinder mit Behinderung gebären wird“, erzählt Sitora.

Unterschiedliche Forschungsergebnisse zeigen, dass Einsamkeit unter Frauen mit Behinderungen kein Einzelfall, sondern ein Trend ist. Beispielsweise führte International Alert im Jahr 2020 eine Analyse in Tadschikistan durch, der zufolge Frauen mit Behinderungen sehr viel häufiger alleinstehend sind als Männer. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen mit Behinderungen einen Mann ohne Behinderung heiraten, sehr viel geringer, während Männer mit Behinderungen häufig eine Ehefrau ohne Behinderung haben.

Redaktion von Asia-Plus

Aus dem Russischen von Marie Schliesser

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