Startseite      Sterben für „Mittal“ – Grubenunglück in Kasachstan fordert erneut Leben

Sterben für „Mittal“ – Grubenunglück in Kasachstan fordert erneut Leben

Bei einem Brand in einem Schacht sind in Kasachstan fünf Bergleute ums Leben gekommen. Nach wiederholten Unglücken in seinen Minen steht der indische Konzern „ArcelorMittal“ wegen nicht eingehaltener Sicherheitsvorschriften am Pranger. Selbst Präsident Toqaev drohte mit Konsequenzen. Fergana News zeichnet die Ereignisse nach.

Das Unternehmen ArcelorMittal steht wegen wiederholten Unfällen in der Kritik, Photo: Wikimedia Commons

Bei einem Brand in einem Schacht sind in Kasachstan fünf Bergleute ums Leben gekommen. Nach wiederholten Unglücken in seinen Minen steht der indische Konzern „ArcelorMittal“ wegen nicht eingehaltener Sicherheitsvorschriften am Pranger. Selbst Präsident Toqaev drohte mit Konsequenzen. Fergana News zeichnet die Ereignisse nach.

Am 17. August um 10:05 Uhr Ortszeit brach in der Mine „Kasachstanskaja“ in der Stadt Shahtinsk im Gebiet Qaraģandy ein Feuer aus, als mindestens 227 Bergleute unter Tage arbeiteten. 222 Personen wurden erfolgreich evakuiert. Von fünf Bergleuten konnten nur noch die Leichen geborgen werden.

Der Vorfall erregte den Zorn von Kasachstans Präsidenten Qasym-Jomart Toqaev, der dem Eigentümer der Anlage – „ArcelorMittal Temirtaý“ (AMT) – mit „Konsequenzen“ drohte. Das Staatsoberhaupt hob hervor, dass es in den Betrieben dieses ausländischen Unternehmens häufig zu Unfällen komme. Allerdings fühlt sich der Konzern des indischen Geschäftsmanns Lakshmi Mittal in Kasachstan wohl. Haben die Behörden nun nach dem jüngsten Zwischenfall die Geduld verloren?

Mittals Aufstieg in Kasachstan

Lakshmi Mittal, der 2008 den vierten Platz in der Forbes-Weltliste belegte und nun mit einem Vermögen von etwas mehr als 16 Milliarden US-Dollar unter den Top 200 der Liste steht, fing Mitte der 90er Jahre an, sich für die Wirtschaft Kasachstans zu interessieren. Die Expansion begann mit dem Kauf eines der größten Unternehmen des Landes – des „Karagandinsker Metallurgie-Kombinats“. Mittal kaufte es im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung und es ist nicht bekannt, wie viel ihn die Transaktion gekostet hat.

Für die Zweckmäßigkeit des Kaufs spricht jedoch die folgende Tatsache: Rahat Áliev, ehemaliger Schwiegersohn von Nursultan Nazarbaev, schrieb in seinen Memoiren, dass der indische Oligarch dem damaligen Präsidenten Kasachstans 50 Prozent der Aktien des Unternehmens und 50 Millionen US-Dollar zur Kontrolle gegeben habe. Natürlich wurden diese Informationen nicht offiziell bestätigt.

Danach übernahmen Mittal und sein Team praktisch die gesamte Industrie im Gebiet Qaraģandy. Laut der Website von „ArcelorMittal Temirtaý“ umfasst der Konzern heute Abteilungen für Stahl, Kohle und Eisenerz, denen Dutzende von Unternehmen und Niederlassungen zugeordnet sind, darunter zugehörige Einrichtungen wie Hotels, Freizeitzentren und eigene medizinische Einrichtungen.

Auf der Website von AMT heißt es außerdem, dass „das Unternehmen für die Einhaltung des Qualitätsmanagementsystems auf Basis von MS ISO 9001, des Umweltmanagements ISO 14001 und der Arbeitssicherheit OHSAS 18001 zertifiziert ist“. Aber gerade bei Letzterer gibt es immer wieder Probleme.

Schwere Grubenunglücke

Im September 2006 kam es in der Lenin-Mine in Shahtinsk zu einem Unfall. Damals starben 41 Menschen und sieben weitere wurden verletzt. Wie sich später herausstellte, waren technische Störungen und menschliche Faktoren die Unfallursache. Im Gebäude wurde der örtliche Lüftungsventilator wegen geplanter Wartungsarbeiten gestoppt, was dazu führte, dass der Gasgehalt in Teilen der Anlage die Norm überstieg. Die Ingenieure versorgten diesen Abschnitt jedoch nicht mit Strom. Das Gerät entzündete sich und es kam zu einer Explosion.

Auch eine Variante mit plötzlicher Methanfreisetzung wurde in Betracht gezogen, da diese Mine als eine der gefährlichsten in der Region gilt. So oder so erstattete die Polizei Anzeige wegen Verstoßes gegen Sicherheitsvorschriften, mehr als 20 Personen wurden angeklagt, darunter auch die Geschäftsführung des ausländischen Unternehmens. Aber keiner der Top-Manager wurde strafrechtlich verfolgt. Stattdessen wurden Mechaniker, Ingenieure und Schichtleiter bestraft – nur sechs Leute, von denen die meisten für zwei oder drei Jahre ins Gefängnis mussten.

Lest auch auf Novastan: Wie ausländische Investitionen die Entwicklung der Regionen Kasachstans erschweren

Im Januar 2008 kam es in der Mine „Abajskaja“ in der Stadt Abaı zu einer Explosion. Trotz der Tatsache, dass die Bergleute das Management vor dem hohen Gasgehalt gewarnt hatten, hatte niemand es eilig, dieses Problem zu lösen. Als 191 Bergleute unter Tage waren, ertönte ein lauter Knall. Bei der Tragödie kamen 30 Menschen ums Leben, weitere 14 wurden verletzt. Den Rettungskräften gelang es, die Leichen von sieben Opfern an die Oberfläche zu bringen, der Rest verbrannte spurlos in der kochenden Lava, die sich für sie in ein „Brudergrab“ verwandelte. Der Abschnitt der Mine wurde nach dem Zwischenfall hermetisch abgeriegelt.

„Ein Vertreter der Abteilung sagte, dass es unmöglich sei, in die Lava einzudringen und die Leichen zu bergen. Sie gingen den Weg des geringsten Widerstands: Die Jungs brannten nieder und alle Türen wurden geschlossen“, sagte Olga Kinal, Witwe eines der Opfer, über diese Entscheidung.

Bezüglich des Strafverfahrens hat die regionale Staatsanwaltschaft mehrere Bände zusammengetragen. Als Hauptgrund für die Explosion wurde ein technischer Verstoß genannt. Im Zuge der Ermittlungen wurden zwei für Arbeitssicherheit zuständige Beamte entlassen. Nach einiger Zeit wurde der Fall jedoch abgeschlossen. Die letzte Nachricht lautete, dass ATM allen Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen des Verstorbenen nachgekommen sei. Die Frage der Suche nach den Schuldigen stellte sich nicht.

Die Probleme dauern an

Wenn Sie denken, dass zwei schwere Unfälle „ArcelorMittal Temirtau“ gezwungen haben, die Einstellung zur Sicherheitstechnik zu überprüfen oder eine Prüfung anderer Industrieanlagen durchzuführen, irren Sie sich. Zwischenfälle mit Todesopfern dauerten an. Beispielsweise starben im Jahr 2021 sechs Bergleute ebenfalls in der Mine „Abajskaja“. Der Grund war eine plötzliche Freisetzung von Methan, die eine Explosion auslöste.

Und im vergangenen Jahr wurden gleich zwei Vorfälle gemeldet. Im Juni bestätigten die Behörden den Tod von fünf Mittal-Mitarbeitern innerhalb einer Woche. Erst stürzte im Metallurgie-Kombinat in Temirtaý während der Demontage des feuerfesten Mauerwerksofens das Dach der Schmiedewerkstatt ein. Unter den Trümmern befanden sich fünf Arbeiter, von denen nur einer überlebte. Einige Tage später starb eine Person an einem Kessel eines Heizkraftwerks, das ebenfalls zu AMT gehört.

Im November geriet wieder die Lenin-Mine in den Fokus der Öffentlichkeit, und zwar wiederum auf negative Weise. Bei Bohrungen kam es zu einer plötzlichen Gasfreisetzung. Fünf Bergleute starben, vier weitere wurden mit der Diagnose „Methanvergiftung“ ins Krankenhaus eingeliefert.

Lest auch auf Novastan: Kasachstans Industriestädte leiden unter außerordentlicher Luftverschmutzung

Und jetzt das Feuer in der Mine „Kasachstanskaja“. Der Tod von fünf Menschen wurde bestätigt. Weitere 13 Personen werden in Krankenhäusern medizinisch versorgt. In diesem Zusammenhang erklärte AMT-Generaldirektor Vladimir Yablonsky den 20. August zum Trauertag im Unternehmen. Später wurde berichtet, dass 672 Mitarbeiter aus „Kasachstanskaja“ in andere Objekte der Kohleabteilung von ArcelorMittal versetzt wurden.

Im Übrigen sind in „Kasachstanskaja“ allein im vergangenen Jahr 168 Verstöße aufgedeckt worden. Die Arbeit von drei Anlagen ist per Gerichtsbeschluss eingestellt worden. Wie das Ministerium für Katastrophenschutz jedoch klarstellte, hat der Eigentümer des Objekts die festgestellten Mängel nur teilweise behoben. Darüber hinaus erklärte das Ministerium, dass das Förderband, das Feuer fing und den Unfall verursachte, neu war – es wurde am Tag vor der Tragödie in Betrieb genommen.

Experten müssen nun herausfinden, ob bei der Installation des Geräts technische Fehler aufgetreten sind. Die Ermittler werden ihnen dabei helfen, da bereits ein Verfahren gemäß Artikel 277 Absatz 3 („Verstoß gegen Sicherheitsvorschriften bei Bergbau- oder Bauarbeiten“) des kasachstanischen Strafgesetzbuchs eröffnet wurde.

Nach offiziellen Angaben war das Gebiet Qaraģandy in den letzten 20 Jahren hinsichtlich der Zahl der am Arbeitsplatz getöteten Menschen führend im Land. Betrachtet man allein die letzten fünf Jahre, so kamen 2018 insgesamt 37 Personen ums Leben und auch in den folgenden Jahren lag dieser Wert mit 33 (2019), 36 (2020), 32 (2021) und 33 (2022) Toten nur unwesentlich darunter.

Im Jahr 2022 wurden in der Region weitere 460 Arbeiter gezählt, die bei Unfällen verletzt wurden. Was die Unternehmen betrifft, führen zwei Giganten, Qazaqmys und ArcelorMittal, diese traurige Statistik an. Betrachtet man AMT separat, dann ist auch das ein trauriger Ausblick. Laut dem kasachstanischen Nachrichtenportal Orda starben von 2004 bis 2022 insgesamt 137 Mitarbeiter in Unternehmen der Mittal-Gruppe.

Am Siedepunkt

Es scheint, dass die Situation mit Unfällen in den Anlagen von ArcelorMittal einen Siedepunkt erreicht hat. Präsident Toqaev drückt normalerweise sein Beileid gegenüber den Hinterbliebenen aus und beschränkt sich auf Standardanweisungen an Regierung und Gebietsverwaltung, in denen er fordert, die Ursachen zu ermitteln. Doch diesmal fand er härtere Worte.

„Anhaltende Unfälle in Unternehmen, die einer ausländischen Gruppe gehören, deuten auf einen schwerwiegenden Verstoß ihrerseits gegen Investitions- und sonstige Verpflichtungen hin, mit entsprechenden Konsequenzen für ihre weitere Präsenz auf dem kasachstanischen Markt“, heißt es in einer Meldung auf der Website der Präsidialverwaltung.

Gleichzeitig wies das Staatsoberhaupt die Regierung an, Gespräche mit Unternehmern über „strenge Sicherheit des Personals“ zu führen. Ministerpräsident Álihan Smaıylov forderte daraufhin, dass das Ministerium für Katastrophenschutz und das Umweltministerium umgehend Überprüfungen bei ArcelorMittal abschließen, um eine „angemessene Entscheidung“ zu treffen. Außerdem solle die Qualität der Arbeit der Kommission zur Untersuchung der Unfallursachen in der Mine „Kasachstanskaja“ sichergestellt und den Familien der verletzten Bergleute Hilfe geleistet werden.

Während Experten vor Ort arbeiten, scheint der Gewerkschaftsbund Kasachstans den Schuldigen bereits gefunden zu haben. „Die Tatsache, dass es in den Betrieben von ArcelorMittal Temirtaý immer wieder zu Tragödien kommt, die Menschenleben fordern, löst bei den Gewerkschaften große Besorgnis aus. Einer der Hauptgründe ist die Missachtung der Arbeitsschutzanforderungen durch den ausländischen Investor“, erklärte die Organisation.

Lest auch auf Novastan: Das ist Temirtau, Baby!

Der Verband äußerte Unverständnis darüber, warum sich die Untersuchung der vorangegangenen Vorfälle verzögerte und niemand aus der Unternehmensleitung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde. Darüber hinaus betont er, dass die Gesellschaft zu Recht die Frage nach der Zweckmäßigkeit eines Eigentümerwechsels von AMT aufwerfe – einem Unternehmen, das nicht versuche, die kasachstanischen Gesetze und Verpflichtungen einzuhalten.

Vertreter des Májilis (Unterhaus des Parlaments) sind kategorischer. Die Abgeordneten der Fraktion von Amanat Eerlan Saırov und Qudaıbergen Beksultanov meinen, dass die Tragödie eine direkte Folge des Zustands der Ausrüstung in den Kohlebergwerken sowie der gedankenlosen Reduzierung des Produktionspersonals sei. In dieser Hinsicht sollte das ausländische Top-Management von AMT zur Rechenschaft gezogen werden und nicht Ingenieure und Techniker.

„Trotz wiederholter Warnungen versucht Herr Mittal […] nicht einmal, Anstrengungen zu demonstrieren, um Unfälle, Verletzungen und Todesfälle unserer Mitbürger zu verhindern. Wir appellieren an die Regierung: Die Stunde der Abrechnung ist gekommen – […] es ist Zeit, sich von ihm zu verabschieden!“, erklärten die Parlamentarier.

Der Nettogewinn des gesamten transnationalen Konzerns Mittal belief sich im Jahr 2022 auf 9,3 Milliarden US-Dollar. Es ist nicht bekannt, wie hoch der Anteil der kasachstanischen Vermögenswerte ist, aber sicher ist, dass der indische Unternehmer in mehr als 20 Jahren nicht nur seine Investitionen amortisiert, sondern auch ein „solides Plus“ erzielt hat. Und es ist unwahrscheinlich, dass er AMT so einfach abgeben wird. Allerdings lässt die Stimmung der kasachstanischen Öffentlichkeit und insbesondere des politischen Establishments die Frage eines weiteren Verbleib Mittals in dem zentralasiatischen Land offen.

Fergana News

Aus dem Russischen von Robin Roth

Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen: Schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.

Kommentare

Your comment will be revised by the site if needed.