Startseite      Über das unsichtbare Erbe kirgisischer Opiumarbeiterinnen. Kunstausstellung in Karakol

Über das unsichtbare Erbe kirgisischer Opiumarbeiterinnen. Kunstausstellung in Karakol

Vom 9. November bis zum 9. Dezember 2025 war in Karakol eine Ausstellung zu sehen, die die Arbeit kirgisischer Frauen auf den Opiumfeldern beleuchtet. Während die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Frauen kaum dokumentiert wurden, sind die Folgen bis heute spürbar. Wir tauchen ein in eine Ausstellung zwischen Kunst und historischer Aufarbeitung.

Memories woven into the soil. Women’s work in the opium fields. Photo Universty of Central Asia

Vom 9. November bis zum 9. Dezember 2025 war in Karakol eine Ausstellung zu sehen, die die Arbeit kirgisischer Frauen auf den Opiumfeldern beleuchtet. Während die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Frauen kaum dokumentiert wurden, sind die Folgen bis heute spürbar. Wir tauchen ein in eine Ausstellung zwischen Kunst und historischer Aufarbeitung.

Im Heimatmuseum von Karakol, östlich des kirgisischen Issykköl-Sees, fand vom 31. Oktober bis zum 10. November 2025 die Künstlerinnenresidenz „Memories woven into the soil. Women’s work in the opium fields“ statt. Mit Unterstützung des Deutsch-Französischen Kulturinstituts in Bischkek, der Zentralasiatischen Universität und des Institut Français d’Études sur l’Asie Centrale (IFEAC) haben Künstlerinnen aus Deutschland, Frankreich, Kasachstan und Kirgistan gemeinsam einen Raum geschaffen, der voll und ganz den Frauen gewidmet ist und Kunst und Geschichte verbindet. In zehn Tagen intensiver kreativer Arbeit sind sie den Spuren kirgisischer Frauen während der Sowjetzeit gefolgt und haben die lange verdrängte Geschichte weiblichen Schaffens auf den Opiumfeldern in einer Ausstellung rekonstruiert.

Hinter der Initiative stehen die Künstlerin und Forscherin Altyn Kapalova sowie Lucia Direnberger, Forscherin am IFEAC und am Centre national de la recherche scientifique CNRS. Seit Juni arbeiten sie an dekolonialen Konzepten, um engagierte Frauen zusammenzubringen, die bereit sind, all jenen eine Stimme zu geben, die bislang ignoriert wurden. Berichte, Fotografien, Gemälde, Mode, Tanzperformances und Texte lassen die Besucher:innen eintauchen in eine Ausstellung, in der Körper eine vergessene Geschichte neu schreiben.

Die Geschichte der Opiumbäuerinnen im sowjetischen Kirgistan

Wie die Kuratorin Altyn Kapalova erklärt, wurde Karakol nicht zufällig als Standort für diese Künstlerinnenresidenz ausgewählt: Die Region Issykköl eignet sich besonders gut für den Anbau von Schlafmohn. Während die ersten Anbaugebiete schon Ende der 1870er Jahre unter dem Einfluss Chinas entstanden, entwickelte sich die Region später schnell zur wichtigsten Opiumproduzentin der gesamten UdSSR.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der damit einhergehenden massiven Nachfrage nach Opium verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen erheblich. Zu den miserablen Löhnen und den hohen Anforderungen der Ernte kamen eine ständige Überwachung durch bewaffnete  Kräfte und Durchsuchungen nach jeder Ernte hinzu. Egal ob Männer, Frauen oder Kinder – der Opiumanbau verschonte niemanden.

Nach jahrelanger Ausbeutung wurde der Anbau von Schlafmohn 1974 in Kirgistan verboten. Heute ist Drogenkonsum im Land streng illegal, und dieser Teil der kirgisischen Geschichte wurde verdrängt. International kaum bekannt, für die lokale Bevölkerung jedoch von großer Bedeutung, hinterfragen die Künstlerinnen in Karakol diese Politik des Vergessens, die die generationenübergreifenden Traumata der Menschen in der Region leugnet.

Eine menschliche Geschichte über unmenschliche Arbeit

An den Wänden des Heimatmuseums hängen farbenfrohe digitale Collagen. Die Aktivistin und Künstlerin Amaterasu hat Archivfotos von Frauen und Kindern beim Opiumanbau neu interpretiert. Unter jedem Bild lassen Zeitzeug:innenberichte den Schrecken dieser erschöpfenden Arbeit erahnen: „Wir alle hofften, nicht in einer Familie mit Opiumplantagen zu landen. Aber ich hatte kein Glück – kaum hatte ich die Schwelle überschritten, sah ich die Werkzeuge. Ich habe als Kind, in der Schule und sogar als Studentin Opium gesammelt.“ Es sind Berichte von Menschen, die zwischen Mohnblumen aufgewachsen sind.

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Andere erzählen vom Aufwachen in den frühen Morgenstunden, das sie noch immer verfolgt: „Noch heute höre ich das Hupen des großen Lastwagens – es war vier Uhr morgens, ich musste schnell aufstehen und mich anziehen. Heute kann ich mir gar nicht vorstellen, meine Enkelinnen so früh am Morgen zu wecken – das würde mir so leid tun für sie.“ Indem sie die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden, knüpfen die Künstlerinnen die Fäden der Zeit neu und vermitteln einen eindrücklichen Einblick in die Härte der Arbeit auf den Feldern.

„Es ist nicht nur die Geschichte meiner Mutter, es ist auch meine eigene.

Unter den Berichten, die in der Künstlerinnenresidenz präsentiert werden, finden die Bewohner:innen von Karakol die Geschichten ihrer Mütter oder Großmütter wieder. Sie haben diese Ereignisse zwar nicht selbst erlebt, aber sie haben die Traumata ihrer Vorfahren geerbt. Das möchte Oksana Kapishnikova, Kunsthistorikerin und Künstlerin aus Issykköl, zeigen.

In einer Performance, die Fotografien, Musik und Tanz miteinander verbindet, erzählt sie die Geschichte ihrer Familie. Als sie zehn Jahre alt war, arbeitete ihre Mutter auf den Opiumfeldern. Noch heute trägt sie die Spuren dieser schweren Arbeit. Aufstehen vor Sonnenaufgang, um drei Uhr morgens, mit durchgefrorenem Körper, dann die Durchsuchung bei der Rückkehr von den Feldern, mit erhobenen Armen, abgetastet werden – all diese Bewegungen sind in ihrem traumatisierten Körper gespeichert.

Die Künstlerin, die sich unter einem Tuch windet, erkundet durch die Bewegungen diese vererbten körperlichen Traumata. Während die Musik schneller wird und die Fotos vorbeiziehen, reißt das Tuch und Oksana Kapishnikova taucht befreit auf. „Das ist nicht nur die Geschichte meiner Mutter, sondern auch meine eigene“, erklärt sie uns.

Mode als Mittel der Befreiung

Nicht alle Künstlerinnen der Residenz stammen aus der Region, so zum Beispiel Julia Exper, eine französische Modedesignerin, die sich seit über zehn Jahren für Zentralasien begeistert. „Als ich jünger war, war ich mit meinem Vater während eines Zwischenstopps an einem Flughafen, und es gab einen Flug nach Peshawar in Pakistan. Als ich die Kleidung der Passagiere sah, war ich ästhetisch überwältigt. Das hat mich nie losgelassen“, erzählt sie. Seitdem lässt sie sich immer wieder von afghanischen Motiven inspirieren und träumt davon, eines Tages Afghanistan zu besuchen.

Nach künstlerischen Residenzen in Tadschikistan und Mauretanien reiste sie nach Karakol, um die von der Arbeit auf den Feldern erschöpften Frauen mithilfe von Kleidung neue Sichtbarkeit zu verleihen. „Mode ist ein Mittel zur Heilung. Schönheit ermöglicht es, sich auszudrücken und zu pflegen”, erklärt die Designerin. Ihre Kreationen sind zugleich von chinesischer, russischer und nomadischer Mode beeinflusst.

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Gulzat Egemberdieva stammt aus einer Familie, in der Frauen über drei Generationen Opium ernteten. Sie ist Filmemacherin und Fotomodel. In Zusammenarbeit Exper versucht sie, verschiedene Facetten der Frauen aus Karakol sichtbar zu machen: die Dungan-Tradition, die das Opium in die Region brachte, die sowjetische Arbeitswelt und schließlich den Trost und Schutz durch die umhüllende Pelzkleidung.

In diesem Projekt namens „Üshkürük“ ermöglicht es die Mode den Künstlerinnen, sich die ausgelöschten Geschichten wieder anzueignen. Kleidung wird zu einer „Rüstung, einem Symbol für kollektive Widerstandsfähigkeit und die Verarbeitung von Traumata“. „Wir haben im Schnee unter extremen Bedingungen fotografiert“, erklärt Julia Exper. „Ich bin sehr stolz auf das gesamte Team.“

Eintauchen in die Opiumfelder

Erstmals seit Jahrzehnten wurde der Keller des Museums hergerichtet, um Werke wie die von Marina Solntseva auszustellen, einer Berliner Künstlerin, die sich mit dekolonialen und feministischen Praktiken auseinandersetzt. Ihr Werk „Feld der unsichtbaren Arbeit“ taucht die Besucher:innen in die Dunkelheit des Untergeschosses, wo sie auf Mohnblumen aus Aluminium treffen, einem Material, das früher zum Sammeln von Opium verwendet wurde.

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In diesem immersiven Erlebnis ist die Dunkelheit mehrdeutig. Als Erinnerung an die erschreckenden Berichte lässt sie die Härte der Arbeit im Dunkeln erahnen. „Wir begannen bei Tagesanbruch zu arbeiten, als die Erde kaum zu sehen war. Wir konnten die Mohnkapseln und die Insekten kaum erkennen – wir konnten kaum die Gänge unterscheiden. Wir arbeiteten nach Gefühl.“

Auch diese Installation analysiert die Unsichtbarkeit der Arbeit von Frauen und versteht sich als immersiv sowie als investigativ: „Warum gibt es Lücken in den Archiven? Warum wurde diese Geschichte in der öffentlichen Debatte so stark kriminalisiert? Und wer hat davon profitiert?“, fragt Marina Solntseva. Eine kritische Perspektive, die an das Ziel der Residenz erinnert: jenen Frauen wieder eine Stimme zu geben, die von der Geschichte bewusst zum Schweigen gebracht hat. Angesichts der strahlenden Gesichter der Besucher:innen bei der Vernissage kann man sagen: Mission erfüllt für die Künstlerinnen aus aller Welt.

Salomé Aldeguer-Roure für Novastan

Aus dem Französischen von Elisabeth Rudolph

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