Die geologische Beschaffenheit des südlichen Ufers des Issikkölsees in Kirgistan weist zahlreiche Schätze auf und zählt somit zu den wenigen touristischen Orten der Region. Unter den Sehenswürdigkeiten sind zum Beispiel der Skazka – oder – nahe Tamga, aber auch das „Mazar“ (Grab) von Mandschyly-Ata zwischen Kadschi-Sai und Ton. Eine Erkundung.
Das Südufer des Issikköl ist im Vergleich zum Nordufer viel weniger touristisch und weitaus weniger besucht. Die Landschaft erscheint dort naturbelassener und trockener. Sie erstreckt sich über ausgedehnte Höhen, ein faltiges und farbenfrohes Relief in verschiedenen Ocker-, Gelb- und Rottönen, die einen wirkungsvollen Kontrast mit dem schillernden Blau des Sees und dem entfernten Blau des Himmels schaffen.
Mazar, ein heiliger Ort
Zahlreiche Informationstafeln weisen darauf hin, dass es nicht nur die schöne Landschaft ist, welche die Region um Mandschyly-Ata ausmacht: Vor allem ist es ein „Mazar“, der arabische Begriff für ein Mausoleum, der sich aber in Kirgistan viel allgemeiner auf einen Friedhof, einen Baum, ein Gebirge, einen Fels oder auch auf eine Quelle bezieht. Der heilige Charakter des Ortes rührt vom alten Glauben, den Legenden sowie den volkstümlichen Riten, die an diesem Ort begangen wurden. Schließlich schreiben die Pilger dem Mazar gleichermaßen heilende Kräfte und glück- sowie wohlstandbringende Eigenschaften zu.
Thierry Zarcone, Spezialist für Sufismus beim französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) erklärt: „Zwar ist das Wort Mazar im Islam allgemein verbreitet und man findet es in vielen anderen Ländern der muslimischen Welt. Doch hinsichtlich der Gräber scheint der Totenkult im zentralasiatischen Islam weitaus stärker entwickelt als anderswo. Das könnte am starken Einfluss des Sufismus liegen.“
Mythos und Geschichte
Aus der Geschichte der Region erfahren wir, dass Mandschyly-Ata seit dem 17. Jahrhundert eine Pilgerstätte und Ort der sakralen Verehrung ist. Quellen berichten auch von einem Sufi-Meister, der den muslimischen Glauben unter den kirgisischen Stämmen am Issikkölsee, vor allem beim Stamm der Bugu, verbreitet hat. Das Mazar wird bereits im Manas-Epos erwähnt und man munkelt sogar, dass Adil Baatyr, also Attila persönlich, dort ruhe.
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Ein bekanntes kirgisisches Sprichwort lautet: „Wünschst du dir einen Sohn, geh nach Mandschyly-Ata. Wünschst du dir Reichtum, geh nach Tscholpon-Ata. Wünschst du dir Gesundheit, geh nach Issik-Ata. Wünschst du dir gekrönt zu werden, geh nach Kotschkor-Ata.“
Während der sowjetischen Zeit wurde das Mazar von den Gläubigen heimlich nachts besucht. Erst in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends erlangte Mandschyly-Ata seine Beliebtheit zurück.
Heute ist Mandschyly-Ata ein Komplex aus Quellen, Mausoleen und heiligen Bäumen, die zwischen den Hügeln aus Kreidegestein verstreut liegen. Seit der Jahrtausendwende wurde das Mazar um eine neue Moschee erweitert und seine Infrastruktur verbessert. Die Umbauten wurden vorrangig vom ehemaligen Staatssekretär Dastan Sarygoulov finanziert, einem Anhänger des Tengrismus und Präsident der Vereinigung Tengir Ordo, die einen Fonds zur Bewahrung des nationalen Erbes bereitstellt.
Ein spiritueller Ort
Zu den Stationen der Pilgerreise gehören neun Quellen, von denen jede einen anderen Namen trägt, aber zu einem ähnlichen Ritual veranlasst. Die Gesten, die Handlungen und die Worte stammen sowohl aus der muslimischen Religion als auch aus vorislamischem, volkstümlichem Glauben. In der Nähe jeder Quelle findet man versteckt in einer Höhle eine Bank sowie einige Wasserschalen.
Man setzt oder kauert sich vor jede Quelle. Die Hände vor dem Körper gefaltet, zeigen die Handteller in Richtung des Gesichts. Die meisten Pilger beginnen mit einem Gebet auf Arabisch, das mit der ersten Sure des Korans beginnt: „Bismi Allāhi Ar-Raĥmāni Ar-Raĥīmi / Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes / Al-Ĥamdu Lillāhi Rabbi Al-`Ālamīna / Lob sei Gott, dem Herrn der Welten / Ar-Raĥmāni Ar-Raĥīmi / dem Barmherzigen und Gnädigen…“
Mit einem „Omin“ („Amen“) endet das muslimische Gebet und es folgt ein weiteres auf Kirgisisch, das zwei Teile hat: Zunächst wird gemeinsam in die Richtung eines Zeremonienmeisters gebetet, danach individuell, wobei jeder Sprechgesang zu sich selbst oder zu seinen Nächsten gesprochen wird. Schließlich wird eine Wasserschale herumgereicht.
Ort der Heilung
Trüb, sauber, geruchlos, mit einem neutralen oder leichten Schwefelgeschmack – jede Quelle hat ein anderes Aroma und auch eine andere Wirkung auf den Körper oder auf den Geist. So wirken einige Quellen auf ein bestimmtes Organ oder ein bestimmtes Körperteil, andere haben eine symbolische Wirkung, etwa auf die Fruchtbarkeit, die Familie, die Freunde. Wieder andere wirken spirituell auf die Gefühle, das innere Gleichgewicht.
Einige befinden sich unter hundertjährigen Weidenbäumen, die eigenständige rituelle Orte darstellen: Man umarmt sie, indem man die Stirn oder das Ohr an ihren Stamm legt und einen Wunsch äußert. In den Baumkronen hängen kleine Stoffstücke, die helfen sollen, die Bitten in Erfüllung gehen zu lassen.
Somit wirkt Mandschyly-Ata wie ein besonders „energiereicher“ Ort, vor allem, wenn man einigen Besuchern Glauben schenkt, die dort geschehene Wunder bezeugen können.
Das Mazar von Mandschyly-Ata ist nur ein sichtbarer Teil eines Phänomens, das die ganze Gemeinschaft der kirgisischen Gesellschaft betrifft. Mit seiner betont ökumenischen Praxis vermischt der kirgisische Glaube die geschriebene Religion (Islam) mit viel älteren einheimischen Riten. Die verschiedenen Mazars von Kirgistan stellen das Nervenzentrum dieser Praxis dar, ebenso wie die Zeugen der mächtigen kirgisischen Spiritualität.
Julien Bruley
Doktorand in Anthropologie an der Universität Lille
Bearbeitet durch Jérémy Lonjon
Chefredakteur Novastan.org
Aus dem Französischen von Elisabeth Rudolph
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