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Der Paradigmenwechsel in der modernen zentralasiatischen Kunst

Der usbekische Künstler, Übersetzer und Theoretiker Alexey Ulko beschreibt, wie sich die Komplexität und der kontroverse Charakter der modernen zentralasiatischen Kunst in einen post-kolonialen und postsowjetischen Kontext fassen lassen. Seine Argumentation wird von den Installationen des kasachstanischen Künstlers Alexander Ugai begleitet. Folgender Artikel erschien im englischen Original bei TransitoryWhite, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Installation über die Geschichte der koreanischen Diaspora in Usbekistan

Der usbekische Künstler, Übersetzer und Theoretiker Alexey Ulko beschreibt, wie sich die Komplexität und der kontroverse Charakter der modernen zentralasiatischen Kunst in einen post-kolonialen und postsowjetischen Kontext fassen lassen. Seine Argumentation wird von den Installationen des kasachstanischen Künstlers Alexander Ugai begleitet. Folgender Artikel erschien im englischen Original bei TransitoryWhite, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Das von einer weltweiten wirtschaftlichen und politischen Krise geprägte Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts markiert das Ende einer hoffnungsvollen Ära für Zentralasien. Die zwanzig Jahre zuvor erwarteten wirtschaftlichen und kulturellen Durchbrüche traten weitestgehend nicht ein. Mehr als jemals zuvor ist die Region von Korruption, Autokratie, Nationalismus und Traditionalismus, sowie ethnischen, klassenbezogenen und demographischen Spannungen geplagt (1). Mit dem Erwachsenwerden der ersten post-sowjetischen Generation geraten Kultur, Kunst und individuelle Kunstschaffende der Region auf verschiedenste Weisen unter Anpassungsdruck – worauf sie wiederum auf verschiedenste Weisen reagieren. Im Folgenden versuche ich zu demonstrieren, wie diese extrinsischen Kräfte, die oftmals auf verschiedenen Vorstellungen von Zentralasien fußen, eine ganze Bandbreite an kulturellen und künstlerischen Antworten hervorbringen. Ich untersuche dieses Zwischenspiel, indem ich sie mit international geläufigen Narrativen und meinen eigenen Erfahrungen als in Usbekistan lebender und praktizierender Künstler und Kunstwissenschaftler verwebe. Der Versuchungen und Gefahren pauschalisierender und verallgemeinernder Aussagen bewusst, entschloss ich mich dennoch gegen eine länderspezifische und ausdrücklich für eine regionsbezogene Herangehensweise an die jüngsten Entwicklungen der modernen zentralasiatischen Kunst. Hierbei ziehe ich den Begriff „modern“ der Bezeichnung „zeitgenössisch“ bewusst vor, um Verwechslungen zu vermeiden. Wie im Folgenden deutlich wird, können beide Bezeichnungen nicht immer deckungsgleich verwendet werden. In anderen Worten: Die Kategorie „zeitgenössische Kunst“ in der heutigen Kunstwelt ist für mich nur eine von vielen.

Die extrinsischen Kräfte, die die aktuelle Kunst- und Kulturszene prägt, lassen sich in drei Gruppen fassen: sowjetische Hinterlassenschaften, das ethnische und trditionelle Erbe sowie der Anspruch einer modernen und glbalisierten Welt.

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Jener Anpassungsdruck wird von Regierungen, der öffentlichen Meinung, materiellen Bedürfnissen, der geographischen und kulturellen Besonderheiten jener Staaten und Gesellschaften und der internationalen Gemeinschaft in verschiedensten Kombinationen ausgeübt. Es lässt sich behaupten, dass die meisten Kommunalbehörden der Region sowjetische und traditionalistische Ansätze verbinden und dem zeitgenössischen internationalen Kontext gegenüber lediglich Lippenbekenntnisse aussprechen. Auf der anderen Seite verfolgen internationale Nichtregierungsorganisationen (wie etwa die UNESCO, die Soros-Stifung, Hivos und andere) ihre eigene globale Agenda (2) mit einer eigenen post-sowjetischen Interpretation der UdSSR und ihres Erbes – oftmals als „Völkergefängnis“ und nicht als „Affirmative Action Empire“ (3). Jene Agenden werde von Marktkräften getrieben und über die Wirtschaft als ideologischen Faktoren eingesetzt.

All diese Einflüsse haben ihren normativen Charakter gemein. Die Agenden jener Institutionen und Agenturen versuchen vorzugeben, wie eine „wahre“ zentralasiatische Kultur zu sein hat. Dabei werden oftmals Feldforschungen darüber ignoriert, wie die Realität ist. Solche Ansätze verstärken eine Fülle an kulturellen Stereotypen. Die, oftmals inkompatiblen, Vorstellungen von Zentralasien werden von verschiedenen Gruppen, Organisationen, Denkschulen projiziert. Eigenmächtig trennen sie „authentische“ von „unauthentischen“, „progressive“ von „regressiven“ oder „nützliche“ von „schädlichen“ kulturellen Komponenten. Somit wird auf eine effektive Art und Weise der reale, dynamische und komplexe Charakter der zentralasiatischen Kultur behindert. Das soll nicht bedeuten, dass die Komplexität dieser Regionalkultur nicht ausreichend anerkannt und erforscht wird – im Gegenteil: „Diversität“, „interkultureller Dialog“, „kulturelle Schnittpunkte“ und weitere Konzepte werden regelmäßig in internationalen Foren diskutiert. Dies geschieht jedoch oftmals unter verallgemeinernden, abstrakten und sogar normativen Vorzeichen. Organisationen arbeiten dahingehend mit staatlichen Agenturen zusammen und veranstalten Foren, die von Leitmotiven wie „heutzutage müssen Menschen die Prozesse und Effekte kultureller Diversität überdenken, in die Zukunft blicken und ihre Begierden koordinieren“ begleitet werden (4). Gleichzeitig wird zugegeben, dass ihre begrenzten Kapazitäten für einen Wiederaufbau wichtiger kultureller Denkmäler in der Region nicht ausreichen oder dass Zerstörungen nicht verhindert werden können. Die Rolle internationaler Geber werde ich im Folgenden herausarbeiten und die Verbindungen zwischen bevormundenden Ansätzen und Fragen nach Macht und Klasse an die kulturellen Entwicklungen in der Region diskutieren.

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Die Reaktionen der Kunstschaffenden auf die ihnen aufgedrückten Zwänge lassen sich in zwei, sich teilweise überschneidende Strömungen kategorisieren: Fügsamkeit und Widerstand, beziehungsweise Konformität und Opposition. Diese relativ simplen Verordnungen sind stark an die internen Motiven der individuellen Kunstschaffenden geknüpft – der Suche nach einer eigenen Identität und öffentlicher Anerkennung. Im Idealfall wird eine Stilfindung von der Öffentlichkeit entsprechend gewürdigt. In einer marktwirtschaftlichen Gesetzen unterliegenden Kunstszene wird dieses Prinzip jedoch durch weitere Faktoren beeinflusst. Für Zentralasien bedeutet dies sogar, dass extrinsische Dynamiken die Vorzeichen umkehren. Hier, genauer gesagt in autoritäreren Staaten, kann Anerkennung lediglich durch eine Fügung in ein entsprechendes kulturelles Modell (sei es staatlich verordnet, traditionalistisch oder multikulturell) erfolgen. Die freie Suche nach Identität (ob individuell oder kollektiv) impliziert dabei eine Unvereinbarkeit mit jenen Modellen und stehen vorgegebenen kulturellen Maßstäben gegenüber. Diese paradoxe Sachlage und ihre ihr zugrundeliegenden Ursachen müssen detaillierter betrachtet werden.

In den meisten zentralasiatischen Staaten (mit Ausnahme Kirgistans) halten Regierungen nicht nur das Gewaltmonopol, sie streben ebenfalls nach Kontrolle und Lenkung des spirituellen Lebens ihrer Staatsangehörigen, indem sie darüber entscheiden, was gemäß der staatlichen Ideologie angebracht ist und was nicht. Der Fall von Umida Akhmedova steht stellvertretend dafür, wie weit eine Regierung eingreifen kann. Die bekannte Photographin wurde der Verleumdung und Diffamierung des usbekischen Volkes schuldig gesprochen, nachdem über ihr Dokumentarphotographie-Album befunden wurde, „nationale Traditionen“ in einer „respektlosen und verspottenden Art und Weise“ zu porträtieren (5). Dieser inhumane Umgang mit Kunstschaffenden wird im Westen oftmals als ein sowjetisches Überbleibsel, nicht mehr als ein Schatten des Kommunismus verlacht (6). Meiner Ansicht nach beschränkt sich das sowjetische Erbe nicht nur auf den kolonialistischen Einfluss auf jahrhundertealte Lokalkulturen. Es ist auch eine gestaltende, post-koloniale Kraft, die die Entwicklung neuer Nationalkulturen in der Region prägte.

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Zu allererst ist es das sowjetische Erbe, von dem die Suche nach einer „wahren“ Doktrin der Kunst, eines bestimmenden Paradigmas darüber, was in der heutigen zentralasiatischen Kunst akzeptabel ist, ausgeht. Diese Negierung der Pluralität, ein charakteristisches Merkmal sowjetischen Denkens hat ihre Parallelen mit den zentralasiatischen Kulturen – die ich persönlich als diffus, fremdbestimmt und beimessend in ihrer Polarisierung zwischen „richtig“ und „falsch“ beschreibe.

Paradoxerweise wird Diversität, wenn sie denn einmal anerkannt wird, oftmals mit Konzeptionen über distinktive Nationalitäten und Ethnizitäten in Verbindung gebracht. Dies öffnet eher der Apartheid, als dem Postmodernismus die philosophische Tür. Das gemeinsam von der UNESCO und der IFESCO betriebene Projekt Arts Education in the CIS Countries: Building Capacity fort he 21st Century unterstützte die Veröffentlichung der Studie Art Education in the Republic of Kazakhstan: Perception oft he National Traditions and the Rapprochement of the Cultures, die eine Übernahme „ethnokultureller Bildung“ in Kasachstan empfiehlt (7). Diversität wird hierin bestenfalls als ein von oben nach unten wirkendes, ideologisches Dogma behandelt.

Kann Kunst eine echte Reflektion sozialer Prozesse sein?

Wenn das Bedürfnis einer singulären, wahren Kunst typisch für sowjetische und zentralasiatische Kulturparadigmen  ist, dann wurde das sozialistische Verständnis von Kunst als eine Reflektion sozialer Prozesse nur von einem gewissen Teil der regionalen Kunstszene angenommen. Der sozialistische Realismus, der zwischen 1932 und 1934 als einzige kreative Ausdrucksweise der beobachtbaren Realität anerkannt war, stand stets im Kontext des Klassenkampfes. Das Problem hierbei ist, wie wir alle nur zu gut wissen, dass der „sozialistische Realismus“ nie eine dokumentierende oder realistische Reflektion wahrer sozialer Geschehnisse und Prozesse war. Vielmehr war er eine statische Glorifizierung gewisser sozialistischer Mythen, Gefühle und „Errungenschaften“. Eine ähnliche Tendenz wird umso mehr in der modernen zentralasiatischen „Nationalkultur“ deutlich, die zwar ein offizielles, ideologisches Kunstverständnis beinhaltet, sich aber nicht nur darauf beschränkt. Im Sinne der sowjetischen Nationalitätenpolitik besteht die Selbstpositionierung des künstlerischen Mainstreams der Region mit einer Verwurzelung in jahrhundertealten nationalen Traditionen fort.

Das Problem besteht darin, dass auch wenn die zentralasiatischen Regime an ihre vergangene Traditionen anknüpfen wollen, es ihnen an geschichtlichem Weltblick mangelt. Geschichte wird durch Ursprünglichkeit und das Konstrukt „Vergangenheit“ durch Tradition ersetzt.

Installation über die Geschichte der koreanischen Diaspora in Usbekistan

Der künstlerische Kontext der modernen Kunst Zentralasiens

Ich würde behaupten, dass in Russland und anderen post-sowjetischen Staaten Kultur ein universelles Schlüsselelement und übergeordnetes Paradigma jeglicher Formen menschlichen Treibens, wie Wissenschaft, Religion, Psychologie, Kunst, Philosophie, Musik etc. ist. In Zentralasien ist diese „Diktatur“ besonders intensiv. Individuelle künstlerische Leistungen werden primär von der Suche einer eigenen Identität getrieben und zuallererst im Kontext einer Nationalkultur betrachtet.

Hier haben wir alle Bestandteile der modernen zentralasiatischen Kunst beieinander: das politische Regime, das die künstlerische Entwicklung leitet, die unpersönliche „Achtung“ und „Inbezugnahme“ auf „Wurzeln“ und „Traditionen“ als einzige ertragsreiche (beziehungsweise mögliche) Umgebung für Kunstschaffende, ihre Identität zu entdecken.

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Nun möchte ich eine andere Drehachse besprechen, die eine ebenso große Rolle in den Klassenverhältnissen der zentralasiatischen Kunst spielt: Internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) und andere Geber zur Unterstützung einer sogenannten „unabhängigen Kunst“.

Wurden sie vor zwanzig Jahren noch als desinteressierte, um internationale Anerkennung buhlende Hilfsorganisationen für Kunstschaffende aus Entwicklungsländern betrachtet, haben sie sich inzwischen in Zentralasien fest etabliert. Sie sind zu mächtigen Akteuren geworden, die ihre Agenden und Vorstellungen diktieren, wie Kunst in Zentralasien zu sein hat. In diesem Artikel möchte ich die Ziele der Arbeit solcher Organisationen nicht per se diskutieren und kritisieren; anstelle dessen gehe ich auf die Auswirkungen ihrer Interaktionen mit der lokalen Kunstszene ein – diese meint nicht nur Kunstschaffende, sondern auch Stakeholder und Gatekeeper.

Die Attraktivität der Geber in Anbetracht der allgemeinen Ressourcenknappheit in den meisten Staaten Zentralasiens hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Kunstszene und der ihr angehörenden Individuen. Die Arbeit der NGOs und der von ihnen gesponserten Projekte wie das Bactria Centre in Duschanbe, das Art & Shock-Theater in Kasachstan oder das Black Box-Festival in Taschkent eröffnete einigen Kunstschaffenden die Möglichkeit zu reisen, ihre Kollegen im Ausland zu treffen, an internationalen Veranstaltungen und Projekten teilzunehmen, sowie ihre eigene Kunst zu kontextualisieren. Dieser unbestritten positive Zweck der NGOs und anderer Geber in der Region sollte genauso gewürdigt werden wie das Anlocken internationaler Anerkennung und materieller Gewinne, die nicht nur prägende Faktoren für regionale Praktiken der Kunst sind, sondern auch für die Verteilung von Machtstrukturen innerhalb künstlerischer Gemeinschaften. Genau wie ihre Gegenüber in staatlichen Behörden sind Ortskräfte und lokale Kuratorien westlicher Geberorganisationen zu mächtigen Akteuren der regionalen Kunstwelt geworden.

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Trotz des guten Willens, die künstlerische Entwicklung Zentralasiens zu fördern, ist der Einfluss ausländischer Geber auf Ethik und Arbeitsverhalten lokaler Kunstschaffender, Kuratorien und des jeweiligen Projektmanagements, von ihren dominanten Agenden gekennzeichnet. Interessanterweise variiert der Inhalt der Agenden und Strategien jener Geber, Gatekeeper und Kunstschaffenden mit der Zeit. Auf ihre latent simplifizierende Sichtweise bezüglich der Machtverhältnisse zwischen Regierungs-, Nichtregierungsorganisationen und den Kunstszenen bin ich bereits eingegangen. Ich halte fest, dass die herrschende Klasse, die von Ministerien und größeren westlichen Gebern vertreten wird, sowohl das Kapital, als auch die künstlerischen Produktionsmittel (Theater, Gallerien, Druckereien etc.) besitzt und über Gatekeeper der Mittelklasse operiert: Im Projektmanagement, Beamtentum, über Gallerienbesitzende und in Kuratorien. Genau wie die ausgebeutete Klasse des marxistischen Denkens streben Kunstschaffende nach Macht, Anerkennung und Geld – oder aber rebellieren und behaupten ihre Unabhängigkeit und Eigenidentität.

Mit der Zeit wurde deutlich, dass das Schwarzweiß-Denken der Unterdrückung und des Kampfes der Klassen zu kontrastarm war. Erstens verringerte sich, zumindest für Kasachstan und Kirgistan, mit dem Voranschritt der Marktwirtschaft und der Öffnung für die Außenwelt die Bedeutung der Kuratorien als Gatekeeper. Dennoch sollten ihre kreativen Stimuli anerkannt und in vielen Fällen gewürdigt werden. Zweitens wandelte sich die Wiederentdeckung von Protestformen der politischen Linken in eine neue Orthodoxie: Antikapitalistische Stimmungen kamen wieder in Mode und stellten sich als nützliches Mittel zu Erregung von Aufmerksamkeit und finanzieller Unterstützung heraus. Dies wird von der neo-marxistischen Bishkeker Denkschule für Theorie und Protests (STAB) veranschaulicht. Die von der niederländischen Entwicklungsorganisation Hivos getragene Initiative unterstützt eine Reihe an Wohn- und Bildungsprojekten für junge, zeitgenössische Kunstschaffende in Kirgistan, einem Land, dass zwischen regionalen, politischen und ethnischen Konflikten zerrissen ist. Ihr Hauptanliegen ist der Klassenkampf gegen den Neoliberalismus, was in Anbetracht nationalistischer, islamisch-fundamentalistischer und geopolitischer Bedrohungen eher unangemessen scheint. Drittens ergreifen Behörden repressive Maßnahmen, die moderate Kunstschaffende teilweise zu Protestfiguren werden lassen, wie im Falle der Anklagen Umida Akhmedova und Vyacheslav Akhunov aus Usbekistan, oder Bolat Atabaev und Kanat Ibragimov aus Kasachstan. So werden die Grenzen zwischen Konformität und Protest noch weiter verwischt, als dass viele kleinere, unterfinanzierte Graswurzelbewegungen und unabhängige Initiativen allmählich Anerkennung und Unterstützung erfahren, was Zweifel an ihrem Status als unabhängige Kunstschaffende laut werden lässt.

Installation über die Geschichte der koreanischen Diaspora in Usbekistan

In allen zentralasiatischen Staaten können wir (wenn auch in verschiedenen Ausmaßen) eine wachsende Schere und Spannungen zwischen der sich abzeichnenden Oberschicht und der weniger gebildeten, verarmten ruralen Arbeiterklasse beobachten. In der künstlerischen Gemeinschaft fokussieren sich diese Spannung auf das komplexe Verhältnis zwischen Kunstschaffenden, Kuratorien, Galleriebetreibenden, dem Beamtentum, lokalen und internationalen Gebern und anderen Stakeholdern. Hierbei wird das Schlachtfeld einmal durch „nationale“, und einmal durch „zeitgenössischen Agenden getrennt und durch die Kräfte des Marktes befeuert.

Die wahre Seele Zentralasiens

Als Kunstschaffender selbst finde ich keine Motivation, dem urweltlichen und vollkommen konstruierten Ideal einer „nationalen Kunst“ zu folgen, oder mich an jene Spielart der zeitgenössischen Kunst, mit ihrer reaktionären, materialistischen „Weltlichkeit“  anzupassen. Ich würde behaupten, dass zentralasiatische Kunstschaffende davon profitieren können, sich von ihrem oberflächlichen Streben nach einer „nationalen“, oder „zeitgenössischen“ Kunst abzuwenden und sich auf das Erkunden tieferliegender Motive ihrer eigenen Kreativität zu fokussieren. Es gibt keinen Anlass zur Sorge um – oder sogar schlimmer – zu einem Eifern nach einer „wahren zentralasiatischen Seele“: Wir müssen akzeptieren, dass jegliche aus Zentralasien stammende Kunst per Definition, mit all ihrer Modernität und Diversität, „zentralasiatisch“ ist. Deswegen sollten lokale Kunstschaffende allzu bekümmert darüber sein, von mächtigen lokalen und internationalen Interessengruppen verstanden, akzeptiert und honoriert zu werden, weil sie sich um Kontemporanität und Kosmopolitismus mühen. Kunstschaffende sollten mit ihren Ideen – um es mit den Worten von David Lynch zu sagen – in erster Linie reflektieren, ob sie ihrer Idee treu bleiben. Ich glaube, dass die Akkumulation künstlerischen Wertes tatsächlich in der Selbstverwirklichung und letzten Endes in dessen Anerkennung liegt.

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Mit Blick auf die Kunstwissenschaft müssen wir zugestehen, dass die konzeptuelle Lücke zwischen der authentischen zentralasiatischen Kunstkritik des Mainstream und dem zeitgenössischen Denken so groß, wie nur möglich ist. Der Paradigmenwechsel vom sowjetischen hin zum modernistischen Narrativ ist von einem facettenreichen und oftmals kontroversen Prozess charakterisiert, der von externen und lokalen Beobachtenden nicht immer gleichermaßen identifiziert und interpretiert werden kann. Erstere sind oft tief im post-sowjetischen Diskurs verwurzelt und können nicht immer „der romantisierenden Versuchung widerstehen, das Andere in den von ihnen beforschten Menschen zu sehen“ (8). In allen zentralasiatischen Ländern ist „die dominierende Kulturdoktin […] die Konstruktion des ethnokratischen Staates“ (9) – und die modernen Kunstgeschichten, -theorien, -und -kritiken leisten ihr folge.

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Es gibt definitiv ein Bedürfnis nach einem deskriptiveren und Agenda-befreiten  Ansatz an das Thema, mit einem Fokus darauf, was moderne zentralasiatische Kunst in all ihrer Diversität wirklich ist. Diese kulturübergreifende Dimension der Kunstwissenschaft könnte von disziplinübergreifenden Arbeitstechniken der Sozialwissenschaften, Kulturanthropologie, Hermeneutik, Politikwissenschaft etc. begleitet werden.

Vielleicht könnte die „teilnehmende Beobachtung“ moderner Kunstpraltiken und künstlerischer Gemeinschaften zu einem essentiell tieferen Einblick führen, als ihn post-koloniale Hypothesen über eine Authentizität der zentralasiatischen Kunst bieten. Die Fanszination vom Anderen und von Kontemporänität kann oftmals einseitig und dogmatisch sein, so wie das Beharren auf „nationalen Traditionen“ die einzige wahre Basis für Kunst in der Region ist.

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Es gibt in Zentralasien eine klare Notwendigkeit nach neuausbalancierten Narrativen, die reflektionsgebundene, indigene Traditionen der Kunstkritik und -geschichte mit einer weiten Bandbreite moderner und international anerkannter Disziplinen und Diskurse verbinden. Ich hoffe, dass dieser Artikel ein kleiner Beitrag an dieses Bedürfnis und ihren unausweichlichen Dialog ist.

Alexey Ulko, geboren im usbekischen Samarkand, ist Künstler, Übersetzer und Theoretiker. Er wurde an der Universität Samarkand als Lehrer für englische Sprache und Literatur ausgebildet und übersetzte u.a. für den Stadtrat Samarkand, den British Council, und das Internationale Institut für zentralasiatische Studien. Darüber hinaus arbeitete er für eine Reihe an zentralasiatische Kunstjournale und Online-Publikationen, wie STILLS (Kasachstan, Kirgistan), Kurak (Kirgistan), ARK (Usbekistan) und nahm an regionalen und internationalen Konferenzen und Veranstaltungen teil. 2007 war er Kurator für VideoART.uz, einem unabhängigen Filmfestival in Taschkent. Als Filmemacher selbst erhielt Alexey Ulko 2007 und 2008 Preise für die beste Videokunst des Kinomuseums und des Verbandes usbekischer Filmemacher. Seine aktuellen künstlerischen Interessen umfassen das experimentelle Kino, Photographie und visuelle Poesie. Ebenfalls ist er Mitglied der Europäischen Gesellschaft für zentralasiatische Studien und des britischen Verbandes der Kunsthistoriker.

Alexander Ugai, geboren 1978 in Qyzylorda, lebt und arbeitet im kasachstanischen Almaty. In seinen Werken behandelt er Themen, wie Erinnerung und Nostalgie, die Interaktion von Geschichte mit der heutigen Realität und Zukunft. Teilweise erklärt dies seine simultane Verwendung von in Sowjetzeiten produzierten 8mm- und 16mm-Filmkameras und digitalen Aufnahmegeräten. Viele der Videoprojekte Ugais zielen auf die Erkundung der räumlichen Bande kollektiver und persönlicher Erinnerungen, mit Fokus auf dem Konzept der Zeit. In den vergangenen Jahren arbeitete Alexander Ugai aktiv mit dem Medium der Installation.

Referenzen:

(1) Leshchinskiy 2007

(2) Seiple 2005, 258

(3) Martin, 2000

(4) Onghena 2007, 261

(5) Aspden 2010

(6) Pop-Eleches and Tucker 2010

(7) Muzafarov 2010, 18

(8) Monaghan and Just, 2000, 26

(9) Japarov 2010-2011, 35

Transitory White

Aus dem Englischen von Robin Shakibaie

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