In Kasachstan kann potenziell jede:r bestraft werden, der religiöse Literatur und Inhalte verbreitet, verkauft oder im Internet teilt. Die kasachstanischen Behörden versuchen so, Terrorismus und religiösen Extremismus zu bekämpfen. Wen es trifft, sind aber oftmals gewöhnliche Bürger:innen, die gar nicht wissen, dass sie strafrechtlich verfolgt werden könnten. Der Fall einer Journalistin aus Petropawlowsk sorgte für großes Aufsehen.
Die Situation in Kasachstan ist paradox: Bürger:innen werden für die Verbreitung von religiösen Inhalten bestraft, auch wenn diese nicht extremistisch sind. Man kann beispielsweise eine Strafe für den Verkauf eines Korans oder Evangeliums erhalten, oder für ein medial verbreitetes Gespräch mit einem Geistlichen bestraft werden.
Im Juli dieses Jahres, am Vorabend des muslimischen Festes Kurban Ait, veröffentlichte die Journalistin Rufiıa Mustafina aus Petropavl ein Interview mit Hamzat Ádilbekov, dem leitenden Imam der Zentralmoschee „Qyzyljar“. „In diesem Gespräch erzählt der Imam von der Tradition und Kultur des offiziellen Feiertags Kurban Ait. [Seit 2006 gilt der Kurban Ait ebenso wie die Orthodoxen Weihnachten als arbeitsfreier Tag in Kasachstan. – Anm. d. Red. von CABAR] Das Video habe ich auf meiner Facebook-Seite geteilt“, erklärt Rufiıa auf ihrer Instagram-Seite.
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Ein gewöhnlicher, journalistischer Inhalt, so scheint es. Nach der Veröffentlichung leitete die Polizei jedoch ein Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit gegen die Journalistin ein, mit der Begründung, der Inhalt sei an einem „unangemessenen Ort“ verbreitet worden. Das Gericht sprach Mustafina gemäß Artikel 490 Absatz 1 Nummer 3 des kasachstanischen Strafgesetzbuchs für schuldig.
Vorgeworfen wurde ihr der Verstoß gegen die Rechtsvorschriften hinsichtlich der Verbreitung von religiöser Literatur und sonstigen religiösen Inhalten. Die Vorschriften sind im Gesetz „Über religiöse Aktivitäten und religiöse Vereinigungen“ festgehalten. Demnach dürfen religiöse Inhalte nur in Kulturstätten, religiösen Bildungseinrichtungen oder in von den Behörden festgelegten Räumen verteilt werden. Zuerst erhielt Mustafina eine Geldstrafe in der Höhe von etwa 153.000 Tenge (entspricht rund 338 US-Dollar). Für juristische Personen beträgt eine Geldstrafe bei einem solchen Fall sogar 636.000 Tenge (etwa 1358 US-Dollar).
Später sprach das Appellationsgericht die Journalistin „wegen der Geringfügigkeit der begangenen Straftat“frei. Der Tatbestand selbst blieb weiterhin ordnungswidrig. Der Religionswissenschaftler Alexander Antipin kommentiert den Fall gegenüber CABAR wie folgt: „Wenn man Plattformen im Internet als Medien betrachtet, kann man sogar so weit gehen, Menschen strafrechtlich zu verfolgen, die sich Osterwünsche oder Gratulationen zum Kurban Ait senden.“
Streng nach Genehmigung
Der Fall von Rufiıa Mustafina sorgte für großes Aufsehen, war aber nicht der einzige in diesem Jahr. Auf der Plattform des Obersten Gerichtshofs Kasachstans werden für das Jahr 2022 insgesamt 107 Ermittlungsverfahren gemäß Artikel 490 des kasachstanischen Strafgesetzbuchs verzeichnet (im Jahr 2021 waren es 103 und im Jahr 2020 118 Fälle).
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Unter jenen, die gegen das Gesetz gegen die Verbreitung religiöser Inhalte verstoßen hatten, ist auch Tatıana, eine Einwohnerin von Óskemen. Sie erhielt eine Geldstrafe, weil sie ein Buch mit evangelischem Inhalt verkauft hatte. Vor dem Gericht gab die Frau an, das Buch verkauft zu haben, weil sie es nicht brauchte. Sie habe nicht gewusst, dass man so etwas nicht tun dürfe. Das Buch wurde geprüft und als religiös eingestuft, enthielt aber keine illegalen Inhalte. Bei einem weiteren Fall wurde ein Kioskbetreiber wegen der Verbreitung von religiöser Literatur bestraft. Die Behörden sind der Meinung, die Strafe hätte vermieden werden können, wenn eine Sondergenehmigung bei den zuständigen Behörden eingeholt worden wäre.
Stigma oder Schutz?
„Die Situation rund um das Verbot der freien Verteilung religiöser (nicht extremistischer) Inhalte spiegelt das konsolidierte autoritäre Regime in Kasachstan wider. Solche Regime versuchen, den gesamten öffentlichen Raum zu kontrollieren“, so Evgeni Jovtis, Direktor des internationalen Büros für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Kasachstan. „Die überwiegende Mehrheit der religiösen Literatur verfügt über keinen illegalen Inhalt. Da es sich aber um religiöse Literatur handelt, werden alle stigmatisiert, die sie besitzen“, konstatiert Jovtis.
Er stellt fest, dass das im Jahr 2011 verabschiedete Gesetz „Über religiöse Aktivitäten und religiöse Vereinigungen“ zusammen mit den normativ-rechtlichen Akten (Artikel 490 des kasachstanischen Strafgesetzbuchs) repressiv ist. Das Gesetz stelle faktisch eine Zensur dar, obschon das Zensieren gemäß der kasachstanischen Verfassung ausdrücklich verboten ist. Die Behörden legitimieren die getroffenen Maßnahmen als Schritte zur Bekämpfung von religiösem Extremismus und Terrorismus.
Sie erklären die Notwendigkeit dieser durch die zunehmenden religiösen Aktivitäten in Kasachstan, das Engagement zweifelhafter Geistlicher und Organisationen sowie das wachsende Interesse der Bevölkerung in Kasachstan (vor allem unter Jugendlichen) am Internet und an den sozialen Medien. „Es ist notwendig, tatsächliche Gefahren zu bekämpfen und nicht jene strafrechtlich zu verfolgen, die nicht zu Gewalt aufrufen, sondern ihre eigenen religiösen Ansichten teilen und lediglich ihr Recht auf Meinungs- und Religionsfreiheit wahrnehmen“, resümiert Jovtis.
Danijar Sadvakasov für CABAR
Aus dem Russischen (gekürzt) von Berenika Zeller
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