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Kasachstan – Schulverweise wegen Hidschab?

Im vergangenen Jahr veröffentlichte das kasachstanische Bildungsministerium eine Verordnung über Anforderungen an Schuluniformen. Im September führte diese zu hitzigen Streitigkeiten zwischen Schulverwaltungen und gläubigen Eltern. Rückblick auf eine Debatte zur Rolle von Religion in der Öffentlichkeit. Der Artikel erschien im Russischen Original bei Radio Azattyq.

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Erbol Turganbaew (rechts) mit seinen Töchtern Ajim und Korkem

Im vergangenen Jahr veröffentlichte das kasachstanische Bildungsministerium eine Verordnung über Anforderungen an Schuluniformen. Im September führte diese zu hitzigen Streitigkeiten zwischen Schulverwaltungen und gläubigen Eltern. Rückblick auf eine Debatte zur Rolle von Religion in der Öffentlichkeit. Der Artikel erschien im Russischen Original bei Radio Azattyq.

Laut einer Verordnung des kasachstanischen Bildungsministerium ist es seit September 2017 verboten, Kleidung zu tragen, die eine Religion in der Schule propagiert. Im Anschluss ließen SchulleiterInnen, die sich auf diese Anordnung beziehen, Mädchen in Hidschabs nicht zur Schule gehen. Demnach konnte einige Schulmädchen mehrere Wochen lang nicht am Unterricht teilnehmen.

Kopftuch oder traditionelle Kopfbedeckung?

Erbol Turganbajew lebt in Schalkar im Gebiet Aktöbe, im Westen Kasachstans. Wie er berichtete, wurden seine beiden Töchter, Schülerinnen der achten und zehnten Klasse, für drei Tage von der Schule suspendiert. Er verklagte die Schulverwaltung.

„Ajym und Korkem trugen Kimeschek (zylindrisch geformter Turban, Anm. d. Ü.). Sie wurden bis zum 7. September aus der Schule genommen. Am 7. September fand im Akimat (entspricht dem Landratsamt, Anm. d. Ü.) des Bezirks ein Treffen mit Vertretern der Bildungsabteilung, des Nationalen Sicherheitsausschusses und der Abteilung für Innenpolitik statt. Bei dem Treffen habe ich gesagt, dass ich die Schulleitung verklagt habe. Sie verletzen meine verfassungsmäßigen Rechte. Daraufhin legte die Direktorin der Schule die Verordnung des Bildungsministeriums vor. Seit wann steht eine ministerielle Verordnung über der Verfassung?“, so Turganbajew.

Der Vater von fünf Kindern vertritt seit zehn Jahren religiöse Ansichten. Er sagt, dass seine älteste Tochter Ajym vor fünf Jahren begann, zu beten und ein Kopftuch zu tragen. Ajym selbst glaubt, dass sowohl zu Hause als auch auf der Straße die Haare des Mädchens vor fremden Blicken verhüllt sein sollten. Auch Korkem, ihre jüngere Schwester, die dieses Jahr in die achte Klasse wechselte, trägt das Kopftuch bereits mehr als ein Jahr.

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Für Turganbajew haben die Mädchen nie die Anforderungen für Schuluniformen verletzt: „Das einzige, was den Lehrern nicht gefällt, ist ihr Kopfschmuck. Das ist kein Hidschab, und ich habe mir das nicht ausgedacht. Wir haben es von unseren Vorfahren übernommen.“

Laut der Schuldirektorin Alija Abdigaparowa sei der Kimeschek jedoch niemals die traditionelle Kleidung kasachischer Mädchen gewesen. Abgesehen davon, haben die beiden Mädchen gar keinen Kimeschek getragen.

Schuldirektorin Alija Abdigaparowa
Die Schuldirektorin Alija Abdigaparowa

 „Wir haben noch eine Erklärung aufbewahrt, die uns Herr Turganbajew im Jahre 2012 zugesandt hat. Darin schrieb er: ‚Es gibt Böses in der Gegend, und meine Töchter tragen ein Kopftuch, um sich selbst zu verhüllen und sich davor zu schützen.‘ In diesem Jahr behauptet er, dass seine Töchter einen Kimeschek tragen und beschuldigt mich, ich würde mich gegen die nationale Tracht stellen. Wir haben eine gemischte Schule. Neben Kasachen lernen dort Kinder russischer, usbekischer, balkarischer Nationalität. Die Eltern wünschen, dass die Schuluniform einheitlich ist“, so Abdigaparowa.

Die Schulleiterin glaubt, dass Schulmädchen den Hidschab unter dem Einfluss ihrer Eltern tragen. Ihrer Meinung nach habe sich die Zahl der Schulmädchen, die ein Kopftuch tragen, in den letzten fünf Jahren versechsfacht.

Disziplinäre Maßnahmen

Ähnlich verlief es in der Schule Nr. 10 in Aktöbe. Der Schulleiter verteilte dort Benachrichtigungen an die Eltern von Mädchen, die Kopftücher tragen. In der Mitteilung, die die Eltern von Amira, Schülerin der achten Klasse, erhielten, wurde gesagt, dass disziplinarische (Ergänzung d. Übers.) Maßnahmen ergriffen würden, wenn ihre Tochter die Richtlinien über die Schuluniform durch Einwirken ihrer Eltern nicht einhält.

Die stellvertretende Direktorin der Schule, Nasija Elbajewa, traf sich mit den Eltern. Sie erläuterte ihnen die Regeln über die Schuluniform und wiederholte die Forderung, dass die Mädchen die Kopftücher ablegen. Die Eltern kündigten an, sich mit einer Klage an das Gericht zu wenden, wenn sie nicht zu einem Kompromiss bereit wäre.

Im Schuldezernat der Stadt Aktöbe wollte man die Situation im Zusammenhang mit dem Konflikt nicht kommentieren. Aus den Äußerungen des Leiters der Regionalabteilung für religiöse Angelegenheiten, Dscholdas Kalmagambetow, geht jedoch hervor, dass die Abteilung wünscht, dass Eltern die Forderung der Schule erfüllen.

„Wir rufen die Bürger auf, ruhig zu bleiben. Das Kopftuch ist nur ein äußeres Attribut. Die Religionsfreiheit ist davon nicht betroffen. Vertreter von zehn Konfessionen leben in der Region Aktöbe. Was wird in unseren Schulen passieren, wenn jede von ihnen ihre eigenen religiösen Symbole einführt? Wir möchten, dass die Eltern hier mit den Bildungseinrichtungen konform gehen,“ so Kalmagambetow.

Nach Angaben der Abteilung für religiöse Angelegenheiten besuchen 370 Mädchen in muslimischen Kopftüchern Sekundarschulen in Aktöbe.

„In 70 Jahren wurde das Kopftuch nie verboten“

Im nach einem persischen Dichter benannten Dorf Firdousi, 300 Kilometer Südwestlich von der Stadt Schymkent, sind fast alle Dorfbewohner ethnische Tadschiken. Hier tragen Schülerinnen Kopftücher „nach den althergebrachten nationalen Traditionen“. Der Familienvater Dschumobai Machmudow sagt, dass seine älteste Tochter mit einem Kopftuch eingeschult wurde und sie auch mit einem Kopftuch verlassen hat. Jetzt gehen seine beiden jüngeren Töchter und Söhne auf diese Schule.

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Unterricht in der Schule von Firdousi

„Warum wird statt [den ständigen Verweisen auf die Kopftücher] nicht kontrolliert, wie Lehrer Unterricht erteilen oder welche Lernfortschritte die Kinder machen? Kein Gesetz verbietet das Tragen eines Kopftuches. Der Präsident selbst sagt, dass jede Nationalität das Recht hat, ihre nationalen Traditionen zu bewahren. Das ist unsere nationale Tradition. Ich bin absolut dagegen, dass meine Töchter ihre Kopftücher abnehmen. Denn in unserem Verständnis ist das Verlassen des Hauses ohne Kopftuch so, wie wenn sie gar keine Kleidung angezogen hätte, – so Machmudow.

Laut dem Rentner Bekmachambet Sultanow, dessen Enkelkinder auf diese Schule gehen, erklärten Eltern in der Schulababteilung des Akimats, den Justizbehörden, was der tiefere Grund des Tragens von Kopftüchern ist:

„Diese Schule wurde vor 70 Jahren gegründet, und bis zu diesem Zeitpunkt wurde niemand gezwungen, das Kopftuch abzulegen. Jetzt sollen sie die Tücher aber plötzlich ausziehen. Wir sagen es ihnen, aber die Schülerinnen sind damit nicht einverstanden. Wenn sie gezwungen werden, ihre Kopftücher abzulegen, können sie sich weigern, die Schule zu besuchen. Deshalb haben wir sie gebeten, die Kopftücher nicht abzulegen.“

Der Vorsitzende des Elternkomitees, Abdusamat Gafurow, dessen Enkel ebenfalls auf diese Schule gehen, teilte mit, dass das Thema seit August Thema mehrerer Elterntreffen gewesen sei: „Es geht nur darum ob das Kopftuch nun getragen wird oder nicht. Eltern und die Mädchen sind dagegen, ihre Kopftücher abzulegen. Das ist kein Hidschab, das ist unsere Tradition „, sagt er und verweist auf die Rechte ethnischer Minderheiten.

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Auf dem Schulhof der Schule von Firdousi

Die Art, das Kopftuch zu binden, die die Eltern das „traditionelle Kopftuch“ nennen, ähnelt jedoch dem Hidschab. Die Direktorin der Firdousi-Sekundarschule, Dschanar Momynova sagt, dass insgesamt 16 Elternabende über das Tragen von Kopftüchern in der Schule abgehalten wurden. Nach Angaben des Direktors der Schule besuchen 740 Schüler die Bildungseinrichtung, 56% der Schüler sind Mädchen. Seit Beginn des neuen Schuljahres sind in der Schule einheitliche Schuluniformen vorgeschrieben.

Eine landesweite Debatte

In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, in denen Schülerinnen und Studentinnen vom Unterricht oder Vorlesungen ausgeschlossen wurden, weil sie in Ausübung ihrer Religion ein Kopftuch, den Hidschab oder einen Niqab trugen.

Für Elmira Suchanberdijewa, stellvertretende Ministerin für Bildung und Wissenschaft, widerspricht das nicht der Religionsfreiheit: „Religiöse Kleidung kann nur innerhalb von Bildungseinrichtungen nicht getragen werden. Nachdem das Kind die Schwelle der Schule überschritten hat, kann sie diese wieder anziehen. Es gibt keine Einschränkungen für religiöse Ansichten. Die Rechte Studierender werden nicht verletzt. Wir werden ihnen jedoch nicht erlauben, die Regeln zu verletzen“, kommentierte sie die Anordnung zur einheitlichen Schuluniform. Die reguläre Schuluniform umfasst ein Sakko, Jacke, Hose, Hemd, Rock, klassische Bluse.

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Nach Ansicht des bekannten Menschenrechtsaktivisten Jewgenij Schowtis kann im Streit über die Hidschabs nur schwerlich von einer Einschränkung der Menschenrechte gesprochen werden. Seiner Meinung nach sollte in der internationalen Praxis jeder Staat, in Abhängigkeit von seinen Traditionen für sich entscheiden, ob in der Schule religiöse Symbole gezeigt werden sollen oder nicht.

Im Herbst 2016 hat auch der Geistliche Rat der Muslime Kasachstans (SAMK) die Gläubigen dazu aufgerufen, einen Kompromiss mit der Schulverwaltung in Bezug auf das Tragen von Kopftüchern in Bildungseinrichtungen zu schließen. In der am 24. Oktober veröffentlichten Erklärung heißt es, dass der Islam junge Mädchen gemäß den Anforderungen der Scharia nicht dazu verpflichtet, ein Kopftuch zu tragen, und dass Eltern die Kinder nicht daran hindern sollten, eine allgemeine weiterführende Bildung zu erlangen. Die Erklärung der SAMK erwähnt auch, dass die Eltern der Schüler erkennen sollten, dass das kasachische Bildungssystem nicht nur auf das Lernen, sondern auch auf die Kunst, Sport und intellektuelle Entwicklung ausgerichtet ist. „Wir raten Eltern, ihren Töchtern mehr Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie eine verpflichtende säkulare Bildung erhalten“.

Dilara Isa
Radio Azattyq

Aus dem Russischen von Joachim Schaller

 

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