Startseite      Ende des Personenkults? – Nazarbaev-Bild in kasachstanischen Schulbüchern nach den Januar-Protesten

Ende des Personenkults? – Nazarbaev-Bild in kasachstanischen Schulbüchern nach den Januar-Protesten

Die Darstellung von Nūrsūltan Nazarbaev in den Geschichtsbüchern Kasachstans hat sich kaum verändert, trotz des Machtverlusts nach den Januarunruhen 2022. Experten kritisieren den fortbestehenden Personenkult.

Ehemaliger Präsident Nursultan Nazarbaev, Foto: Reuters

Die Darstellung von Nūrsūltan Nazarbaev in den Geschichtsbüchern Kasachstans hat sich kaum verändert, trotz des Machtverlusts nach den Januarunruhen 2022. Experten kritisieren den fortbestehenden Personenkult.

Der ehemalige Geschichtslehrer Omir Şynybekuly aus Şymkent erinnert sich an die ersten Unterrichtsstunden nach den Winterferien 2022. Die Neuntklässler behandelten das Thema „Nūrsūltan Nazarbaev  – der erste Präsident Kasachstans“. Die Stadt hatte sich kaum von den blutigen Ereignissen erholt: Massive regierungsfeindliche Proteste führten zu Unruhen, Ausschreitungen und Plünderungen. Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer. In Şhymkent starben 20 Menschen, landesweit mindestens 238 Menschen.

„Viele Jahre lang lebten wir in der Illusion, dass unsere Gesellschaft perfekt sei, und diese Illusion zerbrach in einem Augenblick. Wir haben gesehen, wie alles zerstört wurde – in Şhymkent brannten 60 bis 70 Autos, die erste und zweite Etage des Akimats wurden beschädigt, die Ausstellungshalle brannte nieder. Was wir gesehen haben, haben auch die Kinder gesehen – zwar nicht auf der Straße, aber im Internet“, berichtet Şynybekuly.

Nazarbaev, in Schulbüchern als „einzigartige Persönlichkeit“ beschrieben, schwieg in diesen unruhigen Tagen. Obwohl er nach seinem Rücktritt weiterhin weitreichende Befugnisse hatte, trat er kaum öffentlich auf. Später erschien er in einem Video, in dem er erklärte, das Land sei „angegriffen“ worden, aber „dank der von Toqaev eilig getroffenen Entscheidungen“ gerettet worden. Er fügte hinzu, er befinde sich in der „Hauptstadt Kasachstans“ im „wohlverdienten Ruhestand“.

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„Die zentrale Frage im Unterricht lautete: ‚Welche Rolle spielte der politische Führer in den entscheidenden Momenten der Staatsgeschichte?‘. Das Ziel war, die Rolle des Elbasy (Führer der Nation, Anm. d. Übers.) bei der Bildung eines unabhängigen Staates zu bewerten. Wir standen damals unter Stress und wussten nicht, was wir den Kindern sagen sollten. Das Lehrbuch ist nur eine Hilfsquelle. In solchen Momenten sind die Redegewandtheit des Lehrers und seine Lebenserfahrung wichtig“, sagt Şynybekuly.

Machtverlust und De-Nazarbaevisierung

Während der Januarereignisse verlor Nazarbaev seinen einflussreichen Posten als Vorsitzender des Sicherheitsrates, den er laut Gesetz auf Lebenszeit hätte innehaben können. Das Amt ging an Toqaev über. Viele Privilegien des ehemaligen Präsidenten wurden abgeschafft, Verwandte aus hohen Ämtern entfernt und teilweise strafrechtlich verfolgt.

Im Zuge der sogenannten „De-Nazarbaevisierung“ wurde die Hauptstadt wieder in Astana umbenannt. Zwei Denkmäler für Nazarbaev wurden entfernt, und Verweise auf den ersten Präsidenten aus der Verfassung gestrichen. Auch Schulbücher wurden aktualisiert.

Veränderungen in den Schulbüchern

Schulbücher in Kasachstan werden alle fünf Jahre aktualisiert. Das bis 2024 verwendete Buch von 2019 beschrieb Nazarbaev als „politischer Führer, Elbasy, herausragender Staatsmann von Weltformat“ und begann mit den Worten, dass er „in den ersten Jahren der Unabhängigkeit den Weg in eine strahlende Zukunft gewiesen hat“.

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In der neuen Ausgabe wird Nazarbaev nicht mehr pathetisch verherrlicht, dennoch heißt es, er habe „das Land auf den Weg zu einer demokratischen Gesellschaft und einer nationalen Marktwirtschaft gebracht und das Vertrauen des Volkes geweckt“.

Sein Beitrag zur Gründung der Eurasische Wirtschaftsunion (EAW), die Versammlung des Volkes von Kasachstan, der Aufbau des Parlaments und die Verlegung der Hauptstadt nach Astana werden weiterhin als Verdienste dargestellt.

Im Lehrbuch des Verlags „Mektep“ aus dem Jahr 2019 werden offizielle Insignien und Titel Nazarbaevs genannt. In der 2024 erschienenen Version bleibt nur noch die Bezeichnung „erster Präsident“. Auch sein internationales Ansehen wird nicht mehr hervorgehoben.

Fortbestehender Personenkult

Omir Şynybekuly betont: „Die Texte unterscheiden sich geringfügig, aber die allgemeine Botschaft ist dieselbe. Die Verherrlichung geht weiter. Alle Errungenschaften werden einer einzigen Person zugeschrieben. In der Sowjetzeit war es ähnlich unter Stalin, nach den 2000er Jahren wurde der Personenkult auch in Kasachstan wieder deutlich“.

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Der Journalist Asylkhan Mamşuly untersucht die Geschichte Kasachstans und schrieb diverse politische Portraits über Nazarbaev. Er stellt fest, dass auch in aktuellen Schulbüchern fast jeder Absatz Nazarbaev erwähnt. „Es scheint, dass er etwas weniger erwähnt wird als zuvor, aber er kommt weiterhin vor. Das Lehrbuch für die neunte Klasse enthält ein Kapitel mit dem Titel ‚Die Rolle Nazarbaevs bei der Entstehung des unabhängigen Kasachstans‘“, erklärt Mamaşuly.

Politische Zurückhaltung der Regierung

Das Bildungsministerium betont, dass die Inhalte der Lehrbücher wissenschaftlich fundiert und neutral seien. Materialien über Nazarbaev seien in Übereinstimmung mit dem Lehrplan, historischen Fakten und Dokumenten erstellt worden.

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Politisch bleibt das Thema jedoch heikel. Präsident Toqaev wechselte seine öffentliche Haltung zu Nazarbaev mehrfach. Einerseits kritisierte er soziale Ungleichheit während seiner Amtszeit, andererseits forderte er später die Anerkennung seiner Verdienste.

Mamaşuly weist darauf hin: „Die Regierung spricht ungern über die Fehleinschätzungen Nazarbaevs, da das von ihm geschaffene System nach wie vor funktioniert. Wenn Anweisungen von oben kämen, würden die Lehrbücher alles abbilden. Aber so werden die Schüler:innen nur gefragt: ‚Wie beurteilen Sie die Rolle von Nazarbaev?‘ – eine Frage, auf die das Lehrbuch selbst keine vollständige Antwort gibt.“

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Für das Thema Nazarbaev sind in der neunten Klasse zwei Unterrichtsstunden vorgesehen. Aufgaben beinhalten die Erstellung eines politischen Porträts, das Zitieren von Textauszügen und deren Analyse. Diese Lehrbücher sollen bis 2029 im Einsatz bleiben.

Radio Azattyk

Aus dem Russischen von Margaret Bullich

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