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Das Geheimnis von Kalachi, dem verschlafenen Dorf

Am Ende des Jahres 2012 schliefen die Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes Kalachi plötzlich ein. Sie wurden während des Angelns, hinterm Herd in der Küche oder am Steuer auf einmal ohnmächtig. Im Oktober 2015 hörte diese merkwürdige Erkrankung dann genauso plötzlich wieder auf. Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Nazarbaev-Universität unter der Leitung des Epidemiologen Byron Crape untersuchte die Ursachen der Beschwerden, um sie zu erklären und sich auf sie vorzubereiten, falls die Krankheit erneut auftritt. Der Artikel erschien ursprünglich auf Tengrinews.kz, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes Kalachi. Sommer 2020
Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes Kalachi. Sommer 2020

Am Ende des Jahres 2012 schliefen die Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes Kalachi plötzlich ein. Sie wurden während des Angelns, hinterm Herd in der Küche oder am Steuer auf einmal ohnmächtig. Im Oktober 2015 hörte diese merkwürdige Erkrankung dann genauso plötzlich wieder auf. Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Nazarbaev-Universität unter der Leitung des Epidemiologen Byron Crape untersuchte die Ursachen der Beschwerden, um sie zu erklären und sich auf sie vorzubereiten, falls die Krankheit erneut auftritt. Der Artikel erschien ursprünglich auf Tengrinews.kz, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Laut Angaben von Crape liegt der Unterschied der Untersuchung seines Forschungsteams zu allen vorherigen darin, dass sie nicht nur Daten und Analysen der Betroffenen und Informationen über Boden, Luft und Wasser sammelten, sondern auch ausführlich mit allen Bewohnern und Bewohnerinnen von Kalachi sprachen.

„Wir müssen den Menschen zuhören und von ihnen lernen. Es gibt durchaus vernünftige Ideen, die man nur ernst nehmen muss. Manchmal wissen selbst wir erfahrenen Wissenschaftler nicht, was vor sich geht. Aber die Menschen wissen es. Deshalb haben wir jeden Einzelnen ausführlich befragt, insgesamt 202 Familien“, so der Wissenschaftler.

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Die Wissenschaftler konnten die Schlussfolgerung einer internationalen Kommission widerlegen, dass die Ursache der Schlafkrankheit in der Strahlung liege. Darüber hinaus strich Crape bakterielle Meningitis, genetisch bedingte Krankheiten und Kohlenmonoxid aus der Liste der gängigen Hypothesen. Ihm zufolge sind die Wissenschaftler der Nazarbaev-Universität der Lösung des Rätsels des „verschlafenen“ Dorfes am nächsten gekommen.

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Durch die Befragung haben die Wissenschaftler herausgefunden, dass alle Bewohner und Bewohnerinnen Wasser aus ein und derselben Quelle beziehen: Das Wasser wird mit Hilfe einer unterirdischen Pumpe, die sich im Privatbesitz eines Dorfbewohners befindet, aus dem Boden entnommen und anschließend an alle Dorfbewohner und -bewohnerinnen verkauft. Für die Haustiere wird allerdings das kostenlose Wasser aus dem Fluss verwendet. Die Tiere im Dorf haben übrigens nicht unter der Schlafkrankheit gelitten.

„Es gab einen einzigen Fall, in dem eine Frau beklagte, dass ihre Katze ungewöhnlich lange schlief. Nun raten Sie mal! Das war eine Hauskatze, die das herausgepumpte Wasser aus der Quelle getrunken hatte“, berichtete Crape.


Ein junger Dorfbewohner in Kalachi. Winter 2016. Foto: Turar Kazangapov

Da die Theorie des „vergifteten“ Trinkwassers auf fast alle Fragen des Forscherteams eine Antwort gibt, beschlossen die Wissenschaftler der Nazarbaev-Universität, das Problem der chemischen Wasservergiftung zu untersuchen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die wahrscheinlichste Verschmutzungsquelle die Uranminen in der Nähe sind.

„Die Menschen könnten dort möglicherweise etwas Chemisches weggeworfen haben, weil die Mine seit den späten 1980er Jahren nicht mehr in Betrieb ist. Ich bin Epidemiologe, ich arbeite nicht in einer Chemiefabrik, ich arbeite auch nicht in einem Rüstungsbetrieb, aber ich versuche Leben zu retten.

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Nach Recherchen im Internet stellten wir fest, dass Pawlodar einer der Orte war, an denen Chemikalien für andere Zwecke entwickelt wurden. Worin wurden diese Chemikalien gelagert? Sehr oft werden sie in speziellen Fässern oder Tonnen entsorgt.

In der Tiefe, wo die Feuchtigkeit hoch ist, kann die Bodenschicht der Fässer rosten und zu lecken beginnen. Dann sickert die Chemikalie ins Wasser. Handelt es sich dabei um Grundwasser, dann erreicht es die Menschen im Dorf. Aber warum schlafen manche Menschen öfter und mehrmals ein, andere seltener? Vielleicht bekommen einige eine höhere Konzentration der Chemikalie ab und andere eine geringere.“, vermutet der Professor.

Die Hypothese über chemische Schadstoffe im Wasser beantwortete fast alle Fragen. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass solche Substanzen bei einer Temperatur von einem Grad Celsius zerstört werden. Ausbrüche der Schlafkrankheit waren besonders typisch für die kalte Jahreszeit und verschwanden im Sommer wieder.

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„Es könnte sein, dass sich in der Zeit des Auftretens der Krankheit von Ende 2012 bis 2015 die Fässer mit den Chemikalien vollständig leerten und diese somit ins Wasser gelangten . Aber das ist nur eine Hypothese, keine Schlussfolgerung. Um es zusammenzufassen: Wahrscheinlich handelt es sich um einen chemischen Schadstoff, der möglicherweise über das Trinkwasser in unterschiedlicher Konzentration zu den Dorfbewohnern und -bewohnerinnen gelangt ist“, folgert der Professor.

Um diese Hypothese zu bestätigen, müssen die Wissenschaftler eigentlich in eine der Uranminen hinuntersteigen. Für Menschen ist es allerdings sehr gefährlich, in die Mine zu gehen, da die alten Lagerstätten jeden Moment zusammenbrechen könnten. Deshalb schlug ein Experte der Ingenieursschule der Nazarbaev-Universität vor, eine Drohne dorthin zu senden.

Schon früher haben sich die Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes Kalachi über Probleme mit dem Wasser beschwert. „Man hat uns in diesem Jahr versprochen in mehreren Straßen Wasser anzuschließen, aber dann wurde uns gesagt, dass dies zur Zeit wegen des Coronavirus nicht möglich sei. Wir gehen davon aus, dass man man uns auch in Zukunft kein Wasser anschließen wird“, meint eine Bewohnerin.

Weitere Fotos im Originalartikel auf Tengrinews.kz

Mejirim Smajyl für Tengrinews.kz

Aus dem Russischen von Katharina Nordhaus

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