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Ohne Ausweis: Das Schicksal der „vergessenen“ Menschen in Tadschikistan

Die Lage der Staatenlosen in den zentralasiatischen Ländern hat sich in den letzten Jahren verbessert. Doch trotz aller Fortschritte bringt das Thema Herausforderungen mit sich, wie das Beispiel Tadschikistan zeigt.

Der Wechsel vom sowjetischen zum tadschikischen Pass hat menschen in die Staatenlosigkeit rutschen lassen, Photo: UNHCR

Die Lage der Staatenlosen in den zentralasiatischen Ländern hat sich in den letzten Jahren verbessert. Doch trotz aller Fortschritte bringt das Thema Herausforderungen mit sich, wie das Beispiel Tadschikistan zeigt.

Die 68-jährige Mawdschuda Allanasarowa aus der ländlichen Gemeinde Istiqlol (im Norden Tadschikistans, Anm. d. Ü.) gehört zu den Menschen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine Papiere mehr hatten. Während des Bürgerkriegs 1993/94 kamen Vertreter des Pass-Amtes in das Dorf, sammelten die roten sowjetischen Pässe ein und versprachen, neue Pässe auszustellen.

Doch nicht alle bekamen einen. Auch Mawdschuda hat ihren neuen Pass nicht erhalten. Das störte sie damals überhaupt nicht, denn sie dachte, das Dokument sei nur eine Formalität. „Damals wusste ich noch nicht, dass nach dem Zusammenbruch der Union jedes Land seine eigenen Grenzen, Gesetze und Dokumente haben würde. Bis ich in eine Situation geriet, in der ich einen Reisepass brauchte“, erzählt sie.

Zwischen Tadschikistan und Usbekistan war eine richtige Staatsgrenze entstanden. Um Verwandte im Nachbarland zu besuchen, brauchte die Frau nun ein offizielles Dokument, das ihre Identität bestätigt. Mawschuda hatte aber keins: Sie konnte nicht einmal eine Geburtsurkunde finden. Da machte sie sich Sorgen.

Mawdschuda ist in der Usbekischen Sowjetischen Sozialistischen Republik geboren und brauchte die Hilfe von Verwandten, um ihre Geburtsurkunde in den usbekischen Archiven zu finden. Gleichzeitig suchte sie ihren sowjetischen Reisepass, den die Behörde ihr weggenommen hatten. Nach einer Weile brauchte sie auch ihre Heiratsurkunde, die ebenfalls irgendwo verloren gegangen war. So dauerte es mehr als 15 Jahre, bis Mawschuda die tadschikische Staatsbürgerschaft wiedererlangte.

„Ohne dieses Dokument hatte ich keine Rechte. Meine Nichten lachten über mich und nannten mich einen ‚Menschen in der Luft‘. Am Anfang war das lustig, aber später wurde es bitter: Jahrelang habe ich in einer Kolchose gearbeitet. Man hat mir aber gesagt, dass ich ohne Dokumente in Zukunft keine Rente bekomme. Ich bekam keine Wahlbenachrichtigung und ich konnte meine Nebenkosten nicht bezahlen. Als ich meinen tadschikischen Pass zum ersten Mal erhielt, weinte ich vor Freude. Mein Mann organisierte sogar eine Party, um meine Staatsbürgerschaft zu feiern“, sagt Mawdschuda.

Herausforderungen und Reformen in Tadschikistan

Nach Angaben des UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) riskierten seit 2014 mehr als 60.000 Menschen, in die Kategorie der Staatenlosen zu fallen. Zu dieser Kategorie gehörten auch Menschen, die de facto staatenlos sind – also ausländische Staatsangehörige, die aus irgendeinem Grund ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Bis Ende 2023 hat man für mehr als 58.000 von ihnen eine Entscheidung über ihren Status getroffen.

Seit 2008 nimmt das Büro des Ombudsmanns für Menschenrechte in Tadschikistan Beschwerden von Staatenlosen entgegen, um die Wiederherstellung ihrer verletzten Rechte und Freiheiten zu erleichtern. Darüber hinaus bestehen mehrere internationale Menschenrechtsabkommen zur Verhinderung oder Verringerung von Staatenlosigkeit.

Seit 2022 ist der Menschenrechtsbeauftragte in Tadschikistan als staatliche Stelle für die Gleichstellung und die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung zuständig. In jeder Region ist er durch lokale Anlaufstellen vertreten.

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CABAR erfuhr, wie oft sich Menschen ohne Papiere mit der Frage der Staatsbürgerschaft an sie wenden. „Wir arbeiten nun schon das vierte Jahr, aber wir haben bisher noch keinen einzigen Antrag zu diesem Thema erhalten. Trotzdem arbeiten wir weiter“, sagte Habiba Hamidowa, Vertreterin des UNHRC in der Provinz Sughd).

Die Situation der Staatenlosigkeit in Tadschikistan sei unklar, sagt sie. Es gebe keine speziellen Studien, um die Zahl der im Land lebenden Menschen ohne Papiere zu ermitteln. Die NGO „Tschaschmai Hayot“ beschäftigt sich hauptsächlich mit Arbeitsmigration und der Verhinderung von Menschenhandel.  Sie unterstützen Menschen ohne Papiere, die Beschäftigungsprobleme haben. Diese verweisen sie an den Ausschuss für Frauen und Familie.

Rafoat Bobojewa, eine Familienberaterin dieser Einrichtung, betreute einen Mann, der keine Dokumente besaß, und verwies ihn an die regionale Verwaltungs- und Rechtsabteilung. „Dank der gemeinsamen Arbeit von staatlichen Behörden und öffentlichen Organisationen erhielt der Mann alle seine Ausweispapiere zurück. Jetzt kann er eine Arbeit finden und seinen Lebensstandard verbessern“, erklärt die Familienberaterin.

Ein wichtiger Schritt

Seit 2019 können Staatenlosen und ausländischen Staatsbürgern, die sich (laut der Aufenthaltsbestimmungen für Bürger der ehemaligen UdSSR) illegal im Land aufhalten, ihren Rechtsstatus legalisieren und regeln. Das UNHCR bewertete das Gesetz als einen wichtigen Schritt im Kampf gegen die Staatenlosigkeit im Land.

Ein gemeinsames Projekt von Regierung, UNHCR und verschiedenen NGOs ermittelt in fünf Regionen Tadschikistans Lösungen für staatenlose Personen und Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit, wie zum Beispiel Bürger der ehemaligen Sowjetunion.

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Das Recht auf Staatsangehörigkeit ist ein Menschenrecht. Die Regierung ist sehr daran interessiert, dieses Problem anzugehen“, erklärt Hisraw Holow, nationaler Berater für internationalen Schutz des UNHCR in Tadschikistan. Der Beitritt zur globalen Allianz gegen Staatenlosigkeit wäre ein wichtiger Schritt und könnte potentielle Geber zur finanziellen Unterstützung animieren. Diese Option sollte die Regierung gemeinsam mit Partnern prüfen.

Das Problem der Staatenlosigkeit bleibt trotz der Bemühungen der tadschikischen Regierung ungelöst. Experten zufolge sind die Menschen in einem Labyrinth bürokratischer Verfahren gefangen und werden ihrer Grundrechte und ihres sozialen Schutzes beraubt. Es bedarf also weiterer Anstrengungen, um ihre Probleme zu lösen und sicherzustellen, dass alle tadschikischen Bürger vor dem Gesetz gleichgestellt sind.

Central Asian Bureau for Analytical Reporting (via Asia-Plus)

Aus dem Russischen von Giulia Manca

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