Baumwollanbau ist eine der wichtigsten Landwirtschaftsbranchen Usbekistans. Zu Sowjetzeiten war Usbekistan der größte Baumwolllieferant in der ganzen Union und ist heute einer der größten Produzenten weltweit. Heutzutage stellt man hier etwa 3,5 Mio. Tonnen Rohbaumwolle und 1 Mio. Tonnen Baumwollfasern pro Jahr her. Es wurden lange keine wesentlichen Reformen in diesem Bereich durchgeführt. Besonders die Methoden, das „weiße Gold“ zu erlangen, werden immer noch von der ganzen Welt kritisiert.
Die Regierung legt die Produktionsnormen für jede Region und jeden Landwirt fest. Wenn diese Quote nicht erreicht wird, kann man enteignet werden. Da die Landwirte nicht im Stande sind, nachträgliche Arbeitskräfte selbstständig einzustellen, lassen die Behörde Ärzte, Lehrer, Studenten und andere staatlich Angestellte auf den Feldern arbeiten. Diese sind gezwungen, für ungefähr zwei Monate ihre Arbeitsplätze zu verlassen. Lehranstalten, wie Lyzeen, Berufsschulen und Hochschulen in allen Regionen, außer in der Hauptstadt Taschkent sind in dieser Zeit häufig geschlossen.
Baumwolle statt Lehrbücher
Am 2. September fängt das Schuljahr in ganz Usbekistan an. Nach einigen Tagen unterbrechen aber die Schüler in den Lyzeen und Kollegen (Berufsschulen) ihren Unterricht, die Studenten in allen Provinzen Usbekistans ihr Studium, und die Arbeitstätigen ihre Arbeit, denn es ist wieder Zeit, Baumwolle zu pflücken.
„Jedes Jahr im August stehe ich vor dem Problem, wo ich meine kleinen Kinder während der Baumwollzeit lassen kann und wer für sie sorgen soll. Zum Glück unterstützen mich auch in diesem Jahr meine Verwandten. Trotzdem bevorzuge ich es, nicht am Baumwollfeld zu übernachten, da die Wohnbedingungen dort ziemlich schwierig sind. Ich muss jeden Morgen um sechs Uhr dorthin fahren und komme dann erst um sieben oder acht zurück nach Hause. Mit anderen Frauen in derselben Lage organisieren wir Taxis oder Kleinbusse. Das bedeutet aber nicht nur Unbequemlichkeit und Stress, sondern auch Geld.“ erzählt die Grundschullehrerin Komila*.
Im Gegensatz zu ihnen haben Jugendliche keine andere Wahl, als bis November weit von ihrem Haus zu sein. Pro Tag müssen sie mindestens 50 (in einigen Regionen sogar 80) Kilogramm Baumwolle ernten. Sammelt jemand weniger als die Hälfte davon, wird er vor seinen Kommilitonen bloßgestellt und in Verruf gebracht. Den Erzählungen einiger Studierenden nach müssen sie in diesem Fall länger auf dem Feld bleiben und bekommen später Abendessen als die anderen.
Um einer solchen Schande und Strafe auszuweichen, können „die Faulenzer“, wie sie genannt werden, einige Tricks anwenden. Manche feuchten einen bestimmten Teil der Baumwolle an, andere legen kleine Steine hinein, damit ihr Baumwollsack bei der Abgabe mehr wiegt. Einige Jungen versuchen sogar, bestimmte Mengen aus dem Lager zu klauen und noch Mal zum Abwiegen zu bringen.
Harte Seiten einer „goldenen Zeit“
Die Wohnbedingungen lassen meistens zu wünschen übrig. Jungen und Mädchen wohnen getrennt und jeder soll sich selbst mit Bettwäsche versorgen. Manchmal können naheliegende Wohnhäuser, Gebäude von Kindergärten und Schulen für diese Zeit gemietet werden. Da es nicht genug Betten für alle gibt, schlafen einige auf dem Boden. Das Essen organisieren normalerweise die Besitzer des Grundstücks. Mehreren Aussagen zufolge ist die Qualität dieser Lebensmittel jedoch nicht besonders gut. Deshalb besorgen meistens die Eltern oder Besucher die Verpflegung.
Das ist dennoch nicht alles, womit die Studenten unzufrieden sind. Sie sagen, sie seien für diese Zeit von der Welt „isoliert“, weil es weder Fernsehen noch Radio an ihrem Aufenthaltsort gibt. Mit dem Mobilfunknetz ist es gleichermaßen kompliziert.
„Es ist gut, wenn wir mit unserer Tochter, die seit diesem Jahr an der Pädagogischen Hochschule studiert, einmal pro Tag telefonieren können. Mehr als einen Monat lang erfüllt sie weit weg von uns ihre Pflicht. Wir haben sie einige Male besucht. Sie und andere Studierende wohnen in Zelten, die bloß am Tag durch die Sonne warm werden. Sie durfte sogar an Festtagen wie Kurban Hayit nicht nach Hause. Ihr wurde nur einmal ein dreitägiger Ausgang gewährt, als sie erkältet war,“ äußert Dilbar* ihr Missfallen.
Außerdem passieren häufig kleine, aber gelegentlich auch schwerere Verbrechen, wie Rowdytum oder Diebstahl. Die Studenten, die in dieser Baumwollregion fremd sind, werden von lokalen Teenagern verfolgt, was zu Konflikten und in manchen Fällen zum Faustkampf führt.
Nach der Arbeit unter solch harten Bedingungen bekommen die Studierenden keinen Urlaub, sondern setzen gleich ihr Studium fort. Die im Herbst verlorene Zeit wird im Sommer ausgeglichen. Sie studieren also noch im Juli weiter. Darauf freut man sich nicht besonders, weil das Wetter zu dieser Jahreszeit in Usbekistan sehr heiß ist.
Trotz aller dieser Nachteile der Baumwollzeit, versuchen die Studenten, ihr positives abzugewinnen: „Wir lernen neue Menschen kennen, abends kann man etwas zusammen unternehmen, wie Gruppenspiele. Man wird selbstständig. Die Studentenzeit ist eine goldene Zeit, man erlebt dann alles Mögliche“ – behaupten sie.
„Einen Ausweg gibt es immer“
Auch die meisten Staatsangestellten müssen trotz kleiner Kinder oder gar Gesundheitsproblemen neben den Studenten das „weiße Gold“ pflücken. Aber wie sagt man so oft: „Es gibt immer einen Ausweg“.
So ist es auch in diesem Fall. Wer sich weigert, ein „würdiger Bürger“ zu sein, muss zahlen. Mit dem Geld wird die Arbeit bezahlt, die von einer anderen Person erledigt wird. Die Ersatzarbeiter sind üblicherweise Arbeitslose, die in der Nähe wohnen.
Benazir
Autorin für Novastan.org, Usbekistan
Redaktion: Stephan Sprichmann
*Die Namen wurden geändert