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Eine Tour durch Ak-Talaa: Verbrechen, Tod und Sühne (5/6)

Nadine Boller, gebürtige Schweizerin, ist Dokumentarfilmerin mit einer Liebe für Kirgistan. Ihr letzter Film "Erkinai - die Halbnomadin" wurde auf Kika, dem deutschen Kinderkanal, gesendet. Für ihre neuesten Recherchen verbrachte sie mit ihrer kirgisischen Freundin Mahabat ein paar Tage in deren Heimatdorf Ak-Talaa, im Zentrum Kirgistans gelegen. In ihrer sechs-teiligen Serie gibt Nadine einen sehr persönlichen Einblick in die Kultur und Geschichte des kleinen Dorfes und lässt uns hautnah dabei sein. Heute geht es um Verbrechen und wie Sühne funktioniert auf dem kirgisischen Land...

Kiosk Dorf Kirgistan
Gula Ejes Kiosk

Nadine Boller, gebürtige Schweizerin, ist Dokumentarfilmerin mit einer Liebe für Kirgistan. Ihr letzter Film „Erkinai – die Halbnomadin“ wurde auf Kika, dem deutschen Kinderkanal, gesendet. Für ihre neuesten Recherchen verbrachte sie mit ihrer kirgisischen Freundin Mahabat ein paar Tage in deren Heimatdorf Ak-Talaa, im Zentrum Kirgistans gelegen. In ihrer sechs-teiligen Serie gibt Nadine einen sehr persönlichen Einblick in die Kultur und Geschichte des kleinen Dorfes und lässt uns hautnah dabei sein. Heute geht es um Verbrechen und wie Sühne funktioniert auf dem kirgisischen Land…

Teil 1: Mairamgül Eje, ihre Familie und die liebe Religion
Teil 2: Maraimbek, Gülzat und der Brautraub
Teil 3: Was das Eurohaus mit Korruption zu tun hat
Teil 4: Die Lebensrealität im Dorf

Die Nachrichten erreichen uns, das der Sohn der ehemaligen Mathelehrerin von Mahabat eine alte Frau überfahren hat. Natürlich müssen wir sie besuchen gehen. Auf dem Weg zum Haus von Mahabats Mathelehrerin kommt uns ein älterer Herr mit Kalpak (traditioneller Filzhut für Männer, Anm. der Redaktion) entgegen. Er heißt Kenjebek. Begeistert hält er uns an und grüßt Mahabat als wäre sie auf Staatsbesuch. „Schon lange möchte ich ein Buch über Sie und ihr Leben schreiben! Sie haben so viel erreicht und Ak-Talaa nie in Stich gelassen!“, sagt er erfreut. Nach einem höflichen Gespräch, viel Händeschütteln und ein paar Fotos lässt er uns weiterziehen.

Kenjebek
Kenjebek

Beim Weggehen flüstert Mahabat mir zu: „Dieser Typ saß acht Jahre im Gefängnis. Er hat in seinen jungen Jahren ein Mädchen vergewaltigt, erwürgt und danach begraben. Aber zu seinem Pech war sie nur bewusstlos und stieg wieder aus dem Grab heraus. Er wurde angezeigt und landete in einem sowjetischen Knast.“ Ich weiß nicht, was mich mehr beunruhigt hat: seine Geschichte oder die Beiläufigkeit, mit der Mahabat sie erzählt hat.

Ostalgie und Alkoholismus bei Gula Edsches Kiosk

Bevor wir bei Dschumagül Edsche aufkreuzen, müssen wir noch in einen der drei Dorfkiosks gehen, um ein kleines Geschenk zu kaufen. Es ist nämlich Teil der Tradition, einer trauernden Familie etwas mitzubringen. Vor dem Kiosk sitzen drei Herren aufgereiht auf einem Bänkchen, alle geschätzt zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig Jahre alt. Es ist drei Uhr nachmittags und sie sind alle sichtbar betrunken. Als ich den Fotoapparat zum Knipsen hochhalte, winkt der in der Mitte mit beiden Armen hektisch verneinend hin und her und stört dabei das hart erarbeitete Gleichgewicht der anderen zwei.

Ein Kurzer Wodka geht immer
Ein kurzer Wodka geht immer

„Keine Fotos machen! Es ist beschämend, dicht zu sein!“ Dafür sitzen sie aber ziemlich zentral auf der Dorfschaubühne, denke ich nur. Mahabat nennt mir ihre Namen: Azamat, Kanybek und Maksat. „Na? Habt ihr nichts zu tun?“, lacht Mahabat. „Naja, wir könnten die Felder bearbeiten, aber das machen unsere Söhne schon. Also bearbeiten wir lieber diese Flasche Arak“, lallt Kanybek fröhlich. „Und sonst gibt’s keine Arbeit?“, hakt Mahabat nach. „Nicht seit der Sowjetunion“, murmelt Azamat.

In einem interessanten aber eher ineffizienten Gespräch mit den drei Rotnasen wird klar, dass eine gewisse Nostalgie der Sowjetzeiten gegenüber besteht. Alles war besser damals, sagen sie. „Es gab genügend Arbeit für alle, wir hatten Geld, gute Straßen und einen Busfahrplan“, schwärmt Azamat. „Das Trostgeschenk der Sowjetunion ist der Wodka.“

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Das ist nicht gelogen. Als wir in Gula Edsches Kiosk eintreten, fällt mir gleich auf, dass sechs verschiedene Wodkaflaschen auf dem Regal stehen, es aber nur eine Sorte Tee im Angebot gibt. Poppige Namen wie „OK“, „ZERO“ und „Kalaschnikow“ sind auf den Etiketten zu lesen. Aber was meine Augenbrauen noch viel mehr in die Höhe zieht, sind die Preise: Die billigste Flasche kostet 110 Som (ungefähr 1.50 Euro) und wer einen Shot to-go möchte, kann sich einen Deziliter für 22 Som (35 Cent) im Joghurtbecher-Format erwerben. Kein Wunder, dass die  Langeweile mit Alkohol totgeschlagen wird. „Ich hätte gerne ein Päckchen Tee“, entscheidet sich Mahabat. „Das macht 80 Som“, sagt Gula Edsche.

Dschumagül Edsche und das geschlachtete Pferd

Als wir bei Dschumagül Edsche in den Hof hineinlaufen, muss die alte Frau erst mal ganz nahe an uns herantreten und die Augen zukneifen, bevor sie ausruft: „Ach! Du bist Mahabat! So lieb von dir, dass du gekommen bist!“ Beim Tschai mit unserem geschenkten Tee erzählt uns Dschumagül Edsche, wie ihr Sohn den Unfall verursacht hat.

Mahabat und Jumagül Eje
Mahabat und Jumagül Eje

Dschumagül Edsches Familie ist sofort nach dem Unfall zur Opferfamilie gereist und hat auch gleich als erste Entschuldigung eine Kuh mitgebracht. Nach einer Absprache hat die Opferfamilie entschieden, 300.000 kirgisische Som (etwa 4.200 Euro) als Entschädigung zu verlangen, was für Dorfbewohner ohne Einkommen eine unvorstellbar hohe Summe ist. Dschumagül Edsches Verwandte – nah und sehr fern – müssen also alle zusammen das Geld auftreiben, ansonsten werden sie vor das Gericht zitiert, was eine noch kostspieligere Angelegenheit wäre.

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Nur ein Teil des Geldes wird bar bezahlt. Mit dem Rest werden die Lebensmittel für die Trauerfeier besorgt, drei Pferde gekauft und geschlachtet. „Das eine Pferd haben wir schon getötet und sind gerade dabei, das Fleisch zu kochen. Wir bringen das ganze Tier in Kartonschachteln heute noch zur Opferfamilie.“ Traditionellerweise wird in Kirgistan am vierzigsten und am einjährigen Todestag nochmals eine Trauerfeier veranstaltet. Für beide Anlässe muss auch Dschumagül Edsches Familie die Kosten übernehmen.

Das Pferd ist schon geschlachtet
Das Pferd ist schon geschlachtet

Viel erfreulicher waren die Gespräche mit Dschumagül Edsche über die alten Zeiten, in denen Mahabat noch zu ihr in den Unterricht gegangen ist. „Was ist eigentlich aus Meerkül geworden? Von ihr habe ich gar nichts mehr gehört“, fragt Mahabat. „Ach, die wurde gleich nach der Schule entführt. Nun lebt sie als Nomadin auf der Söök Hochebene dreißig Kilometer außerhalb von Ak-Talaa.“

Wie geht es weiter Meerkül, Mahabats Schulfreundin, die jetzt als Nomadin lebt? Hier geht’s weiter: Merküül und das erzwungene Nomadentum.

 

Nadine Boller
Gastautorin und Dokumentarfilmerin, aktuell mit dem Film „Erkinai – Die Halbnomadin“

 

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