Am heutigen Sonntag, den 11. Dezember, wurden die Kirgisen an die Urnen gerufen, um über das lang geplante Verfassungsreferendum abzustimmen. Das kontroverse Projekt wurde von Präsident Almasbek Atambajew eingebracht. Die Debatte rund um das Referendum führte zu einer kompletten Umgestaltung der politischen Landschaft des Landes.
Auch wenn der Wahlkampf für das Verfassungsreferendum von den am selben Tag stattfindenden Regionalwahlen überschattet wurde, stand das Referendum im Mittelpunkt der politischen Debatte Kirgistans. Obwohl die kirgisischen Bürger kaum in die Debatte einbezogen wurden, dürfte dies die Schlüsselwahl der Präsidentschaft Atambajews werden und die politische Landschaft neu gestalten.
Eine Regierungskrise
Der politische Kampf gegen die Verfassungsreform wurde hauptsächlich in der Dschogorku Kengesch, dem kirgisischen Parlament, ausgetragen. Größere Bürgerbewegungen oder Demonstrationen blieben aus. Erstes Opfer der Debatte war die Regierungskoalition, die seit Oktober 2015 aus den Parteien „Kirgistan“, Ata-Meken (sozialistisch) und Onuguu-Fortschritt rund um die dominante Partei SDPK (sozialdemokratisch) bestand.
Der Zusammenhalt der Koalition war seit der Ankündigung des Reformsvorhabens Ende Augusts diesen Jahres schwer angeschlagen: die Parteien Ata-Meken und Onoguu-Fortschritt erklärten von Beginn an ihre Ablehnung der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen. In den folgenden Monaten luden sich die Spannungen zwischen den Koalitionspartnern weiterhin auf, was am 24. Oktober zum Bruch der Regierungskoalition führte. Die SDPK entschied, sich aus der Koalition zurückzuziehen, um den Weg für die parlamentarische Neuordnung zu öffnen. In der Folge gingen die beiden ehemaligen Verbündeten der SDPK in die Opposition und wurden in der Regierung durch die Partei Bir Bol ersetzt.
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Als Ergebnis dieser politischen Neuordnung gab es Streitereien innerhalb der Partei „Kirgistan“. Der Parteichef Kanatbek Isajew lehnte die Verfassungsreform ab, während die Mehrheit der Partei in der Koalition bleiben wollte und die Reform unterstützte. Der Parteichef musste zurücktreten und Parteikollege Almasbek Baatirbekow übernahm seinen Posten.
Die beiden Oppositionsparteien Ata-Jurt und Butun Kirgistan haben einen weiteren Schritt unternommen, den Führungsanspruch der SDPK zu untergraben: die Parteien kündigten ihre Fusion zu einem gemeinsamen parlamentarischen Block an. Beide Parteien planen, einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen von 2017 ins Rennen zu schicken. Der Kandidat soll auf einem gemeinsamen Parteikongress vorgestellt werden.
Wiederaufleben der Spannungen zwischen Tekebajew (Ata-Meken) und Atambajew
Im Zusammenhang mit der Verfassungsreform sind die Spannungen zwischen Omurbel Tekebajew, dem Vorsitzenden der Partei Ata-Meken, der nach dem Koalitionsbruch in die Opposition ging, und Präsident Almasbek Atambajew wieder aufgeflammt.
Die Feindschaft zwischen den beiden Männern ist nicht neu: beide sitzen seit zwanzig Jahren im Parlament und hatten über die letzten zwei Dekaden hinweg eine spannungsreiche Beziehung: manchmal waren sie durch die politischen Umstände gezwungen zusammen zu arbeiten. Öfters jedoch führten sie politische Kämpfe gegeneinander aus.
Ihre Meinungsverschiedenheit bezüglich der Verfassung ist eine neue Episode in den angespannten Beziehungen der beiden Politiker. Tekebajew war einer der Autoren der Verfassung von 2010, auf deren Aufrechterhaltung er pocht. Atambajew wiederum sieht in der Verfassung das noch unvollendete Projekt, Kirgistan einen funktionierenden Gesetzesrahmen zu geben. Seiner Meinung nach verleiht die Verfassung dem Parlament zu viel Macht und macht den Präsidenten und die Gouverneure zu Zuschauern des politischen Lebens. Im Premierminister sieht Atambajew die Quelle der Blockade vieler politischer Entscheidungen im Land.
Tekebajew wiederum argumentiert, dass das heutige Referendum zu einem neuen, autoritären Kirgistan führen würde, in dem das Parlament kaum mehr Macht besitzen wird. Der Text des Referendums ist sehr technisch und schwer verständlich für die meisten Bürger. Zudem wurde der Text mit einem „populistischen“ Maßnahmenpaket verwässert, das viele konservative Bürger erwarten (Entzug der Staatsbürgerschaft von Terroristen, das Primat nationaler Entscheidungen über internationale Vereinbarungen, Verbot der Homo-Ehe …)
Auf dem Weg zu einem Amtsenthebungsverfahren ?
Tekebajew ging soweit, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Atambajew vozuschlagen. Die Ankündigung wurde am 22. November auf einer Pressekonferenz gemacht, und der Abgeordnete hofft, dass das Verfahren im März gestartet werden kann. Hinter dieser Drohung steht der Vorwurf, der Präsident nutze seine Macht auf mit der Verfassung nicht vereinbare Weise. In der Praxis bestimmt er selbst die Verwaltungsdirektoren, was laut Verfassung nicht ihm zusteht, sondern im Zuständigkeitsbereich des Premierministers liegt. Laut Tekebajew stehen mehrere Präsidialdekrete der letzten Jahre im Widerspruch zur Verfassung.
Der Präsident habe damit einen „SDPK-Staat“ aufgebaut, in dem Beziehungen zur der Fortschrittspartei in der Verwaltung unerlässlich geworden sind. Dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Regierung wider, wo 15 der 18 Minister aus der SDPK stammen, während die Partei nur 38 der 120 Sitze in Dschogorku Kengesch hat. Die restlichen drei Minister werden von den kleinen Parteien Kirgistan und Bir Bol gestellt, die Atambajews Macht nicht herausfordern.
Der Rückgriff auf eine Amtsenthebung wäre in der Geschichte Kirgisistans beispiellos. Damit ein solches Verfahren gelingen kann, müsste eine Koalition von Parteien gebildet werden. Es genügt, dass 40 der 120 Abgeordneten über die Resolution abstimmen, was nicht unrealistisch erscheint. Atambajew schenkt dieser Bedrohung aber wenig Aufmerksamkeit. Bei einer Pressekonferenz am 2. Dezember antwortete er auf die Möglichkeit einer Amtsenthebung mit: „Es wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre.“
Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass andere Parteien Ata-Meken auf diesem Weg folgen, da sie mit der Entfernung des Präsidenten riskieren würden, das Land zu destabilisieren. Der Rest der Opposition zieht es vor, auf die für November 2017 geplanten Präsidentschaftswahlen zu warten, um ihre eigenen Kandidaten in Stellung zu bringen.
David GAUZERE,
Präsident des Centre d’Observation des Sociétés d’Asie centrale (COSC)
Mitglied des club Montesquieu de Recherche Politique (Universität von Bordeaux)
Bertrand GOUARNE
Vizechefredakteur von Novastan.org
Aus dem Französischen übersetzt von Corinna Vetter und Luisa Podsadny