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Die 40 Mädchen von Kirgistan und das Wunder der Berührung

Mit ihrem Debütroman «Vierzig Mädchen» führt Maren Ernst ihre Leser:innen in die Welt kirgisischer Waisenheime. Eine Rezension.

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Mit ihrem Debütroman «Vierzig Mädchen» führt Maren Ernst ihre Leser:innen in die Welt kirgisischer Waisenheime. Eine Rezension.

«Sie sollte sich auskennen mit dem Spuk, mit der Zeit, die nicht vergeht. Mit der Zukunft, die sich nicht ergibt. Hauntology hatte ein französischer Philosoph dieses Phänomen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einst benannt. Gespensterkunde. Permanente Heimsuchung. Endloses Straucheln. War das nicht ihr Thema?»

Diese Gedanken geistern der Protagonistin Marie in einem Café in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek durch den Kopf, als sie sich mit der aus der Schweiz stammenden Charlotte unterhält. Die Szene spielt in Maren Ernsts Debütroman «Vierzig Mädchen», der 2025 im Verlag Monhardt erschienen ist. Die zwei Frauen eint ein unsichtbares Band: Seit den 1990er Jahren fühlten sich beide zu den Ländern im postsowjetischen Raum hingezogen, insbesondere zu Kirgistan. Diese Faszination entwickelte sich für Marie, als sie für ihr Studium in das zentralasiatische Land zog, und ihre Begeisterung hat seit dieser Zeit nicht nachgelassen.

Obwohl sie nach dem Abschluss ihres Studiums wieder nach Deutschland zurückkehrt, bleibt sie mit Kirgistan verbunden und reist regelmässig wieder dorthin – zum einen um ihre zahlreichen Freunde zu besuchen, zum anderen für «ihr Projekt». Denn zusammen mit Pia, einer weiteren Deutschen, die sich in Kirgistan aufhält, arbeiten Marie und Charlotte gemeinsam mit einer Gruppe Kirgisinnen an etwas, das schnell zu einer Lebensaufgabe für alle Beteiligten wird: Sie versuchen, die desaströsen Zustände in kirgisischen Waisenhäusern zu beseitigen und den dortigen Kindern eine bessere Zukunft bieten.

In den Ländern Zentralasiens, aber vor allem in Kirgistan, wachsen überdurchschnittlich viele Kinder ohne Familie auf. 94 Prozent der Kinder, die in Kirgistan in Heimen leben, sind jedoch keine Waisen im eigentlichen Sinne. Sie sind Sozialwaisen. Das bedeutet, sie haben noch zumindest einen Elternteil, wobei diese aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sind, ihr Kind bei sich in der Familie aufzuziehen.

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Mit zahllosen Wendungen und einem gut aufgebauten Spannungsbogen lädt die Autorin dazu ein, herauszufinden, ob Marie, Charlotte und Pia mit ihrem Projekt erfolgreich sind. Neben dieser Haupthandlung des Buches sind immer wieder auch die Lebensgeschichten einzelner Kirgis:innen, eingeschoben, die mal mehr, mal weniger Einfluss auf die Geschehnisse im Buch nehmen. Da ist beispielsweise Sarina, welche als Arbeitsmigrantin in Moskau lebt. Auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit wurde Sarina vergewaltigt und schwanger, was für sie mit einem sozialen Stigma in ihrer Heimat verbunden ist. Die Organisation von Marie und ihren Freundinnen wird für sie eine Rettung, da sie sich durch die Zusprache der Frauen ermutigt fühlt, die Hilfe ihrer Familie und Freunde in Anspruch zu nehmen.

Durch diese und weitere Erzählungen erfährt die Leserschaft vieles über die heutigen Lebensrealitäten in den zentralasiatischen Ländern: In Sarinas Fall insbesondere die Arbeitsmigration nach Russland und die dortigen gefährlichen Zustände der Arbeitsmigrant:innen (so hat sich dies vor allem für Tadschik:innen seit dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall im März 2024 deutlich verschlechtert).

Biographische Bezüge

Wie sehr die Geschichte der Protagonistin Marie dem tatsächlichen Leben und den Erfahrungen der Autorin Maren Ernst gleicht, wird – außer in der biographischen Notiz am Ende des Umschlags – nicht thematisiert. Wie Marie gründete auch Maren Ernst ihre Organisation «Uplift / Aufwind», nachdem sie selbst in Kirgistan mit eigenen Augen die Zustände in dortigen Waisenhäusern sah. Die Organisation hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2009 zu einer breiten Frauen-Hilfsorganisation in Kirgistan entwickelt. Die Arbeitsweise von Uplift gleicht jener der ungenannten Organisation in «40 Mädchen» – Maren Ernst macht die Entstehungsgeschichte ihrer Organisation und die Problematik im Zusammenhang mit Waisenkindern in Romanform so einer breiten Leserschaft zugänglich.

Sehr schön beschrieben wird, warum Protagonistin Marie und ihre Mitstreiterinnen dies alles auf sich nehmen: Die eigene Vergangenheit wird thematisiert (Stichwort: Hauntology) und auch persönliche Traumata werden angesprochen – man kann direkt in die Gedanken der Frauen eintauchen und fühlt mit, warum die Waisenkind-Thematik sie so sehr in den Bann zieht.

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Einzig wird im Buch nicht immer ganz klar, wann welche Ereignisse passieren. Trotz vereinzelter Jahreszahlen und Erwähnungen signifikanter Ereignisse der jüngeren kirgisischen Geschichte (so etwa die Tulpenrevolution 2005 und die Aprilrevolution 2010) springt die Autorin manchmal in ihrer Erzählung zeitlich hin und her. Es fällt dadurch leicht, sich im Buch und der Geschichte zu verlieren – was der Autorin aber vielleicht auch als literarischer Kniff dient, um die teilweise chaotischen Ereignisse in der kirgisischen Geschichte mit ihrer Schreibweise widerzuspiegeln.

«Vierzig Mädchen» ist ein lesenswertes Buch, das die Praxis von Waisenhäusern in der ehemaligen Sowjetunion treffend beschreibt und unaufgeregt über mögliche Lösungsansätze – in Zusammenarbeit zwischen Kirgis:innen und Helferinnen aus dem Westen – beschreibt. Auch die einzelnen Vignetten über die verschiedenen Lebensgeschichten einzelner Kirgis:innen geben einen tiefen und persönlichen Einblick in die jüngere kirgisische Geschichte. Besonders hervorzuheben ist auch die schöne Gestaltung des Buches aus dem Verlag Edition Monhardt, welches sich optisch perfekt den übrigen Büchern mit Zentralasien Fokus aus dem Verlag einreiht.

Maren Ernst: Vierzig Mädchen, 196 Seiten, Edition Monhardt, ISBN 978-3-910928-01-5, März 2025

Erwerb möglich über die Seite des Verlages.

Maximilian Rau für Novastan

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