Jańaózen, eine Stadt im Westen Kasachstans, steht erneut im Mittelpunkt von Protesten, denen politische und wirtschaftliche Forderungen zugrunde liegen. Dutzende Beschäftigte einer Ölfirma forderten eine Wiedereinstellung nach ihrer Entlassung sowie bessere Arbeitsbedingungen. Die Proteste fanden auch in anderen Städten Kasachstans Anklang und könnten sich im ganzen Land ausbreiten.
Eine Nacht vor dem Energieministerium. In Astana harrten vom 11. auf den 12. April rund 50 Arbeitende des Ölunternehmens KazMunaıGaz bei -1 Grad vor dem hohen Turm des Ministeriums aus. Sie waren in Arbeitskleidung direkt aus der Stadt Jańaózen im Gebiet Mańǵystaý gekommen, wie Radio Azattyq berichtet.
Seit dem 1. April sind diese ehemaligen Ölarbeitenden arbeitslos, da das private Unternehmen eine Ausschreibung verloren hat. Sie hatten zunächst einen Streikposten vor dem Büro von ÓzenMunaıGaz aufgestellt, einer in Jańaózen ansässigen Tochtergesellschaft von KazMunaıGaz, für die die Firma „Berali Region Mańǵystaý“ Unteraufträge ausgeführt hatte. Nachdem sie ihre Forderungen nicht durchsetzen konnten, machten sie sich auf den Weg in die Hauptstadt Astana, um ihren Stimmen dort Gehör zu verschaffen, so das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast.
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Nachdem die im Moment Arbeitslosen mehrere Stunden vor dem Ministerium verbracht hatten, wurden sie am Abend des 11. April von vermummten Männern des Sicherheitsdienstes auf die Polizeistation gebracht. Etwa 20 Demonstrierende wurden festgenommen, wie ein Reporter von Radio Azattyq schreibt. Die meisten von ihnen wurden anschließend nach Mańǵystaý zurückgeschickt, während eine Handvoll aufgefordert wurde, für noch andauernde Verhandlungen in Astana zu bleiben.
Verhandlungen laufen noch
Das staatliche Unternehmen KazMunaıGaz, dessen Tochtergesellschaft ÓzenMunaıGaz in Jańaózen tätig ist, erklärte laut Vlast, dass den Ölarbeitenden angeboten worden sei, zu anderen Unternehmen zu wechseln. Dieses Angebot hätten sie jedoch abgelehnt und erklärt, dass es sich wieder nur um eine befristete Beschäftigung handeln würde. Sie sprachen auch von sozialer Ungerechtigkeit und machten darauf aufmerksam, dass sie bei ÓzenMunaıGaz für eine ähnliche Arbeit besser bezahlt werden würden als bei den Subunternehmern, die auch kein Sozialpaket anbieten würden.
Daraufhin wurde am 11. April in Astana eine Kommission zur Aufnahme des sozialen Dialogs eingesetzt. Sie setzt sich aus Vertretenden des Energieministeriums, des Ministeriums für Arbeit und Sozialschutz, des Samuryq-Qazyna-Fonds sowie des staatlichen Unternehmens KazMunaıGaz zusammen, um mit einer Gruppe entlassener Jańaózen-Beschäftigter zu verhandeln. Doch die Gespräche kommen für den Geschmack des Gewerkschaftsführers Jolmurat Ulyhpan zu langsam voran, berichtet Vlast.
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Die Entschlossenheit der Arbeiter von Jańaózen führt dazu, dass der Konflikt zwischen den sozialen Körperschaften ernst werden könnte. Am 13. April strahlte Radio Azattyq ein Video aus, das die Arbeitenden in einer der Stationen auf dem Rückweg nach Mańǵystaý aufgenommen hatten und in dem sie erklärten, sie seien bereit, in die Hauptstadt zurückzukehren, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden und die Verhandlungen scheiterten. Am nächsten Tag erschien eine weitere Videobotschaft in den sozialen Netzwerken, in der Beschäftigte von Jańaózen versprachen, im Büro von ÓzenMunaıGaz zu verharren, bis eine Entscheidung über ihre Forderungen getroffen worden sei.
Wut breitet sich im Westen Kasachstans aus
Mehr als 2000 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, in Jańaózen, stieg die Spannung, als ein Video von in Polizeiwagen verfrachteten Arbeitenden in den sozialen Netzwerken geteilt wurde. Zwischen 1000 und 2000 Menschen versammelten sich vor dem Rathaus, einige begannen zu marschieren und skandierten Forderungen.
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Die Wut über die Verhaftung der Arbeitenden breitete sich schnell auf andere Städte in der Region Mańǵystaý aus. Die Beschäftigten mehrerer Ölgesellschaften riefen Streiks aus; in der Stadt Aqtaý fanden spontane Märsche statt, berichtet Eurasianet, während einige Tage später ein Unterstützungsvideo aus der Stadt Oral ausgestrahlt wurde.
Auch in anderen Wirtschaftszweigen wurden Lohnforderungen laut, wie im Kernkraftwerk Mańǵystaý, wo Angestellte in einem offenen Brief an Präsident Qasym-Jomart Toqaev bessere Arbeitsbedingungen forderten, berichtete die Nachrichtenagentur KazTag. Am Vortag hatten im Gebiet Jambyl die Beschäftigten des Unternehmens Kazphosphate die Arbeit niedergelegt und veranstalteten eine friedliche Kundgebung.
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Ab dem 12. April organisierte sich eine von der oppositionellen politischen Bewegung „Oyan, Qazaqstan!“ angeführte Unterstützungskampagne in sozialen Netzwerken, um die Arbeitenden in Jańaózen zu unterstützen, berichtet Radio Azattyq. Dutzende öffentliche Persönlichkeiten sowie Anonyme posteten auf Instagram oder Twitter ein Foto mit #SupportZhanaozen (#ZhanaozendiQolda).
Droht ein zukünftiger Flächenbrand im Land?
Die Aktivist:innen machen vor allem darauf aufmerksam, dass die Probleme der Bevölkerung dieser Industriestadt, die durch ihre Bodenschätze reich geworden ist, von Jahr zu Jahr größer werden. Die Entwicklung der Stadt ist schwach und sie ist nach wie vor stark verschmutzt. Die Ölarbeitenden, von denen die Stadt lebt, erhielten bisher keine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, wie eine Reportage von Vlast zeigt.
„Der Westen des Landes war schon immer in einer besonderen Position“, erklärt der Politologe Dosym Sátbaev in einem Interview mit Radio Azattyq. „Diese Region ist einer der größten Geldgeber für den Haushalt der Republik, aber andererseits hat sie traditionell, auch in Jańaózen, ernste Probleme mit der Lebensqualität, Arbeitslosigkeit und Wasserknappheit. Viele Jahre lang haben die Behörden diesen Problemen keine Aufmerksamkeit geschenkt.“
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In der Nacht des 11. April waren die Internet- und Telefonsignale in Jańaózen gestört, was ein Zeichen dafür ist, dass die Behörden befürchten, dass die Proteste eskalieren und sich ausweiten könnten. Ein mögliches Szenario, meint Sátbaev, für den „die kasachstanischen Behörden seit 30 Jahren die Gewerkschaftsbewegungen zerstören.“
Bereits im Dezember 2011 waren ähnliche Demonstrationen in Jańaózen von den Behörden hart niedergeschlagen worden. Dabei starben 17 Menschen und NGOs wie Human Rights Watch hatten auf ein autoritäres Abdriften der kasachstanischen Machthabenden hingewiesen. Mehr als zehn Jahre später, während des blutigen Januars im Jahr 2022, hatten die spontanen Demonstrationen im ganzen Land ebenfalls in Jańaózen begonnen, nachdem die Benzinpreise gestiegen waren.
Emma Collet, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Michèle Häfliger
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