Startseite      „Wenn ich damals richtig aufgeklärt worden wäre, hätte ich nicht so viel Zeit verloren“ – Über HIV-Selbsthilfe in Almaty

„Wenn ich damals richtig aufgeklärt worden wäre, hätte ich nicht so viel Zeit verloren“ – Über HIV-Selbsthilfe in Almaty

ZENTRALASIEN SOZIAL. Zulfıa Saparova aus Almaty lebt seit 15 Jahren mit HIV. In den ersten zwei Jahren akzeptierte die dreifache Mutter die Diagnose nicht, weil sie nichts über das Humane Immundefizienz-Virus wusste. Seit drei Jahren berät sie Frauen, die erst kürzlich ihre Diagnose erhalten haben. Zulfıa spricht über die Akzeptanz des HIV-Status, die Vorteile von Peer-Beratung und die Bedeutung von Informationen, damit die Betroffenen nicht verzweifeln oder wertvolle Zeit verlieren.

Aislu Asan 

Übersetzt von: Michèle Häfliger

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Die rote Schleife als Awareness Ribbon für AIDS (Quelle: Wikimedia Commons)

ZENTRALASIEN SOZIAL. Zulfıa Saparova aus Almaty lebt seit 15 Jahren mit HIV. In den ersten zwei Jahren akzeptierte die dreifache Mutter die Diagnose nicht, weil sie nichts über das Humane Immundefizienz-Virus wusste. Seit drei Jahren berät sie Frauen, die erst kürzlich ihre Diagnose erhalten haben. Zulfıa spricht über die Akzeptanz des HIV-Status, die Vorteile von Peer-Beratung und die Bedeutung von Informationen, damit die Betroffenen nicht verzweifeln oder wertvolle Zeit verlieren.

„Zentralasien Sozial“ ist eine Reihe von Artikeln, die im Rahmen des Projekts „Consolidation of CBR structures in Tajikistan, Kyrgyzstan, Uzbekistan and Kazakhstan and further professionalization of social work training using the CBR approach“ entstanden sind. Im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanzierten und von Caritas Deutschland in Tadschikistan durchgeführten Projektes hat Novastan eine journalistische Fortbildung rund um das Thema soziale Arbeit organisiert.

Zulfıa, 53, ist weder drogenabhängig noch eine promiskuitive Frau, wie man in der kasachstanischen Gesellschaft beim Wort HIV gemeinhin annimmt. Viele Jahre lang hatte sie Schuldgefühle gegenüber ihrem jüngsten Sohn: Das Virus wurde durch das Stillen auf ihn übertragen, als sie sich ihrer Diagnose noch nicht bewusst war. Zulfıa verstand nicht, wo sie sich mit dem Virus angesteckt haben könnte, leugnete die Diagnose und glaubte an eine Verschwörung in der Pharmaindustrie, die sich an Menschen wie ihr bereichern wollte. Und das alles, weil sie nichts über HIV und Therapiemöglichkeiten wusste, durch welche ein langes und erfülltes Leben möglich ist.

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Erst später wurde ihr klar, dass sie sich in einer medizinischen Einrichtung infiziert hatte. Und sie realisierte, dass sie ihrem HIV-positiven Kind zuliebe etwas dagegen unternehmen musste. „Ich habe mich zusammengerissen, weil ich sehen wollte, wie mein Sohn groß wird und zur Schule geht. Ihm zuliebe habe ich eine Therapie begonnen. Aber die Schuldgefühle haben mich nicht verlassen“, erklärt Zulfıa.

Hilfe zur Selbsthilfe

Sie erkannte, dass sie nicht nur eine Behandlung brauchte, sondern auch Unterstützung und Kommunikation mit Menschen, die wie sie selbst HIV-positiv waren. Sie wollte verstehen, wie sie mit der Immundefizienz lebten. Deshalb zogen sie und ihr Sohn vom regionalen AIDS-Zentrum in das städtische um, wo es entsprechende Fachleute wie Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen gab. Im Jahr 2015 gründeten Eltern infizierter Kinder eine allgemeine Schulung zum Verständnis von HIV und dem Leben mit der Krankheit; so entstand der Eltern-Chatraum.

„Wir wollten, dass auch unsere Kinder eine Invaliditätsleistung erhalten, unabhängig von zusätzlichen Krankheiten. So wie für die Kinder im Gebiet Südkasachstan, wo sich im Jahr 2006 Kinder mit HIV infiziert haben“, erinnert sich Zulfıa.

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Das Ziel wurde erreicht, und die Mutter erfuhr danach immer mehr über die Lebensperspektiven ihres Sohnes. Aus dem Sommerlager in Sotschi brachte er eine neue Erkenntnis mit: HIV-positive Menschen können gesunde Kinder bekommen. „Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich dachte, dass er nicht in der Lage sein würde, eine Familie zu gründen. Er wollte keine Kinder haben. Als er zurückkam, hat er alle meine Fragen beantwortet. Ich wollte immer mehr über die Krankheit erfahren, alles Neue kennen lernen“, erzählt die Mutter.

Von der Betroffenen zur Beraterin

Zulfıa nahm aktiv an verschiedenen Schulungen teil. Heute ist sie Beraterin bei der Gemeinschaftsstiftung Peer Plus. Die Mitarbeiter:innen des Zentrums für AIDS-Prävention und -Kontrolle in Almaty vermitteln den Frauen ihre Kontakte, und Zulfıa hilft ihnen, sich selbst zu akzeptieren. Sie erklärt ihnen, wie sie mit der ARV-Therapie ein erfülltes Leben führen können. Eine von ihnen ist Svetlana (Name geändert). Als Zulfıa sie das erste Mal traf, weigerte sie sich, die Tabletten zu nehmen und bat darum, in Ruhe gelassen zu werden.

Der Ehemann der Frau war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Als Zulfıa ihr sagte, dass auch sie HIV-positiv und zu einem Gespräch bereit sei, meldete sich die Frau nicht. Drei Monate später besuchten sie und eine Krankenschwester Svetlana erneut. „Wir sagten, wir seien weiterhin bereit für ein Gespräch mit ihr und werden wiederkommen. Schließlich habe ich sie zum Reden gebracht und überredet, sich behandeln zu lassen. Ihr Immunsystem war bereits geschwächt“, erinnert sich die Peer-Beraterin.

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Anschließend half sie Svetlana bei der Erstellung der Behandlungsunterlagen. So kam die Frau zur Selbsthilfegruppe der Stiftung, in der Frauen ihre Geschichten erzählten. Jetzt erhält sie nicht nur eine Therapie, sondern spricht auch bei Treffen darüber, wie sie gelernt hat, mit HIV zu leben. Zulfıa bezeichnet sich selbst nicht als Sozialarbeiterin, da sie keine spezielle Ausbildung hat. Sie ist jedoch davon überzeugt, dass Peer-Beratung mit ansprechenden Schulungen und verständlichen Präsentationen der effektivste Weg ist, um die Bevölkerung mit den nötigen Informationen zu versorgen.

HIV – immer noch ein heikles Thema in Kasachstan

„Im Jahr 2020 stellten wir Fragen zu den Übertragungswegen von HIV in den Straßen von Almaty. Junge Menschen haben eher korrekt geantwortet, sie sind besser informiert. Doch die ältere Generation bat uns wegzubleiben. Sie sind überzeugt, dass HIV so ansteckend wie eine Grippe ist“, so Zulfıa. Sie ist der Meinung, dass der Ansatz der HIV-Behandlung selbst die Betroffenen diskriminiert. Warum sollten solche Patient:innen gesondert behandelt werden? Warum wird diese Krankheit nicht so wahrgenommen wie zum Beispiel Diabetes oder Krebs? Nur in den postsowjetischen Ländern bestehen separate AIDS-Zentren, in europäischen sind sie in allgemeinen Krankenhäusern untergebracht.

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Im Jahr 2022 werden in Kasachstan über 30.000 Menschen mit HIV leben. Der Anteil von Frauen an neu entdeckten Fällen liegt bei 33 Prozent. Mehr als 3.000 bleiben unbehandelt. Expert:innen zufolge weiß die Bevölkerung Kasachstans so gut wie nichts über HIV, bis sie direkt mit der Krankheit konfrontiert werden. Deshalb ist es wichtig, nicht nur über Übertragungswege und Vorbeugung zu informieren, sondern auch darüber, dass HIV keine Plage des 21. Jahrhunderts mehr ist, sondern dass es vor allem darum geht, sich selbst zu helfen.

Aislu Asan, Kasachstan

Aus dem Russischen von Michèle Häfliger

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