Der Toktugul-Stausee und seine Nutzung sorgen seit Jahrzenten für Streit zwischen Kirgistan und Usbekistan. Fergana News zeichnet die Geschichte des Bauwerks und des damit verbundenen Konflikts nach. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Was bedeuten das Wasserkraftwerk Toktogul und andere Großprojekte des Sozialismus für die Zentralasiatischen Sowjetrepubliken? Wie wurden die Leuchtturmprojekte der Modernisierung, die Stromversorgung und andere Vorteile der Zivilisation für die ehemaligen Ränder des Russischen Imperiums brachten und als Sprungbretter zum Sozialismus dienten sollten, zu einer Quelle von Konflikten? Warum gingen die kirgisische und die usbekische Sowjetrepublik, ehemals zu brüderlicher gegenseitiger Hilfe verpflichtet, zu einem rücksichtslosen Kampf um Ressourcen über?
Mit dieser Frage beschäftigt sich die kürzlich erschienene Arbeit von Moritz Florina von der Universität Erlangen-Nürnberg, in der er die politische Geschichte des Wasserkraftwerks Toktogul beschreibt. Der Wissenschaftler setzte sich dafür mit der sowjetischen Presse der 1960er und 70er Jahre auseinander und studierte belletristische Literatur, die sich mit dem Projekt befasst, sowie die mehrbändigen Erinnerungen des ehemaligen ersten Sekretärs der kommunistischen Partei der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) Turdakun Usubalijew und Archivdokumente aus Osch und Bischkek. Sein Text „Emptying lakes, filling up seas: hydroelectric dams and the ambivalences of development in late Soviet Central Asia” wurde in dem wissneschaftlichen Journal Central Asian Survey veröffentlicht.
Der Aufbau des Sozialismus – ein Sieg über die Rückständigkeit
In der Ära Chruschtschow verstärkten sich in Asien und Afrika die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen gegenüber den Kolonialmächten. Die Sowjetunion beteiligte sich aktiv an diesem Prozess und versuchte die Länder der Dritten Welt in das Lager des Sozialismus zu holen. Historiker beschreiben, dass die Leiter der zentralasiatischen Republiken das günstige außenpolitische Umfeld nutzten und Investitionen für ihre Wirtschaft herausschlugen, denn besonders die südlichen Republiken fungierten – sozusagen als Schaufenster des „Sozialismus im Osten“ für Gäste aus Asien und Afrika.
Die Idee ein Wasserkraftwerk im Naryn zu errichten wurde erstmals im Jahr 1960 den beiden Generalsekretären Scharaf Raschidow (Uskebische SSR) und Ischak Rasakow (Kirgisische SSR) vorgestellt. Die kirgisische Seite versprach sich mehr Strom für Frunse (heute Bischkek) und Osch, während die usbekische Seite sich eine stabile Wasserzufuhr für das Ferganatal erhoffte. Das Wasserkraftwerk, so schrieb es die Zeitung „Prawda“, sollte im Sinne der sowjetischen Gigantomanie, den Baumwollbauern von Fergana 100 000, zwei oder sogar drei Millionen Hektar bewässerte Flächen bringen. Und an den Ufern des künstlichen Sees sollten Ferienorte gebaut werden, nicht schlechter als die am Schwarzen Meer.
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Allerdings wurde die Entscheidung das Wasserkraftwerk zu bauen erst nach dem Rücktritt Rasakows getroffen. Sein Nachfolger Turdakun Usubalijew bemerkt in seinen Memoiren, dass er nicht unbedingt eine Wasserkraftanlage bauen wollte, sondern eher ein Befürworter davon war, rund um Frunse und seine Industrieunternehmen eine Reihe kleinerer Wärmekraftwerke zu bauen – ein bescheideneres und nützlicheres Projekt für seine Republik. Dennoch wurde der Bau des Wasserkraftwerkes unter ihm beschlossen, im Juni 1962. Das Projekt diente als Symbol der Völkerfreundschaft. Am Bau waren tausende von Arbeitern aus der gesamten Sowjetunion beteiligt und die Presse versäumte nicht zu bemerken, dass die höher entwickelten Republiken dabei halfen, die Industrien der ehemaligen „rückständigen“ Kolonien des zaristischen Russlands aufzubauen.
Darüber hinaus wurde das Projekt, ähnlich wie die Wasserkraftwerke DniproHES und Bratsk, als ein leuchtendes Beispiel des Sieges über die Naturgewalten gefeiert. Die Bauarbeiter kletterten heldenhaft auf steile Klippen und schleppten sogar Bulldozer dorthin. 523 Kletterer aus der ganzen Sowjetunion waren am Bau beteiligt und stiegen an Stellen, an denen zuvor nur Schneeleoparden gewesen waren. Arbeiter, Kletterer und Ingenieure „zähmten“ mit kollektiven Kräften den widerspenstigen Fluss Naryn.
Sie vergaßen jedoch nicht, dass das Projekt des Wasserkraftwerkes vor allem den Kirgisen gehörte. Es wurde zu Ehren des bekannten Akyns Toktogul Satylganov benannt, der ausgerechnet aus der Region stammte, die vom Stausee überflutet wurde. Aber auch zeitgenössische Schriftsteller lobten das Wasserkraftwerk in den höchsten Tönen: Sujunbai Eralijew verglich den Bau mit der Zähmung und Dressur von Wildpferden und Turar Koshomberdijew versicherte den Lesern, dass die Naturgewalten nach dem Bau des Wasserkraftwerks das Leben der Hirten und ihrer Herden nicht mehr bedrohen würden.
Wasser als Gegenleistung für Investitionen
Offiziell sollte das Wasserkraftwerk für alle von Nutzen sein: die Kirgisen sollten mehr Strom bekommen, die Täler des Usbekischen SSR eine ständige Wasserzufuhr für die Baumwolle und alle anderen Völker der UdSSR das Gefühl, den Aufbau des Sozialismus auf die nächste Stufe zu bringen. Jedoch wurden faktisch bereits vor Fertigstellung des Projekts die zukünftigen Konflikte geschaffen: die Bewässerung der usbekischen Ländereien hing von Entscheidungen ab, die in Frunse und letzten Endes in Moskau getroffen wurden.
Die Konflikte brachen bereits während des Planungsstadiums des zukünftigen Wasserkraftwerkes im April 1962 aus. Als das Ferganatal von einer schlimmen Dürre heimgesucht wurde, schlug der Leiter der Landwirtschaftsabteilung des Zentralkomitees der KPdSU Wassilij Poljakow Usubalijew vor, den Wassermangel mit Hilfe des Songköl-Sees zu lösen. Die Idee bestand darin, den Abfluss des Sees mit einer Reihe von Explosionen zu erweitern und dadurch den Zufluss in den Naryn zu erhöhen. Usubalijew war nach eigenen Angaben schockiert von diesem Vorschlag.
Der Songköl zeichnet sich durch eine einzigartige Natur und unberührte Landschaften aus und Experten versicherten Usubalijew, dass der See innerhalb weniger Tage austrockenen würde, sollte dieser Plan realisiert werden. Daraufhin wandte sich Usubalijew persönlich an Chruschtschow und überzeugte ihn davon, das Projekt zu stoppen. Er argumentierte, dass es in diesem Fall wichtiger war den einzigartigen See zu schützen und es ihm nicht nur darum ging, die eigene Republik zu schützen.
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Mit Baubeginn des Wasserkraftwerkes kam es ständig zu solchen Konflikten. So gab es beispielsweise Streit darüber, wo genau das Kraftwerk gebaut werden sollte. Die Kirgisen wollten einen Platz weiter oben am Lauf des Naryn, um (bei Überschwemmungen) weniger Land zu verlieren, während die Usbeken den Stausee mit maxialem Fassungsvolumen bauen wollten, um somit die potentiellen Wasserreserven für ihre Felder zu erhöhen.
Weitere Konflikte gab es darüber, wo die Hochspannungsleitungen gelegt werden sollten. Bereits ab 1962 bat die kirgisische Seite das Energieministerium der UdSSR die Leitung möglichst schnell nach Frunse zu legen. Aber den ersten Strom bekamen die Bewohner der Stadt Andischon, auf der anderen Seite der Republikgrenze. Nach Frunse wurde die Leitung erst im Jahr 1979 gelegt. Und Taschkent gewann auch im Jahr 1974, also das Feganatal unter einer Dürre litt und die usbekische Führung darum bat, das Wasserreservoir nicht volllaufen zu lassen und das Wasser stattdessen auf die Felder zu leiten. Die Ingenieure und die Führung der Kirgisischen SSR protestieren, da dies dazu führte, dass der Start der Wasserkraftwerksturbinen um ein weiteres Jahr verschoben wurde, aber die Baumwolle war auch dieses Mal wichtiger.
Nicht selten aber konnte sich auch die kirgisische Führung durchsetzen. Als das Wasserkraftwerk Andischon 1962 buchstäblich neben dem Naryn am Fluss Kara-Daryja gebaut wurde, sollte sich der größte Teil seines Speichers auf dem Territorium der Kirgisischen SSR befinden. Das Zentralkomitee der kirgisischen Abteilung der KPdSU stimmte dem „brüderlichen Bau“ zu, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Da der Wasserspeicher 5022 Hektar Weideflächen und andere Flächen der Republik „abdecken“ sollte, schlugen die Kirgisen vor, zusätzliche Bewässerungskanäle zu schaffen und ihnen darüber hinaus, einen Teil der Fläche der usbekischen SSR zur Verfügung zu stellen. Dorthin sollten die Bewohner der Orte, die dem Wasserspeicher der Wasserkraftwerke Toktogul und Andischon weichen mussten, umgesiedelt werden. Alle diese Forderungen wurden erfüllt: die Kirgisen erhielten 4127 Hektar Fläche. Außerdem versprach Taschkent Mittel für die Umsiedler zur Verfügung zu stellen und den Bau von zwei Kanälen zu finanzieren.
Millionen für die Umsiedlung
Die Umsiedlung der Bewohner der überfluteten Territorien, vor allem des Ketmen-Tjube-Tals, war für die Machthaber über viele Jahre hinweg ein schmerzhaftes Unterfangen. Ein Teil der Kosten für die Umsiedlung und den Bau von Häusern übernahm das Energieministerium der UdSSR, den anderen Teil – der Ministerrat der Kirgisischen SSR. Aber bereits 1968 untersuchte das Parteikomitee von Osch die Situation vor Ort und forderte entsetzt noch mehr finanzielle Unterstützung. Es hatte sich herausgestellt, dass das Tal hauptsächlich von ehemaligen Nomaden bewohnt wurde, die in den Jahren 1946-1952 zu einem sesshaften Lebensstil gezwungen worden waren. Sie mussten den Staat für ihre neuen Häuser bezahlen und deshalb waren viele von ihnen immer noch verschuldet.
Im Jahr 1971, als die Umsiedlung bereits beginnen sollte, gab es einige ungünstige Bedingungen. In Toktogul, der neuen Stadt für die Umsiedler (am Ufer des Stausees) gab es immer noch keinen Strom. Usubalijew musste persönlich einen Brief an der Vorsitzenden des Ministerrats Alexei Kossygin schreiben und darauf hinweisen, dass die Kirgisische SSR bereits 1,6 mal mehr Geld als geplant für die Umsiedlung ausgegeben hatte, das Geld aber dennoch nicht reiche. Alleine die Umsiedlung der Schulen, für die 1,4 Millionen Rubel eingeplant waren, kostete 11 Millionen.
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Das schwerwiegendste Problem allerdings war die schlechte Qualität der Böden auf den neuen Territorien. Die Umsiedler mussten erneut vom Anbau von Agrargütern auf die Viehzucht umsteigen. Aber der Platz reichte nicht für alle aus und bereits in den 1970er Jahren musste ein Teil der Menschen erneut umsiedeln, ins Tschatkalska-Tal. Vom Traum eines touristischen Mekkas rund um das Wasserkraftwerk Toktogul musste man sich auch verabschieden. Aufgrund saisonaler Schwankungen des Wasserstandes erwies sich der Bau von Erholungsorten rund um den Stausee als unmöglich. Letztendendes stellte der Ministerrat der UdSSR noch bis 1987 dutzende Millionen Rubel als Entschädigung für die Umsiedler zur Verfügung.
Wie die Umwelt vergessen wurde
Die Geschichte des Wasserkraftwerkes Toktogul und die Konflikte, die seinen Bau begleiteten, sind ein leuchtendes Beispiel dafür, wie sich das sowjetische Zentralasien zwischen Chruschtschow und Gorbatschow verändert hat. Anfangs standen unionsweite und sogar weltweite Projekte im Vordergrund – die Modernisierung des sowjetischen Ostens (als „Schaufenster des Sozialismus“) oder die Entwicklung der Bewässerung und des großflächigen Baumwollanbaus. Im Lauf der Zeit traten allerdings Strategien (und konkrete Probleme) der einzelnen Republiken in den Vordergrund. Diese verteidigten eifrig ihre eigenen Interessen und forderten Kompensationen für ihre Verluste. Moskau konnte sich nun nicht mehr länger darum kümmern, allgemeine Aufgaben für die Wirtschaft festzulegen, sondern musste die Forderungen der Lobbyisten aus Taschkent und Frunse in Einklang bringen.
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Gleichzeitig tat sich eine zweite Front der Kritiker auf, die sich am Wasserkraftwerk, den Stausees, den Stromleitungen und anderer Attributen der Modernisierung störten. Die kirgisische Intelligenzija der 1970er Jahre war nicht darüber verärgert, dass die Projekte auf Kosten ihrer Republik realisiert wurden, sondern darüber, dass damit der umliegenden Natur und der traditionellen Kultur geschadet wurde. Die Umweltkritik kam aus allen Teilen der Sowjetunion (als Beispiel sei hier der Roman „Abschied von Matjora“ des russischen Autors Walentin Rasputin genannt) und verstärkte sich bis zu deren Zerfall.
Paradoxerweise ließ die Kritik allerdings nach, als Moskau in Form eines „Vorgesetzten“ oder „Schiedsrichters“, bei dem man auf sein Recht pochen und Geld fordern konnte, verschwand. Die Wasserkraftwerke wurden nun zur Quelle des Nationalstolzes, zum Rückgrat der Wirtschaft und sogar zum politischen Druckmittel gegenüber den Nachbarn. Beispielsweise in Tadschikistan, wo das Wasserkraftwerk Rogun die Landwirtschaft Usbekistans um einen Teil des kostbaren Wassers zu berauben droht. An Stelle der „einträchtigen Eroberung der Natur“ durch zwei brüderliche Republiken sind geopolitische Interessen und die Konkurrenz um die Mittel der Investoren getreten.
Aus dem Russischen von Julia Schulz
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