Der jüngste militärische Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan hat zu einer neuen geopolitischen Situation im postsowjetischen Asien geführt. Die Staaten Zentralasiens hielten sich während der Kämpfe zwar äußerst zurück – Fachleute sind jedoch der Auffassung, dass die Konsequenzen von Krieg und Frieden im Kaukasus auch am anderen Ufer des Kaspischen Meers spürbar werden. Der folgende Artikel erschien im tadschikischen Original auf Radioi Ozodi. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
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Unmittelbar nach dem am 9. November ausgehandelten und von Russland vermittelten Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan gaben die zentralasiatischen Außenministerien Erklärungen über die Einstellung der Kampfhandlungen in Bergkarabach ab.
Das tadschikische Außenministerium äußerte sich in einer Erklärung vom 11. November wie folgt: „Wir betonen die außergewöhnliche Bedeutung einer friedlichen Beilegung des Bergkarabach-Konflikts durch politische und diplomatische Mittel im Rahmen der Grundsätze und Normen des Völkerrechts“.
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In der Erklärung des kirgisischen Außenministeriums hieß es, „das Abkommen ebnet den Weg für eine langfristige und umfassende Beilegung des Bergkarabach-Konflikts“.
Das kasachstanische Außenministerium kommentierte, dass der Frieden im Einklang mit der Resolution des UN-Sicherheitsrates stünde und äußerte den Wunsch, dass „das aserbaidschanische und armenische Volk daran arbeiten werde, eine solide Grundlage für dauerhaften Frieden und Sicherheit in der Region zu schaffen“.
Der usbekische Präsident, Shavkat Mirziyoyev, gab in seiner Rede auf der Videokonferenz der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit am 10. November eine ähnliche Erklärung ab. Er hob die friedliche Rolle Russlands bei der Lösung des Bergkarabach-Konflikts hervor und äußerte die Hoffnung, dass das Blutvergießen in der Region bald enden und das Leben sich wieder normalisieren werde.
Zentralasien, Aserbaidschan und die Türkei – institutionell verbandelt
Während der Kampfhandlungen zwischen dem 27. September und 10. November nahmen die Staaten Zentralasiens eine neutrale Haltung ein und forderten die kaukasischen Konfliktparteien auf, die Waffen beiseitezulegen.
Bereits am 19. September gab das kirgisische Außenministerium gegenüber den Konfliktparteien eine Erklärung ab, in der es die Bereitschaft zum Ausdruck brachte, im Rahmen des Bischkek-Protokolls vom 5. Mai 1994 zu vermitteln. Jenes Protokoll markierte den Beginn der offiziellen Waffenruhe des Krieges von 1992 bis 1994. Die Bemühungen Kirgistans, wie auch weitere internationale Appelle, stießen in den Folgejahren des Protokolls auf taube Ohren.
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Der russische Experte Adschdar Kurtow fasst zusammen, dass die Staaten Zentralasiens aufgrund ihrer vielfältigen Außenpolitiken bisher keine klare Position zum Bergkarabach-Konflikt beziehen konnten. Kurtow zufolge hätten ihre Beziehungen zu China, dem Westen, Russland und der Türkei eine höhere Priorität.
„Es wäre für sie nicht sehr hilfreich, zu diesem Thema klar Stellung zu beziehen, da dies in Zukunft zu Problemen bei der Zusammenarbeit mit Armenien und Aserbaidschan in internationalen Organisationen führen könnte“, so Kurtow.
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Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan sind – genau wie Armenien– Mitglieder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO), eines politischen und militärischen Verteidigungsbündnisses. Kasachstan, Kirgistan und Armenien sind außerdem Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU). Des Weiteren sind alle Staaten Zentralasiens, Armenien wie auch Aserbaidschan Vollmitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
Mit Ausnahme Tadschikistans und Turkmenistans sind darüber hinaus alle zentralasiatischen Länder Mitglieder verschiedener internationaler Kooperationen der sogenannten Turkstaaten: Über den Türkischen Rat, der Internationalen Organisation für die türkische Kultur (Türksoy) und dem Türkischen Präsidium für internationale Kooperation und Koordination (TIKA) stehen sie in enger Verbindung mit der Türkei und Aserbaidschan.
Im Kaukasus werden die Karten neu gemischt
In Übereinstimmung mit der am 9. November erzielten Einigung wurde eine vollständige Einstellung der Feindseligkeiten in Bergkarabach erklärt. Die Streitkräfte Aserbaidschans verbleiben bei ihren bisherigen Bodengewinnen und rücken auf drei weitere Distrikte vor. Gleichzeitig werden Kontrollpunkte der russischen Armee entlang der Kontaktlinie und des Latschin-Korridors eingerichtet. Expertinnen und Experten sehen neben Jerewan und Baku auch Ankara als eine der Konfliktparteien in Bergkarabach. Mit der offenen militärischen Unterstützung Aserbaidschans (auch durch den völkerrechtswidrigen Einsatz syrischer Söldner, Anm. d. Ü.) und der vertraglich festgehaltenen russisch-türkischen Beobachtungsstelle erhält die Türkei eine dauerhafte Repräsentanz ihrer Streitkräfte in der Region.
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„Die neue Präsenz der Türkei im Kaukasus ist sehr ernst zu nehmen und von langfristiger Natur. Russland hat dies zu akzeptieren und muss verstehen, dass die antiamerikanische Rhetorik der Türken und ihre Kritik am europäischen Liberalismus keine automatische Solidarität und Respekt für die Interessen Russlands bedeuten“, so der russische Experte Sergej Markedonow in seinem Beitrag für das Moskauer Carnegie-Zentrum.
Welche Ambitionen hegt die Türkei in Zentralasien?
Der geopolitische Punktgewinn der Türkei durch das Erreichen einer militärischen Präsenz im Kaukasus wirft die Frage auf, ob sich nun auch die Beziehungen zum strategisch wichtigen Zentralasien ändern wird.
Der unabhängige tadschikische Experte Parwis Mullodschonow prognostiziert, dass das Ergebnis des Krieges um Bergkarabach den Einfluss der Türkei auch in Zentralasien erhöhen wird. „In erster Linie wird der Einfluss in der öffentlichen Meinungsbildung unter der muslimischen Bevölkerung der Region zunehmen“, so Mullodschonow. Ihm zufolge ist ein Aufstieg des Panturkismus und ein größerer Einfluss verschiedener, von Erdoğan finanzierter panturkistischer Organisationen in Zentralasien zu erwarten.
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Laut dem kirgisischen Politikwissenschaftler Esen Usubalijew, Direktor des Analysezentrums für rationale Entscheidungsfindungen, zeigt der Krieg in Bergkarabach auch, dass unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs) inzwischen weit verbreitet sind und effektiv eingesetzt werden können. Die Staaten Zentralasiens könnten aus den jüngsten Erfahrungen im Konflikteinsatz lernen.
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„Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Askar hat kürzlich Usbekistan und Kasachstan besucht. Der Anlass des Besuchs wurde nicht offen kommuniziert, aber es ist möglich, dass auf eine Stärkung der militärischen Zusammenarbeit hingearbeitet wird“, so Usubalijew. Nach Ansicht des Experten ist es jedoch überhastet, die Türkei und Russland hinsichtlich ihres Einflusses in Zentralasien auf eine Stufe zu stellen.
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„Es wäre zu vorschnell, die Türkei als neue Kraft [im postsowjetischen Raum] zu titulieren – so wie es in der russischen Öffentlichkeit oft gemacht wird. Zentralasien ist nicht nur eine türkische, sondern […] auch eine iranische Einflusssphäre. Regionale Integrationsprojekte ohne Einbeziehung Tadschikistans hätten kaum Erfolgsaussichten“, resümiert Esen Usubalijew.
Chursand Churramow für Radioi Ozodi
Aus dem Tadschikischen von Robin Shakibaie
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