Startseite      Warum Kirgistan nicht der Armut entkommt

Warum Kirgistan nicht der Armut entkommt

Armut ist nach wie vor ein Problem in Kirgistan. Welche historischen Ereignisse und Entscheidungen haben zu diesem status quo geführt? Welchen Wandel braucht es in der sogenannten „demokratischen Insel Zentralasiens“, um sich auf dem Weltmarkt behaupten oder um genug Arbeitsplätze im Land generieren zu können? Ein Kommentar von Sherzod Babakolov.

sherzodbabakulov 

Übersetzt von: Berenika Zeller

Osch Basar Bischkek
Der Eingang vom Osch-Basar in Bischkek (Bild: maekke/ visualhunt)

Armut ist nach wie vor ein Problem in Kirgistan. Welche historischen Ereignisse und Entscheidungen haben zu diesem status quo geführt? Welchen Wandel braucht es in der sogenannten „demokratischen Insel Zentralasiens“, um sich auf dem Weltmarkt behaupten oder um genug Arbeitsplätze im Land generieren zu können? Ein Kommentar von Sherzod Babakolov.

Gemäß der Voraussage der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung soll das BIP in Kirgistan zwischen 2023 auf 2024 um sieben Prozent wachsen. Obwohl die wirtschaftliche Wachstumsrate der demokratischen Insel Zentralasiens imponiert, gehört Kirgistan nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. 33 Prozent der Bevölkerung leben umgerechnet von weniger als 67 Euro pro Monat. Gescheiterte Entscheidungen seitens der Regierung, grassierende Korruption und die Abhängigkeit Kirgistans vom Ausland – all das sind Gründe, warum Kirgistan der extremen Armut nicht entkommt.

Novastan ist das einzige deutschsprachige Nachrichtenmagazin über Zentralasien. Wir arbeiten auf Vereinsgrundlage und Dank eurer Teilnahme. Wir sind unabhängig und wollen es bleiben, dafür brauchen wir euch! Durch jede noch so kleine Spende helft ihr uns, weiter ein realitätsnahes Bild von Zentralasien zu vermitteln.

Auch im Jahr 2023 bleibt Kirgistan ein Land mit extrem niedrigem Einkommen und verzeichnet eines der geringsten BIPs in Zentralasien (rund 5 Milliarden Euro). Außerdem bestehen erhebliche Einkommensunterschiede je nach Wohnort. Rund 74 Prozent der Einkommensschwachen leben in ländlichen Gebieten. Kirgistan ist stark von landwirtschaftlichen Erzeugnissen sowie von Barkrediten aus Russland und China abhängig. Ein erheblicher Teil des Staatshaushalts baut auf Steuergeldern von kirgisischen Bürger:innen auf, die sich gezwungen sehen, in einem der Nachbarländer zu arbeiten.

Ein Problem mit langer Vorgeschichte

Nach der 1991 erlangten Unabhängigkeit von der UdSSR wurde Kirgistan mit einer Reihe wirtschaftlicher Probleme konfrontiert, unter anderem aufgrund eines erheblichen technologischen Rückstands. Dieser führte dazu, dass das Land vom Weltmarkt verbannt blieb. Darüber hinaus herrschte ein akuter Devisenmangel, um die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. 1991 ließ der erste Staatspräsident Askar Akajew die meisten kirgisischen Betriebe und Fabriken privatisieren.

Um das Land wenigstens mit etwas Devisen zu versorgen, veranlasste Akajew den Verkauf einer großen Anzahl kirgisischer Unternehmen an China  – nahezu für umsonst. Infolgedessen verlor Kirgistan bis zu 80 Prozent an realem Wert der verkauften Ressourcen. Darüber hinaus führte die Privatisierung zur Abwanderung ausländischer Investor:innen aus Kirgistan.

Lest auch auf Novastan: Repressionen in Kirgistan: Ist das Land noch die „demokratische Insel“ Zentralasiens?

Im Jahr 2003 schloss Akajew ein äußerst unrentables Geschäft mit dem kanadischen Goldminenunternehmen Centerra Gold Inc. ab, das dazu führte, dass der kirgisische Staatshaushalt nur 33 Prozent des verkauften Goldes abbekam. Die kirgisische Seite verlor den Kontrollanspruch über die Kumtör-Mine, und die umliegenden Regionen sind seither mit Umweltproblemen konfrontiert.

Es ist anzunehmen, dass Akajew zu der weit verbreiteten Korruption innerhalb der Regierung, zur grassierenden Kriminalität und in der Folge zur Arbeitslosigkeit im Lande beigetragen hat. Alle diese Schritte führten zu Protestwellen und zur ersten Revolution im Jahr 2005, woraufhin er gezwungen war, das Land zu verlassen. Seither ist kein:e einzige:r Präsident:in und keine gewählte Regierung in der Lage gewesen, die Situation zu verbessern.

 Internationale Abhängigkeit

Damit ist Kirgistan in eine starke Abhängigkeit von Russland, China und in gewissem Maße auch von Kasachstan geraten. Folglich arbeiten etwa eine Million kirgisische Staatsangehörige (bei einer Gesamtbevölkerung von rund sieben Millionen) in Russland und schicken Geld nach Hause, welches den Großteil des kirgisischen Staatseinkommens ausmacht.

Die „Abhängigkeit der Kirgistaner:innen von Jobs in Russland“ kommt beiden Ländern zugute. Erstens hat Russland einen großen Einfluss auf die Durchsetzung einer pro-russischen Politik in Kirgistan. Daher vertreten die kirgisischen Politiker:innen eine unmissverständlich Position gegenüber Moskau und betrachten Russland als einen wichtigen strategischen Partner. Zweitens befinden sich die meisten Menschen, die körperlich fit und in der Lage sind, zu protestieren, außerhalb des Landes.

Die Regierung Kirgistans wiederum schert sich nicht um die Schaffung von Arbeitsplätzen für ihre Bürger:innen. So trug etwa auch die Rückkehr der meisten Arbeitsmigrant:innen aus Russland nach Kirgistan infolge der COVID-19-Pandemie zum erneuten Sturz der Regierung im Jahr 2020 bei.

Lest auch auf Novastan: Die Bausteine der Diktatur – Wie Sadyr Dschaparow seine Macht festigte

Eine weitere Abhängigkeit Kirgistans ist die von Finanzkrediten aus China. Die chinesische Volksrepublik ist der größte Kreditgeber in Kirgistan und macht so einen beträchtlichen Teil der kirgisischen Staatsschulden aus, namentlich etwa 46 Prozent des BIP oder 1,8 Milliarden Euro. Diese Abhängigkeit macht Kirgistan anfällig für politischen Druck vonseiten Chinas.

Was tun?

Die freundschaftlichsten Beziehungen bestehen zwischen Kirgistan und Kasachstan. So leitet Kirgistan Wasser aus dem Toktogul-Stausee für landwirtschaftlichen Bedarf nach Kasachstan. Dies führt allerdings manchmal zu Stromengpässen in Kirgistan und zu Verzögerungen bei der Produktion von Waren. Zeitgleich arbeiten aber etwa 300.000 kirgisische Arbeitsmigrant:innen in Kasachstan und schicken Geld in ihre Heimat.

Letzteres ist eine große Hilfe für die kirgisische Wirtschaft. Die kirgisische Regierung aber setzt die eingenommenen Steuern nicht wirkungsvoll ein und bemüht sich nicht um die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen im Land.

Lest auch auf Novastan: China profitiert in Zentralasien von der Isolation Russlands Kirgistan ist derzeit nicht in der Lage, aus eigener Kraft heraus seine Industrie auszubauen und sich auf dem Weltmarkt zu behaupten. Zu dieser Situation tragen die Vetternwirtschaft in der Regierung und die weit verbreitete Korruption unter der kirgisischen Beamtenschaft bei. Ausländische Firmen fürchten sich wegen der Privatisierung und der Instabilität des staatlichen Systems vor Investitionen in die kirgisische Wirtschaft. Die kirgisische Regierung ist schlicht und einfach nicht bestrebt, Arbeitsmigrant:innen ins Land zurückzuholen und ihre Politik anzupassen.

Ganz Zentralasien in deiner Mailbox Abonniert unseren wöchentlichen Newsletter

Entdeckt die neueste Ausgabe

Obwohl Kirgistan als „Insel der Demokratie in Zentralasien“ gilt, fehlt es dem Land an politischen Institutionen, die völlig unabhängig vom Einfluss dritter Parteien oder Länder sind. Das Entstehen einer kategorisch unbefangenen Regierung, die Beseitigung der in der kirgisischen Mentalität verankerten Korruption sowie die Abschaffung der Vetternwirtschaft könnten die oben genannten Probleme lösen und Kirgistan von der Armut befreien.

Sherzod Babakulov, Journalist aus Kirgistan

Aus dem Russischen von Berenika Zeller

Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen, schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.

Kommentare

Your comment will be revised by the site if needed.