In der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober nahmen Demonstrierende in Bischkek das Parlament sowie mehrere Verwaltungen ein. Die Ergebnisse der Parlamentswahl wurden annulliert. Nach 2005 und 2010 könnte in Bischkek nun eine dritte Revolution anstehen.
Nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Ordnungskräften wurde in den frühen Morgenstunden des 6. Oktobers das „Weiße Haus“, also der Sitz von Parlament und Präsidentenverwaltung, sowie der Regierungssitz von Demonstrierenden besetzt. Die unabhängige kirgisische Onlinezeitung Kloop.kg übertrug die Geschehnisse die ganze Nacht über live.
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Im Weißen Haus brach zu einem späteren Zeitpunkt Feuer aus. Auch weitere Geschehnisse in der Nacht und am frühen Morgen deuten auf eine beginnende Revolution hin. Es wäre der dritte Machtumsturz in Kirgistan nach 2005 und 2010.
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Die Demonstration auf dem Ala-Too Platz im Zentrum der kirgisischen Hauptstadt begann am Vormittag des 5. Oktober. Insgesamt folgten bis zu 5000 Personen einem Aufruf mehrerer Oppositionsparteien, gegen die Ergebnisse der am Vortag abgehaltenen Parlamentswahl zu protestieren. Dabei haben die zwei als regierungstreu geltenden Parteien Birimdik und Mekenim Kirgisistan fast die Hälfte der Stimmen und damit eine sehr komfortable Mehrheit von 91 Sitzen von 120 erhalten. Die Wahl wurde aber durch zahlreiche Unregelmäßigkeiten beeinträchtigt, vor allem durch Stimmenkauf durch verschiedene Parteien.
Gewaltsame Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften
Am Abend begannen Sicherheitskräfte, die Demonstranten vom Ala-Too-Platz mit Wasserwerfern und Tränengas vom Platz zu jagen. Daraufhin eskalierte die Lage schnell in gewaltsame Zusammenstöße, die zu Verletzten auf beiden Seiten führte. Es folgten mehrere Stunden vereinzelter gewaltsamer Auseinandersetzungen bis zur Einnahme des Weißen Hauses direkt neben dem Ala-Too-Platz um etwa 3 Uhr morgens in der Nacht des 6. Oktobers. Die Polizei zog sich daraufhin Berichten zufolge zurück.
Als kurze Zeit später Demonstrierende vor dem Gebäude des Sicherheitsdienstes GKNB erschienen, um den ehemaligen Präsidenten Almasbek Atambajew und andere gefangene Politiker freizulassen, solidarisierten sich die Offiziere mit den Demonstrierenden und riefen, sie stünden mit dem Volk. Am Morgen zählen die Krankenhäuser der Stadt einen Toten und fast 600 Verwundete, von denen ein Dutzend auf der Intensivstation liegen.
Später am Morgen des 6. Oktober nahmen Demonstranten nach Berichten der unabhängigen kirgisischen Onlinezeitung Kaktus das Rathaus von Bischkek ein. Mehrere hundert Menschen versammeln sich weiterhin auf dem Ala-Too-Platz und vor dem Weißen Haus. Dort ist die Situation nun etwas entspannter, ohne jede Spur von Sicherheitskräften.
Dutzende Freiwillige arbeiteten seit dem Morgengrauen an der Säuberung der Stadt nach den nächtlichen Zusammenstößen, die einige zerbrochene Fenster, verbrannte Autos und beschädigte Straßenabschnitte hinterlassen haben. Viele Geschäfte blieben aus Vorsichtsgründen geschlossen. Nach Angaben von Kloop.kg haben sich Bewohner der Hauptstadt zusammengeschlossen, um Geschäfte vor Plünderung zu schützen.
Präsident ruft zu Ruhe auf, Oppositionsparteien besetzen Verwaltungen
Die Sicherheitskräfte scheinen den Präsidenten Sooronbai Dscheenbekow nach diesen umstrittenen Wahlen im Stich gelassen zu haben. Das kirgisische Staatsoberhaupt befindet sich Berichten zufolge immer noch in Bischkek, obwohl er kurz vor Ankunft der Demonstranten aus dem Weißen Haus geflohen sei. Am Morgen des 6. Oktober teilte seine Pressesprecherin mit, er erwäge eine Annullierung der Wahlen und rufe zur Ruhe auf, wobei er die Aktionen der letzten Nacht scharf verurteilt.
In einer späteren Videoerklärung sagte Dscheenbekow, die Aktionen des Vorabends seien das Ergebnis „bestimmter politischer Kräfte gewesen, die versucht haben, illegal die Macht zu ergreifen“. Seiner Meinung nach sind die Wahlergebnisse nur ein „Vorwand“ für diese Machtergreifung. „Ich habe den Strafverfolgungsbehörden befohlen, nicht das Feuer zu eröffnen und kein Blut zu vergießen, um das Leben keines Bürgers zu gefährden“, betonte er. „Ruhe im Staat, Stabilität in der Regierung sind mehr wert als jedes Abgeordnetenmandat.“
Am frühen Nachmittag wurde ein Koordinationsrat unter der Leitung von Adachan Madumarow (Bütün Kyrgyzstan) ins Leben gerufen. Am Nachmittag erklärte die Wahlkommission die Ergebnisse der Parlamentswahl schließlich als ungültig. Der Parlamentssprecher hat für später am Tag eine außergewöhnliche Sitzung einberufen.
Besetzung von Mandaten
Parallel dazu haben Kandidaten von Oppositionsparteien begonnen, Schlüsselpositionen in der Exekutive zu besetzen: Ömürbek Suwanalijew (Bütün Kyrgyzstan) übernahm die Leitung des GKNB, Kursan Asanow (Bütün Kyrgyzstan) den Posten des Kommandanten von Bischkek, wobei er sich im Sitz des Innenministers fotografieren ließ.
Mehr Verwirrung herrscht zum Posten des Generalstaatsanwalts. Almanbek Tschykmamatow (Bir Bol) hat den Posten zunächst besetzt, und sofort die Ergebnisse der Parlamentswahl annulliert. Doch nachdem das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft von Demonstranten besetzt worden war, ernannten diese Siimik Dschapikejew zum Generalstaatsanwalt. Am frühen Nachmittag leugnete Tschykmamatow hingegen, den Posten besetzt zu haben.
„Kirgistan hat jetzt zwei Staatsanwälte, keine Regierung und wenig Ahnung, wer das Sagen hat. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass niemand den Job jetzt will und dass die Unruhen alle überrascht haben“, resümierte Eurasianet-Korrespondent Peter Leonard auf Twitter.
Im Laufe der Ereignisse wurden ebenfalls viele politische Persönlichkeiten freigelassen: zunächst der ehemalige Präsident Almasbek Atambajew, dann dessen ehemaliger Premierminister Sapar Isakow und weitere Personen die infolge von Atambajews gewaltsamer Festnahme im Sommer 2019 inhaftiert wurden. Auch der einflussreiche Politiker Sadyr Dschaparow, der 2013, unter Atambajews Präsidentschaft, inhaftiert wurde, wurde befreit.
Demonstrationen und Rücktritte in den Regionen
Andererseits haben mehrere hohe Beamte bereits ihren Rücktritt eingereicht, so zum Beispiel der Bürgermeister von Bischkek und der Leiter des öffentlichen Fernseh- und Radiodienstes KTRK. Auch die Gouverneure der Regionen Issyk-Kök, Talas und Naryn haben angesichts lokaler Demonstrationen ihren Rücktritt erklärt. Viele lokale Regierungsvertreter im Norden und im Süden des Landes bieten unter dem Druck lokaler Demonstranten ebenfalls ihren Rücktritt an.
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In Osch, im Süden Kirgistans, gab es am Morgen zunächst eine Kundgebung zur Unterstützung von Präsident Dscheenbekow, der ursprünglich aus der Region rund um Osch stammt. Mehrere Hundert Demonstranten, angeführt vom Bruder des Präsidenten, erklärten dass sie die Aktionen in Bischkek nicht als legal anerkennen.
Gegen 11 Uhr morgens standen bereits etwa 2000 Personen auf dem Hauptplatz in Osch. Einige darunter sprachen sich auch gegen den Präsidenten aus und forderten den Rücktritt des Bürgermeisters, was von den Stadtabgeordneten aufgegriffen wurde. Der Sprecher des Stadtparlaments wurde zusammengeschlagen, als er zu den Demonstrierenden tritt. In Dschalal-Abad versammelten sich ebenfalls am Dienstagmorgen rund 100 Demonstrierende, um die Annulierung der Wahlen und den Rücktritt der lokalen Behörden zu fordern.
In ganz Kirgistan überschlagen sich die Meldungen von Rücktritten und Rückkehr in die Politik, in einem Kontext, in dem keinem ganz klar ist, wer an welcher Stelle das Sagen hat. Innerhalb der Opposition werden aber auch Stimmen gegen die überschnelle Verteilung von Posten laut: „Es ist sehr wichtig nicht die Gesetzgebung zu brechen, denn das ist die Grundlage von allem. […] Wir müssen unsere Taten in strenger Übereinstimmung mit der Verfassung ausüben“, erklärte der frisch aus dem Gefängnis befreite ehemalige Premieminister Sapar Isakow auf der Pressekonferenz des Koordinationsrats.
Pia de Gouvello
Korrespondentin für Novastan in Bischkek
Florian Coppenrath
Novastan.org
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