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Wer war Ahmet Baıtursynuly? – Die Geschichte eines kasachischen Erziehers

Jeder Mensch nimmt im Laufe seines Lebens verschiedene Rollen ein: Für den Einen bleibt er für immer ein Kind, für den Andern wird er zum Lebensgefährten und für wiederum Andere ein treuer Freund, zuverlässiger Arbeitskollege oder netter Bekannter. Manche Menschen probieren gerne viele verschiedene Rollen aus. Genau solch einer war Ahmet Baıtursynuly: Dichter, Linguist, Pädagoge, Wissenschaftler, Politiker, Revolutionär und Journalist. Anlässlich seines 150. Geburtstages erzählt Masa.Media, wer er war und wie er das Leben seiner Zeitgenossen geprägt hat.

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Übersetzt von: Arthur Siavash Klischat

Original (5. September 2022)

Jeder Mensch nimmt im Laufe seines Lebens verschiedene Rollen ein: Für den Einen bleibt er für immer ein Kind, für den Andern wird er zum Lebensgefährten und für wiederum Andere ein treuer Freund, zuverlässiger Arbeitskollege oder netter Bekannter. Manche Menschen probieren gerne viele verschiedene Rollen aus. Genau solch einer war Ahmet Baıtursynuly: Dichter, Linguist, Pädagoge, Wissenschaftler, Politiker, Revolutionär und Journalist. Anlässlich seines 150. Geburtstages erzählt Masa.Media, wer er war und wie er das Leben seiner Zeitgenossen geprägt hat.

Ahmet Baıtursynuly wurde am 5. September 1872 im Gebiet Turgai (heute Gebiet Qostanaı, im Norden Kasachstans) geboren. Auf der Suche nach dem genauen Datum tappte man lange Zeit im Dunkeln. Man nahm an, Ahmet sei am 29. September geboren. Im Jahre 2012 stieß man jedoch auf die Baıtursynuly-Biografie eines bekannten Aufklärers. Darin fand sich der Beweis für den 5. September. Sein Vater Baıtursyn war ein autoritärer und einflussreicher Mann, der die Interessen seiner Mitmenschen zu verteidigen vermochte und dabei den Konflikt nicht scheute.

Einmal artete ein Gespräch mit dem militärischen Oberstarzt Iakovle in einen Streit aus, dass an dessen Ende Baıtursyn und seine Brüder den Beamten verprügelten. Dafür schickte man ihn ins sibirische Straflager. „Im Alter von 13 Jahren hinterließ ein Stoß eine bis heute ungeheilte Wunde in meinem Herzen. Wenn ich vom Menschen abstamme, aber keine menschlichen Pflichten erfülle und nicht reinen Gewissens lebe, wird mich im Angesicht des Todes nicht die Scham überkommen?“, überlegte Ahmets Vater nach der Heirat in einem Brief an seine Mutter, den er ihr aus dem Semipalatinsker Gefängnis schrieb.

Studium und Lehrtätigkeit

Nach Abschluss einer Elementarausbildung bei den Mullahs in der ansässigen Koranschule zog es Baıtursynuly mit ein paar Weggefährten ins russische Orenburg, unweit der heutigen Grenze zu Kasachstan. Aller finanziellen Nöte zum Trotz schloss er ein Studium an der dortigen Staatlichen Pädagogischen Universität ab. Fast 15 Jahre lehrte Ahmet an russisch-kasachischen Schulen der Gebiete Aqtóbe, Qarqaraly und Qostanaı. Er war der festen Überzeugung, dass sich die Kasachen allein durch Wissenschaft und Fortschritt aus der Misere befreien könnten, in der sie sich seit Ankunft des russischen Kolonisators befanden.

Darum rief er sein Volk dazu auf, sich von der Suche nach Schuldigen loszulösen und stattdessen härter zu arbeiten, um ihre Notlage zu überwinden. Im Artikel „Der kasachische Verdruss“ schrieb er: „Der Alltag der Kasachen verfinstert sich immer mehr. Sie schimpfen auf das grellste Licht, ohne sich zu fragen, wo diese unsinnige Spinnerei herrührt, und schlagen alle Alarmglocken. Die Gegenwart ist das Kind der vergangenen Epochen und die Mutter aller zukünftigen. In Zeiten des Wohlstands, in denen Wissen und Können nicht mit der technischen Entwicklung Schritt halten konnten, hatten die Kasachen ihren eigenen Kopf. Weder dem Khan, noch dem Volk war es nach Kunst oder Wissenschaft zumute. Statt über sinnvollere Beschäftigungen nachzudenken, standen sie miteinander auf Kriegsfuß, und während andere Völker voranschritten, machten die Kasachen Rückschritte.“

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Baıtursynuly war Künstler. Er veröffentlichte den Gedichtband „Mücke“, in dem er dazu aufrief, zu studieren und sich den Wissenschaften zuzuwenden. Er verurteilte amoralisches Verhalten und appellierte an den Humanismus. Diese Ideale tauchten auch in Krylows Fabeln wieder auf, die Baıtursynuly erst übersetzt und dann in dem Band „40 Fabeln“ adaptierte. (Iwan Krylow gilt als wichtigster Dichter russischer Fabeln, Anm. d. Ü.)

Das Leben in der Ehe

Als sie sich kennenlernten, arbeitete Ahmets Frau Alexandra als Lehrerin an einer russisch-kasachischen Schule in der Nähe von Qostanaı. Eine Ehe zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Glaubens war damals enorm schwer, doch Alexandra entschied sich, zum Islam zu konvertieren. Zusammen besuchte das Paar die Moschee in Troizk. Der Imam, der sie dort auch getraut hatte, gab Ahmets Frau dort den tartarischen Namen Badrisafa Muhamedsadikizi.

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Baıtursynulys Verwandte hatten keine große Mühe, Badrisafa in ihr Herz zu schließen: Sie sprach nicht nur Kasachisch, sondern war auch eine äußerst warmherzige und liebenswürdige Person.  Außerdem unterstützte sie ihren Mann aktiv bei der Arbeit. Als Ahmet Chefredakteur der Zeitung „Qazaq“ war, übernahmen Badrisafa und ihre Enkeltochter Katıez die typografischen Aufgaben. Als Baıtursynuly 1937 erschossen wurde, schickte man Badrisafu nach Swerdlowsk (heute Jekaterinburg, Anm. d. Red.).

1942 kehrte sie, von einer starken Epilepsie gequält, zurück zu Ahmets Familie. Sie trug einen alten Mantel ihres Mannes. Um ihnen keine Umstände zu bereiten, suchte sie auch Obhut bei Fremden. Kurze Zeit später schickten die Ärzte sie in ein Behindertenheim ins Dorf Alexandrowka. Ob sie es bis dorthin schaffte, ist umstritten. Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass sie ihren Lebensabend in der Siedlung Kaskat verbrachte, wo sie eine ansässige Familie beherbergte.

Arbeit als Journalist und Kritik an der Zarenherrschaft

Nach der Russischen Revolution im Jahre 1905 engagierte sich Baıtursynuly im politischen Geschehen. Er fand sich unter den Autoren der Karkaralinsker Petition. In dieser forderten Schriftsteller das Ende der Ausbeutung der Erde und der Zwangsumsiedlung von Christen sowie die Etablierung lokaler Verwaltungsämter (genannt Semstvo; ständische Selbstverwaltung in Russland von 1964 – 1917) in Kasachstan. Nicht selten saß Ahmet für seine Überzeugungen im Gefängnis.

1913 gründeten Baıtursynuly, Álihan Bókeıhan und Mirjaqyp Dulatuly zusammen die Zeitung Qazaq. Fünf Jahre später erreichte diese eine Auflage von 8000 Exemplaren. Als der Zeitung 1914 für ihre Regierungskritik eine Geldstrafe auferlegt wurde, konnte Ahmet nicht für das Bußgeld aufkommen und kam ins Gefängnis. Innerhalb weniger Tage sammelte die Leserschaft Geld und kaufte Baıtursynuly auf diese Weise wieder frei. In den folgenden Jahren schaffte sie der Zeitung noch viele weitere Male Abhilfe, sich von den durch die Regierung auferlegten Strafen zu befreien.

Wissenschaftler und Lehrer

Baıtursynuly sprach sich für die Nutzung arabischer Schriftzeichen zugunsten der kasachischen Schrift aus. Seiner Meinung nach hielt Latein (das seinerzeit viele Anhänger fand) nicht genügend Zeichen für die kasachischen Laute bereit. Auch die arabische Schrift hatte ihre Makel und ausgerechnet dieser bediente sich Baıtursynuly, um die kasachische Sprache weiterzuentwickeln.

Unter dem Titel „Oku Kurali“ präsentierte er 1912 seine schriftlichen Vorhaben. Dieses Werk stellt eines der ersten Wörterbücher in kasachischer Sprache dar. Sein Alphabet fand schnell Resonanz und schon wenig später Verwendung in kasachisch-russischen sowie islamischen Bildungseinrichtungen. Die Zeitung „Qazaq“ bediente sich zuzüglich noch an einer modernisierten Form der arabischen Zierschrift.

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In der Wissenschaft war Ahmet insgesamt sehr aktiv und engagiert. Von 1914 bis 1916 schrieb er das erste Lehrwerk für kasachische Sprache, das dreiteilige „Til-Kural“. Durch die drei Bände „Morphologie“, „Phonetik“ und „Syntax“ gelang es ihm, verschiedene linguistische Begriffe zu definieren und auf diese Weise die sprachliche Struktur zu systematisieren.

Anhänger der Bolschewiken

Zusammen mit weiteren kasachischen Intellektuellen gründete Baıtursynuly im Jahre 1917 die Partei „Alash“. Ende desselben Jahres wählte man ihn in die Konstituierende Versammlung. Diese sollte die Ordnung des Russischen Imperiums demokratisch sichern. Während der Oktoberrevolution lösten die Bolschewiken die Versammlung gewaltsam auf und blieben an der Macht. Es begann ein Bürgerkrieg.

Ursprünglich unterstützte die Alash-Orda die Weiße Bewegung, aber nach der rechtswidrigen Aneignung durch deren Anführer Koltschak sahen sie von dieser Idee ab. Die Alash-Partei sah sich gezwungen, die sowjetische Herrschaft anzuerkennen, um einer Strafe zu entgehen. Ausgerechnet Ahmet wurde von der Partei für Verhandlungen nach Moskau einberufen.

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„Nachdem ich gesehen hatte, wie sorgfältig die kirgisische nationale Frage im Einklang mit den in der Erklärung der Rechte der Völker Russlands verkündeten Grundsätzen behandelt wird, kann ich meine Genossen reinen Gewissens beruhigen, dass wir uns nicht geirrt haben, als wir das sowjetische Regime dem von Koltschak vorzogen“, schrieb er damals in einem seiner Artikel.

Allerdings hatte Baıtursynuly in den 1920er Jahren einen Brief verfasst, in dem er die Politik der Bolschewiki zu den kolonisierten Völkern stark kritisierte. „Lokale kommunistische Genossen, die denken, dass Kirgisen (eine Trennung zwischen Kirgisen und Kasachen wurde damals kaum vorgenommen, Anm. d. Red.) nichts verstehen und sich auf diese fein säuberlich durchdachte Politik einlassen, bieten dem erwerbstätigen kirgisischen Volk nicht brüderliche Hilfe an. Sie helfen nicht dabei, sich ein Leben nach sowjetischen Grundsätzen aufzubauen, sondern zwingen ihnen ihre Vorherrschaft in allerlei Formen auf“, schrieb er.

Der Volksfeind

In den Jahren 1920/21 bekleidete Baıtursynuly das Amt des Bildungsministers der autonomen Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die von 1925 bis 1936 bestand. Jedoch trat er bald darauf zurück und begründete dies wie folgt: „Ich musste mich für eines der beiden entscheiden: Entweder kirgisische Sprachlehrbücher zu erstellen, oder als Bildungsminister der Parteienversammlung beizuwohnen. […] Ich entschied mich für ersteres, denn ich hielt mich für begabter und nützlicher in der Arbeit mit der kirgisischen Sprache. Außerdem wusste ich wahrscheinlich, dass meine Tätigkeit in diesem Feld bedeutend mehr Früchte tragen würde, als die Arbeit in den Parteiversammlungen.“

Nach dem Ende seiner Verpflichtungen der 20er Jahre, widmete er sich voll und ganz der wissenschaftlichen und pädagogischen Tätigkeit. Im Juni 1929 wurde Ahmet mit weiteren Mitgliedern der Partei Alash-Orda in Almaty festgenommen. Man warf ihm konterrevolutionäre Tätigkeiten vor und sperrte ihn in eines der bekanntesten und ältesten Gefängnisse: das Moskauer Butyrka-Gefängnis. 1932 wurde gerichtlich entschieden, ihn in die nordrussische Hafenstadt Archangelsk zu verbannen.

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Von dort aus verfasste er eine Bitte an Jekaterina Peschkowa, die Frau von Maxim Gorki. Sie leitete zu dieser Zeit eine der wenigen in der UdSSR existierenden, weil rechtswidrigen, humanitären Organisationen (1937 wurde sie liquidiert). Im Brief an sie klagte Achmet ihr sein Leid: „34 Jahre habe ich als Pädagoge zur Aufklärung des kirgisisch-kasachischen Volkes beigetragen. Mein ganzes Schaffen habe ich nur dieser Kultur gewidmet. Wie der Sohn eines verlassenen Volkes zog ich mit uneigennütziger Begeisterung zu Werk, gab mich mit all meinen Fähigkeiten, Kräften und auch meiner Gesundheit der Aufklärung des kasachischen Volks hin. Doch das Schicksal will es so, dass ich zum Dank für all das in meinem hohen Alter (62 J.) noch 20 Monate im Gefängnis und 22 Monate im Arbeitslager verbringe. Es ist unverkennbar, wie sehr mich das Alter mittlerweile von drei Seiten angreift.“

Lebensabend

Baıtursynuly erkannte, dass seine Arbeitssuche aufgrund seiner Verurteilung erfolglos verlief. Er schaffte es grade so, sich über Wasser zu halten. Wenig später kam Ahmet frei. Er kehrte zurück nach Almaty, wo er bis 1937 mit seiner Frau zusammenlebte.

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Noch im Oktober des gleichen Jahres nahm man ihn erneut fest. Im Verhör gab er noch einmal seiner politischen Haltung Ausdruck: „Mein Ziel ist es, den Lebensstandard zu erhöhen und die Kultur des kasachischen Volkes zu stärken, wo nur möglich. Dieses ehrwürdige Ziel steckt noch in den Kinderschuhen. Deshalb verbeuge mich vor jedem Staatsdiener, der meinen Wunsch befürwortet und vorantreibt.“ Kurze Zeit später wurde Ahmet Baıtursynuly erschossen. Erst im Jahre 1988 wurde er rehabilitiert.

Masa.Media

Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat

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