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Und plötzlich geht das Licht aus – Suizide unter Jugendlichen und Kindern in Kasachstan

Kasachstan hat eine der höchsten Selbstmordraten unter Minderjährigen und jungen Erwachsenen. Auch wenn sich in den vergangenen Jahren viel verändert hat, spielen Stigmata und Vorurteile weiterhin eine große Rolle. Ein Gespräch mit Rinat Musafarov, Abteilungsleiter im Zentrum für Forschung und Praxis der psychischen Gesundheit in Almaty.

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Kasachstan hat eine der höchsten Selbstmordraten unter Minderjährigen und jungen Erwachsenen. Auch wenn sich in den vergangenen Jahren viel verändert hat, spielen Stigmata und Vorurteile weiterhin eine große Rolle. Ein Gespräch mit Rinat Musafarov, Abteilungsleiter im Zentrum für Forschung und Praxis der psychischen Gesundheit in Almaty.

Anfang April stürzt sich ein 16-Jähriger von einem Hochhaus in Almaty. Einen Tag später erhängt sich ein 14-Jähriger in Nordkasachstan. Diese beiden Fälle sind lediglich diejenigen, die in den vergangenen Monaten öffentlich gemacht wurden. Die Dunkelziffer, auch was misslungene Selbstmordversuche betrifft, ist hoch; ein Problembewusstsein scheint bislang nicht in allen Regionen Kasachstans angekommen zu sein.

Dennoch sind es keine Einzelfälle: Weltweit gilt Selbstmord als dritt- bis vierthäufigste Todesursache unter Jugendlichen und Kindern; jährlich nehmen sich 45.800 Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren das Leben. Das entspricht einem Todesfall alle 11 Minuten.

In Kasachstan zeichnet sich ein besonders düsteres Bild im internationalen Vergleich, mit einer der höchsten Selbstmordraten unter Jugendlichen und Kindern.

Hier gilt die Altersgruppe zwischen 15 und 17 Jahren als besonders gefährdet. Etwa 60 Prozent aller Suizide gehen auf diese Gruppe zurück. Ein erhöhtes Risiko besteht ebenfalls bei jungen Erwachsenen zwischen 25 und 29 Jahren.

Am häufigsten werden Selbstmorde in Ostkasachstan, den Regionen Qostanai und Aqmola, begangen. Minderjährige in ländlichen Gebieten haben ein besonders hohes Gefahrenrisiko.

„Psychische Probleme lassen sich jedoch nicht immer mit Suiziden gleichsetzen“, sagt Rinat Musafarov.

Untersuchungen in Kasachstan ergaben eine Korrelation zwischen impulsivem, riskantem oder aggressivem Verhalten, Drogenmissbrauch, mentalen Vorerkrankungen in der Familie, zwischenmenschlichen Konflikten, geringer Belastbarkeit oder Kindheitstraumata und Suizid.

Jedoch können auch andere Hintergründe auf suizidale Gedanken oder einen Selbstmordversuch deuten. So reagieren Menschen unterschiedlich auf ihre individuelle Situation.

Präventionsstrategien in Kasachstan

Die Regierung der Republik Kasachstan hat sich der hohen Selbstmordrate 2010 angenommen und seither in Zusammenarbeit mit UNICEF eine Präventionsstrategie entwickelt.

„Das Kinderhilfswerk der UNICEF leistet in der Tat einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des psychischen Gesundheitssystems für Kinder und Jugendliche in Kasachstan“, bewertet Musafarov.

Seit 2012 wurden Initiativen durchgeführt, an denen auch internationale Expertinnen und Experten maßgeblich beteiligt sind. Im Rahmen der Zusammenarbeit wurden großangelegte Studien zu Risiko- und Schutzfaktoren durchgeführt.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen die Zahl der Suizide seither mehr als halbiert hat, von 212 im Jahr 2013 auf 98 im Jahr 2017.

Isolation während der Pandemie

Während der COVID19-Pandemie war ein Rückgang der Kommunikationsfähigkeit und der emotionalen Intelligenz bei Jugendlichen und Kindern zu beobachten. Druck von den Eltern kann als ein Faktor aufgefasst werden, der negative Tendenzen verstärkt hat, insbesondere in der Anfangsphase der Pandemie.

Die Umgewöhnung von Präsenzunterricht zu vermehrt online stattfindenden Lernangeboten sei nicht einfach gewesen, meint Musafarov. Zwar gewöhnen sich Kinder schnell an neue Situationen, doch stellte der Wegfall des unmittelbaren sozialen Umfelds in Präsenz einen weiteren Stresstest dar.

In Kasachstan kam es während der Corona-Zeit zu einer interessanten Entwicklung. Die Selbstmordrate unter Jugendlichen sank, doch verschoben sich soziale Spannungen auf soziale Beziehungen zu Hause.

Ein weiterer, diesmal positiver, Effekt der COVID19-Pandemie waren die digitalen Entwicklungen, welche Hilfsprogramme in kleineren Ortschaften und Siedlungen ermöglichten. Kinder und Jugendliche, die Hilfe suchen, können sich nun über das Internet nach Beratungs- und Hilfsprogrammen erkundigen.

Einerseits ist in den letzten Jahren die Anzahl der Überweisungen an Spezialisten für Anpassungs- und emotionale Störungen zurückgegangen. Gleichzeitig hat sich die Gesamtzahl der depressiven Störungen bei Jugendlichen nicht wesentlich verändert“, stellt Rinat Musafarov fest.

Trotz all der Fortschritte steht Kasachstan weiterhin vor strukturellen Herausforderungen. Hier sind mehrere Faktoren zu beachten: Zum einen haben die pandemiebedingte Isolation und der eingeschränkte soziale Austausch zu einem Rückgang emotionaler Kompetenzen bei Jugendlichen geführt.

Zum anderen erschwert die Struktur des kasachischen Gesundheitssystems eine verlässliche, allgemeingültige Einschätzung der Versorgungslage. Nicht zuletzt wirken gesellschaftliche Stigmata – auch unter unzureichend geschultem Fachpersonal – weiterhin hemmend auf den Zugang zu psychologischer Hilfe.

Dabei ist die gesellschaftliche Haltung zu psychischer Gesundheit als Schlüsselfaktor bei der Suizidprävention nicht zu unterschätzen.

Stigmatisierung als gesellschaftliche Herausforderung

Mentale Gesundheit ist in Kasachstan stets mit gesellschaftlichen Stigmata verbunden: „Viele Menschen glauben immer noch, dass es sich um Aufmerksamkeit oder Manipulation handelt, wenn jemand über Suizidalität spricht. In Wirklichkeit ist es meist ein Schrei nach Hilfe. Und leider erhalten Jugendliche nicht immer Unterstützung und Verständnis. Diese Haltung verstärkt das Gefühl der Einsamkeit und Isolation“, führt Musafarov weiter aus.

Als eines der größten Hindernisse, so schreibt UNICEF in seinem 2020 veröffentlichten Bericht, sei einerseits die Kommunikation mit den Eltern und andererseits ein fehlendes Verständnis der Psychologen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen, suizidale Verhaltensmuster als Angelegenheit der allgemeinen Gesundheit anzuerkennen.

„Im Umfeld der Jugendlichen herrscht ein ziemlich starker Erfolgsdruck – die Einstellung, glücklich und erfolgreich zu sein. Probleme passen nicht in dieses Bild, und das Eingestehen von Verletzlichkeit wird zur Schande. Dies hindert die Betroffenen daran, mit ihren Angehörigen zu sprechen, geschweige denn mit Fachleuten“, warnt Rinat Musafarov.

Die Stigmatisierung von psychischen Störungen und insbesondere von suizidalem Verhalten ist eines der größten Hindernisse für die Prävention. Dies gilt sowohl für das Aufsuchen von Hilfe als auch für das offene Sprechen über Erfahrungen.

„In den letzten Jahren ist jedoch ein positiver Trend in Kasachstan zu beobachten: Junge Menschen sind immer offener dafür, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, vor allem, wenn dies vertraulich und ohne das Risiko, dass andere davon erfahren, geschehen kann.“

Berichterstattung über Selbstmorde

Die WHO betont in ihren aktualisierten Leitlinien 2023, dass Medien Leben retten können. „In der Tat können die Medien sowohl eine mächtige Ressource für die Prävention als auch ein Auslöser sein.“

In der Medienberichterstattung wird des Öfteren der „Werther-Effekt“ thematisiert. Dieser bezeichnet die Zunahme von Selbstmorden nach der Veröffentlichung eines Selbstmordberichts, vornehmlich, wenn es sich um Prominente oder um Geschichten handelt, die übermäßig detailliert und romantisch dargestellt werden.

Dennoch lässt sich damit die Aussage nicht rechtfertigen, über das Thema Selbstmord zu schweigen bedeutet, ihn zu verhindern. Pauschal lässt sich das auch nicht auf die gesamte Medienberichterstattung übertragen.

Rinat Musafarov verweist auf die Dringlichkeit von offenen Gesprächen. „Es gibt den gefährlichen Mythos, dass über Selbstmord zu sprechen bedeutet, ihn zu provozieren. Das Gegenteil ist der Fall: Ein offener, sanfter Dialog verringert das Risiko, vor allem, wenn der Person bewusst gemacht wird, dass ihre Gefühle wichtig sind und dass sie Hilfe bekommen kann.“

Dem gegenüber steht der „Papageno-Effekt“. Er beschreibt eine Situation, in der Veröffentlichungen, die Auswege aus einer Krise aufzeigen, die Hoffnung erhöhen und das Risiko eines Selbstmordes verringern.

Auch in Kasachstan gibt es inspirierende Geschichten von Menschen, die nach einer schweren Zeit neuen Lebensmut gefunden haben, wie das Beispiel von Gulnar Sagieva, die zehn Jahre in einer psychiatrischen Klinik verbrachte, oder von Dauren Muhamedjanov, dem durch ein Rehabilitationsprogramm geholfen werden konnte.

Daher kommt publizistische Arbeit eine Schlüsselrolle zu: Sie kann entweder zur Enttabuisierung beitragen oder durch Schweigen die Isolation verstärken.

Dies zeigt, dass das gänzliche Verschweigen der Problematik schädlich ist. Selbstverständlich nimmt die Anzahl der wahrgenommenen Fälle an Selbstmorden ab, sobald man aufhört, darüber zu schreiben. Wenn über das Thema jedoch nicht mehr gesprochen wird, entsteht auch kein Bewusstsein in der Gesellschaft.

Die Rolle des Journalismus liegt darin, die Gesellschaft zu überschauen und relevante Informationen an ein großes Publikum zu tragen. Geschieht dies nicht, kann kein Abbild der Geschehnisse entstehen.

Musafarov sieht die Rolle des Journalismus als zielführend. „Es geht nicht nur darum, die Fakten korrekt wiederzugeben, sondern auch darum, über Hilfe zu informieren, Geschichten über die Genesung zu erzählen und die Stigmatisierung zu verringern. Diesem Ansatz sollten Journalisten und Blogger den Vorzug geben.“

Hilfestellung

„Ich appelliere an alle, die schwierige Zeiten durchgemacht haben: Wenn Sie sich von dieser Krankheit erholen konnten, erzählen Sie bitte Ihre Geschichte. Sie könnte eine Chance für andere sein. Und ich appelliere an diejenigen, die sich in einer Krise befinden: Sie sind nicht allein. Es gibt Hilfe, sei es von den Fachleuten in Schulen, Kliniken, Jugendzentren oder Zentren für psychische Gesundheit.“

Psychische Gesundheit ist kein Nischenthema, sondern ein grundlegendes Menschenrecht, dem noch zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Wenn Sie oder jemand in Ihrem Umfeld Hilfe brauchen: Sprechen Sie darüber. Unterstützung ist möglich – und der erste Schritt muss nicht allein gegangen werden. In Kasachstan erreichen Sie rund um die Uhr psychologische Unterstützung unter 150. In Deutschland bietet die Telefonseelsorge kostenfreie Hilfe unter 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222. Auch internationale Plattformen wie www.befrienders.org helfen dabei, Unterstützung in der Nähe zu finden.

„Um Hilfe zu bitten ist keine Schwäche, es ist Stärke.“, appelliert Rinat Musafarov.

Anton Genza für Novastan

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