In den ausländischen Medien wird die Situation des Aralsees als die „größte ökologische Tragödie unserer Zeit“ bezeichnet . Dieser riesige See ist innerhalb weniger Jahrzehnte fast komplett ausgetrocknet.
Die Redaktion von Novastan, basierend auf einem Artikel von Lena Khassanova, erschienen auf Living Asia, gibt Einblick in des Quasi-Verschwindens des Aralsees – die Konsequenzen einer nicht vorhandenen Kohärenz in der Umweltpolitik der Region.
Die Räder des Geländewagens UAZ quietschen vor Anstrengung und neigen das Fahrzeug, das sich auf dem Sand fortbewegt, gefährlich. Wir dringen zum ausgetrockneten Grund des Sees vor. Vor 60 Jahren hätten sich 25 Meter Wasser über unseren Köpfen befunden.
Das ist eine neue Geschichte in den Erinnerungen unseres Planeten. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich dieser riesige See (der viertgrößte See der Welt) fast vollständig in Wüste verwandelt. 1960 betrug die Fläche des Aralsees 68.900 km². 2015 erstreckte der See sich auf nicht mehr als 8.300 km².
Ein unbeachteter See
Der Aralsee ist ein komplettes Mysterium. Wissenschaftler schaffen es nicht einmal, den Zeitraum seines Erscheinens genau zu berechnen: manche behaupten, der See sei vor Millionen von Jahren aufgetaucht, andere sind der Meinung, es waren nur einige Zehntausend Jahre. Die Ergebnisse einer Studie, die mithilfe der Radiokarbonmethode durchgeführt wurde, datieren die Entstehung des Sees auf vor etwa 20.000 Jahren. Eines ist sicher: im Verlauf der Vorgeschichte ist der Aralsee mindestens dreimal ausgetrocknet.
Während des Zeitraums der Antike häufte sich das Wissen über den Aralsee und ging dann verloren. Die Griechen verwechselten den See mit dem Kaspischen Meer. Auf ihren Karten mündet der „Oxos“ (der Amudarja) in das Kaspische Meer und der „Laxarte“ (der Syrdarja) mündet mysteriöserweise in das Asowsche Meer. Im 10. Jahrhundert beschreibt der arabische Enzyklopädist Massidi den Aralsee mit seinen Worten: „Es gibt keinen größeren See, als diesen. Man kann sogar sagen, es ist der größte See der Welt, da man mehr als 30 Tage braucht, um ihn zu überqueren. Die türkische Stadt Novigorod befindet sich am Ufer des Sees. Hier findet man viele Moscheen. Die in dieser Region vertretenden Türken gehören zum Großteil dem Stamm der Oghusen an und führen teilweise ein sesshaftes Leben, teilweise sind sie Nomaden.“
Nach Massidi verschwand der Aralsee für mehrere Jahrhunderte einfach aus dem Interessenbereich der Wissenschaftler. Dies liegt vermutlich daran, dass die Größe des Aralsees im Mittelalter deutlich zurückgegangen ist. Archäologische Funde bestätigen diese Hypothese: zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert war das, was heute den Grund des Sees darstellt, bewohnt.
2011 fanden Archäologen auf dem ausgetrockneten Grund das Mausoleum von Kerderi und Überbleibsel der Stadt Aral-Asar. Ein altes Bewässerungssystem wurde sehr gut erhalten, Beweis dafür, dass die Bewohner ihre Pflanzen bewässerten. Während der Ausgrabungen fand man viele Gegenstände der Bauern: Keramikvasen, Stücke von Eisen- und Bronzeobjekten und Mühlsteine. Diese wurden zur Produktion von Mehl verwendet: man bewegte sie mithilfe eines Kamels oder anderen Haustieren. Offensichtlich haben die Bewohner Aral-Asar in Eile verlassen und nahmen nur das Nötigste mit. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der See zu dieser Zeit mehrere Meter pro Jahr in die Stadt vorrückte.
Das „Meer“ von Butakow
Eine neue Ära für den Aralsee begann, als die Region unter die Herrschaft des russischen Reichs fiel. 1699 taucht der Aralsee in dem berühmten Sibirien-Atlas von Semjon Remesow auf. Es handelt sich um das erste russische Geographiewerk, zu einer Zeit, in der das Hauptaugenmerk darauf lag, die Auswirkungen der Ausdehnung des Reiches im 17. Jahrhundert zu präsentieren.
Mitte des 19. Jahrhunderts verblieb die Darstellung des Aralsees schematisch, ohne Buchten oder Inseln, mit Ausnahme von Barsakelmes. Diese Karte basierte nicht auf wissenschaftlichen Daten, sondern auf Zeugnissen der Bewohner der Aral-Region. Am 25. Juli 1848 brach der Schoner Konstantin unter dem Kommando von Kapitän Alexei Butakow vom Fort Raim auf dem Syrdarja auf. Zu dieser Zeit hatte der junge Wissenschaftler bereits die Ausbildung zum Kadetten der Marine abgeschlossen und segelte von Kronstadt zum Kap der Guten Hoffnung, zurück an Kamtschatka vorbei, an Bord des Abo. Die Hauptmission dieser Expedition von Butakow war „die detaillierte Überprüfung des Aralsees“.
Nach zwei Jahren konnten genaue geographische Konturen des Aralsees eingegrenzt werden. Die Mission von Butakow ermöglichte es, ganze Archipel von unbewohnten Inseln zu entdecken. Man gab ihnen Namen der damals regierenden königlichen Familie. Butakow hatte keine Angst, den Dichter und Maler Taras Schewtschenko, dem es nach einem Gerichtsbeschluss verboten war, zu schreiben und zu zeichnen, mitzunehmen. Während der Expedition erstellte Taras Schewtschenko zahlreiche Bleistiftskizzen und Aquarelle des Aralsees und seiner Umgebung. Im Winter 1848 kehrten alle Teilnehmer der Expedition zurück, während Taras Schewtschenko auch den Winter über verblieb. Sein Winter in Kos-Aral ist vergleichbar mit dem Boldin Herbst von Puschkin. Dieser Zeitraum war sehr produktiv für den Autor: er hat 50 Gedichte geschrieben.
Am Rande des Sees bekam Schewtschenko Heimweh und bezeichnete den Platz als „offenes Gefängnis“, aber versetzte ihn dennoch obgleich der Schönheit des Sees und der Steppe in Staunen. Schlussendlich gab man einer Bucht, die sich im nördlichen Teil des Aralsees befand, den Namen Butakows und jenen Schewtschenkos einer Schule in Aralsk, die größte Küstenstadt auf der kasachischen Seite.
Ein abgeschotteter See
Die ökologisch disaströse Situation des Aralsees hat das Ausland während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tief bewegt, trat aber weniger in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Artikeln in Kasachstan und Usbekistan in Erscheinung. Hier zum Beispiel der Titel eines Artikels im Telegraph: «Aral Sea, one of the planet’s worst environmental disasters“ („Der Aralsee, eine der schlimmsten Umweltkatastrophen des Planeten“). Die Ursachen dieses Schweigens lassen sich in der langen Periode der Geheimhaltung finden, die die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken erfuhren. Vor der Perestroika kannten lediglich Wissenschaftler, hohe Beamte und die Bewohner die Situation des Aralsees.
Ab dem Ende der 1970er Jahre wussten alle großen Forschungsinstitute aus Kasachstan, Usbekistan, Moskau und Leningrad, dass der Aralsee austrocknete. Doch ihre Forschungsergebnisse wurden nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit veröffentlicht und konnten lediglich von jenen mit Zugang eingesehen werden. Die erste Karte der Austrocknung des Sees wurde 1990 veröffentlicht.
Aber vielleicht ist all dies auch eine Frage der Mentalität. Taissia Budnikowa, die ihren Doktortitel in Geographie beim Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees erwarb, ist der Auffassung, dass „das kasachische Volk mehr oder weniger immer unter schwierigen natürlichen, ökologischen und klimatischen Bedingungen gelebt hat. Überleben stellte stets eine Herausforderung für diese Menschen dar und sie haben sich an diese Schwierigkeiten gewöhnt. Dies ist sicherlich der Grund, warum sie die Situation des Aralsees nicht als so dramatisch erachten, wie es auf internationaler Ebene wahrgenommen wird. Das Volk ist Schwierigkeiten gewöhnt und hat gelernt, diese zu bewältigen“. Taissia erforscht den See seit 1977 und hat über 100 Artikel über dieses Thema geschrieben, weswegen sie von ihren Kollegen auch „Taissia des Aral“ genannt wird.
Der Schutz des Sees
Taissia erzählt, dass Ende der 1970er Jahre niemand vorhersagen konnte, dass der See austrocknen wird. Man dachte, es handle sich einfach um eine Schwankung des Wasserspiegels und dass alles bald wieder in Ordnung käme. Am Anfang ging das Wasser ein paar Zentimeter im Jahr zurück. Aber Anfang der 1980er Jahre wich der See in der Region des Sees, wo die Küsten immer flach waren, schon mehrere Kilometer in einem Jahr zurück.
Als man verstand, dass der See so, wie er einmal war, nicht zurückkehren würde, begann man darüber nachzudenken, wie der See zu retten sei. Die Ideen waren teilweise eher unerwartet: aufhören, Wasser aus dem Amudarja und Syrdarja zu nehmen und die Erde mithilfe einer Wasseranlage mit Wind zu bewässern, Wasser aus dem Kaspischen Meer umleiten oder ein riesen Projekt zur Umverteilung der sibirischen Flüsse.
Die aktuelle Situation
Bis Mitte der 2000er Jahre war die Situation katastrophal. Zahlreiche Wissenschaftler sagten eine komplette Austrocknung des Sees vorher. 2005 wurde der Kokaral-Damm zwischen dem kleinen und großen Aralsee in Kasachstan gebaut. Das Werk ermöglicht es, den kleinen Aralsee bis zu 42 Meter zu befüllen. Aber der große Aralsee ist noch nicht gerettet. Um den kompletten See wiederherzustellen, müsste der See 60 bis 70 km³ Wasser per Jahr erhalten. Aktuell liefert der Syrdarja 6 km³, doch das komplette Wasser des Amudarja wird zur Bewässerung verwendet.
Nach dem Auffüllen des kleinen Aralsees hat sich das Leben in den Dörfern nahe des Sees dank der Rückkehr der Fische radikal verändert. Aufgrund des aktuellen Preises für Fisch kann man mit erfolgreichem Fischen zwischen 100.000 und 200.000 Tenge (zwischen 270 und 540 €) verdienen. In den Dörfern werden neue Schulen, Gesundheitszentren, Fischereiunternehmen und so weiter gebaut. Heute werden im kleinen Aralsee 8.400 Tonnen Fisch im Jahr produziert (Zahlen von 2015), wobei die Zahlen vor der Katastrophe bis zu 40.000 Tonnen betrugen.
Wohin führt Zukunft des Aralsee?
Kasachstan zeigt, dass eine Wiederherstellung von Teilen des Sees noch möglich ist. Dies beansprucht viel Zeit, ist aber möglich. Es gibt drei Schritte, die Kasachstan unternehmen kann, um den See in Teilen wiederherzustellen:
1. Den Kokaral-Damm um noch weitere 6 oder 7 Meter erhöhen, was es ermöglichen würde, den Wasserspiegel auf 48 Meter ansteigen zu lassen und somit das Wasservolumen um ein Drittel zu erhöhen;
2. Noch einen Damm in der Bucht von Sarychyganak (im Norden des kleinen Aralsees) bauen, wodurch es möglich würde, ein Auffangbecken von 50 Meter Tiefe in der Region von Aralsk zu schaffen;
3. Das Kanalsystem, das Wasser aus dem Syrdarja und Amudarja sammelt, reparieren. Die Kanäle fließen mitten in den Sand und viele von ihnen sind nicht dicht.
Doch die Frage der Verteilung des Wassers in Zentralasien bleibt wie immer vielmehr eine politische als eine ökologische Frage.
Im Original von Lena Khassanova, veröffentlicht auf Living Asia
Übersetzt für Novastan von Agnes Lüdicke