Einst war der Aralsee als das „Meer der Inseln“ bekannt. Dann wurde er verwüstet. Jetzt entsteht am Seeboden ein neues Ökosystem. Eine Fotoreportage von Ekaterina Venkina.
Der Ort, von dem es „kein Zurück mehr gibt,“ ist blass. Der Himmel hängt tief über den endlosen aschgrauen Sanddünen. Er neigt sich über staubige Beifußsträucher und Kropfgazellen, die so scheu sind, dass sie schneller verschwinden, als man sie sieht.
Barsakelmes – so heißt der Ort, von dem es „kein Zurück mehr gibt“. Der Name stammt aus dem Kasachischen und bedeutet: Wenn du hingehst, kommst du nicht wieder.
Früher war Barsakelmes eine Insel. Früher, das ist noch kein halbes Jahrhundert her. Sie lag im nördlichen Teil des Aralsees, umgeben von Salzwasser, in dem über 20 Fischarten lebten. Dann kam die Transformation: Das Gewässer wurde zu einem ariden Gebiet. Jetzt wandelt es sich wieder, diesmal in ein neues Ökosystem.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!In den 1970er Jahren begann der Salzwassersee, auch Binnenmeer genannt, zu schrumpfen. Die beiden großen Flüsse Amudarja und Syrdarja, die ihn speisten, wurden in Reis- und Baumwollfelder umgeleitet. Dies führte zu einer beispiellosen Umweltkatastrophe: Mehr als die Hälfte der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren ging verloren. Wo einst die Wellen plätscherten, entstand das Aralkum, eine der jüngsten Wüsten der Welt.
„Das Meer ist hier völlig ausgetrocknet. Aber die ganze Insel ist wie eine Samenbank“, sagt Zaureş Alimbetova, 58. Rund 13 Jahre lang leitete sie als Direktorin das Naturschutzgebiet Barsakelmes.
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Alimbetova hat miterlebt, wie sich hier das Meer in eine Ödnis verwandelt hat. Gemeinsam mit anderen Umweltexperten versucht sie nun, in dieser desolaten Gegend einen neuen grünen Lebensraum zu schaffen.
Ziel ist es, Sandstürme einzudämmen und die biologische Widerstandskraft zu erhöhen. Inzwischen arbeitet sie für einen gemeinnützigen Verein und unterstützt das Projekt „Oase“, das den Meeresboden bepflanzt. Eine echte Herausforderung bei Sommertemperaturen von über 40 Grad Celsius und einer Bodenversalzung von teilweise mehr als 40 Gramm pro Liter.

In Barsakelmes kennt Alimbetova jeden Zweig. Heute ist die ehemalige Insel eine mehr als 70 Kilometer weite Mondlandschaft, bewachsen mit Tamarisken – mittelgroßen, rosa blühenden Sträuchern – und Saxaul-Büschen. Mittendrin stehen ein paar verlassene Häuser und ein Hinweisschild im sowjetischen Stil mit den Namen seltener Tierarten. Der Weg dorthin ist beschwerlich. Die Räder eines alten, klapprigen UAZ, eines geländegängigen Minibusses im sowjetischen Stil, versinken im Sand als wäre es ein Sumpf.
„Die Saxaul-Samen landeten auf dem dürren Seeboden, und die Triebe breiteten sich schnell aus,“ sagt Alimbetova. Die kleinen, buschigen Saxaul-Bäume sind einheimisch und daher an den kargen Boden und das raue Wüstenklima angepasst. Mit ihren tiefen Wurzeln können sie rund vier Tonnen Sand festhalten.
Was in Barsakelmes auf natürliche Weise geschah, weil es dort viel Sand und Samen gab, ist an anderen Stellen des Aralsees nicht der Fall. Dort ist der Boden zu salzig und es gibt kaum Erde. Kilometerlang erstrecken sich kahle, unbewachsene Strecken mit knallweißen Salzstreifen, Tierkadavern und Muscheln. Der Aralsee wird hier nie wiederkommen.

Als der See sich zurückzog
Auch in der Stadt Aral (auf russisch: Aralsk), rund 170 Kilometer von Barsakelmes entfernt, hat sich das Meer zurückgezogen. Doch die einstige Hafenstadt zeugt noch immer von ihrer maritimen Vergangenheit. Blaue Anker zieren die Straßenlaternen. Auf einem verfallenen Laden steht „Balyk“ („Fisch“).
Gulmira, Mitte 50, früher Lehrerin, heute Hausfrau, schwärmt von den lebhaften Erzählungen ihrer Mutter. Sie muss das Meer noch gesehen haben. „In den Ferien gab es Ausflüge mit dem Motorschiff. Zur Hochzeit wurde eine Kreuzfahrt auf dem Meer organisiert, eine Seereise“, sagt sie.
Als das Wasser zurückging, liefen viele Schiffe auf Grund und saßen fest. Der 41-jährige Serik Düısenbaev sah ihre korrodierten, leblosen Rümpfe. Sie sahen aus wie riesige rostige Schatten ihrer selbst. „In der Butakow-Bucht waren es sechs“, sagt Düısenbaev, der als Englisch sprechender Fahrer arbeitet und in Aral lebt.

Die Bucht wurde um 1848 vom russischen Admiral Alexej Butakow erforscht und nach ihm benannt. Sie liegt 75 Kilometer westlich von der Stadt Aral. Einst war sie eine mehrwasserige Schifffahrtsstraße. Heute erstreckt sie sich kilometerweit als graue Ödnis, in der die blauen Wellen nur am Horizont auf den blassen Himmel treffen. Ihre Wasserfläche ist von West nach Ost von rund 40 Kilometern vor dem Rückzug des Meeres auf etwa 23 Kilometer im Jahr 2020 geschrumpft.
Von den sechs Schiffen, die hier gestrandet waren, ist nun nur noch ein verrostetes Vorderdeck übrig geblieben. „Alle anderen wurden zersägt und zur Wiederverwendung nach China verkauft,“ so Düısenbaev.
Grünes Freiluftlabor am Meeresgrund
In den Jahren, in denen sie das Reservat Barsakelmes leitete, hat Alimbetova ihre Fähigkeit, sicher aufzutreten, nahezu zur Perfektion entwickelt. In einem stark von Männern dominierten Umfeld setzte sie sich als Powerfrau durch. Mit der gleichen Souveränität bewegt sie sich nun über das abgelegene Öko-Testgelände. „Wir haben hier auf dem Meeresboden quasi ein wissenschaftliches Freiluftlabor“, sagt sie. In der „Oase“ werden die Saxaul-Setzlinge aufgezogen und ausgepflanzt.
Auf einer Fläche von 500 Hektar, rund 120 Kilometer von Aral entfernt und mitten in der Aralkum-Wüste gelegen, ist die Anlage spartanisch karg. Es gibt hier ein schlichtes Basislager, eine Baumschule hinter einem grauen Schilfzaun und einen Bohrbrunnen. Neben einem blauen Traktor steht ein orangefarbener Wassertank.
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„500 Meter tief mussten wir bohren. Hier gab es viel blaugrünen Lehm“, sagt Projektmitarbeiter Paluaniiaz Pirniiazov. Fünf Monate lang, von Februar bis Juni 2023, wurde in der Wüste gegraben. Schließlich stieß man unter dem Meeresbett auf Grundwasser, eine wichtige Ressource bei der Bepflanzung des salzigen Bodens.
Zwischen 2021 und 2024 wurden mehr als 125.000 Saxaul-Sträucher auf dem Gelände gepflanzt.

Der Arbeitszyklus folgt dem Rhythmus der Natur. Im Oktober und November werden die geflügelten Früchte mit den winzigen, 1,5 Millimeter großen Samen geerntet. Die Samen können dann granuliert und bis zur Aussaat sicher gelagert werden.
Die Pflanzung der Setzlinge erfolgt in mehreren Schritten. Im Dezember und Januar werden Furchen gezogen, um den Sand aufzufangen. Übersteigt der Bodensalzgehalt 40 Gramm pro Liter, können die Wurzeln „verbrennen“. Zu ihrem Schutz wird ein Sandpolster aufgeschüttet. Die Setzlinge werden erst im März gepflanzt, wenn sie sich noch im Winterschlaf befinden.
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Das Verfahren ist akribisch und mühsam. Manche Bäumchen werden mit ihren Wurzeln in speziellen Säcken transportiert. Andere werden mit einem Hydrogel behandelt. Das Gel besteht aus Polymerketten, die das Wasser an den Wurzeln halten. Alles, um die Überlebenschancen zu erhöhen. „Es ist immer Versuch und Irrtum“, so Alimbetova.
Vom Sand verschluckt
Was passiert, wenn der ehemalige Meeresboden nicht ausreichend bepflanzt wird, zeigen Fischerdörfer wie Aqbasty, Aqespe und Kulandy.
In Aqespe, nahe der Butakow-Bucht, haben die kriechenden Sanddünen fast alle Bewohner vertrieben. Bis auf die Fensterbänke haben sie die Häuser weggefressen. Heute ist Aqespe ein Geisterdorf. Fast alle sind in das 1,5 bis 2 Kilometer entfernte Neu Aqespe gezogen, das auf festerem Boden errichtet wurde.
„Wir ziehen auch bald um. Wir haben gerade ein neues Haus gebaut“, sagt Aıbek, einer der Dorfbewohner. Er ist einer der wenigen, die im alten Aqespe noch geblieben sind. Sein Grundstück wirkt wie ein buntes Riff im staubigen Meer der verlassenen Gebäude. Im Hinterhof baumelt eine rote Schaukel. Eine gelbe Puppe liegt verlassen neben einem Motorrad der in den 70er beliebten Marke „IZH Planeta“. Auf die Frage, ob er keine Angst habe, mit seiner Familie allein an diesem trostlosen Ort zu leben, antwortet Aıbek etwas fatalistisch: „Wir sind daran gewöhnt.“
Auch in Aqbasty und Kulandy ist die Lage prekär, die Wüste rückt immer näher.

Der Aralsee, einst der viertgrößte Binnensee der Welt, hat in den letzten 50 Jahren 90 Prozent seines Wassers verloren. Die Entstehung der 62.000 Quadratkilometer großen Aralkum-Wüste hat sogar das lokale Klima verändert. Es wurde kontinentaler, die Temperaturen in den ohnehin brütend heißen Sommern stiegen um zwei Grad.
Marat Narbaev vom Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees ist überzeugt: Die lokalen Gemeinschaften müssen durch „grüne Gürtel“ besser vor den prekären Klimabedingungen geschützt werden.
„Immer wieder wird uns gesagt: Unsere Dörfer versinken im Sand, die Gräber unserer Vorfahren werden von den Dünen verschluckt“, sagt er.
Die Initiative müsse aber bei den lokalen Behörden liegen. Die Akimaten (Stadtverwaltungen) müssten auf die Probleme aufmerksam machen und Geld für die Saxaul-Pflanzungen auftreiben, so Narbaev. Außerdem sei es notwendig, die Bevölkerung stärker in die Pflanzaktionen einzubeziehen. Für viele ist der Saxaul immer noch der Baum, mit dem man beim Grillen Feuer macht, weil das Holz beim Verbrennen viel Wärme abgibt.
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Vor drei Jahren stellte das Umweltministerium eine interaktive Karte über die Pflanzung von zwei Milliarden Bäumen vor. Sie zeigt, wo Samen gesät und wo Setzlinge gepflanzt wurden. „Jetzt kann man live mitverfolgen, wie es in den einzelnen Gemeinden vorangeht.“
Die Wüstenbildung in Zentralasien wird in den nächsten Jahren aufgrund des Klimawandels voraussichtlich weiter zunehmen. Schätzungen zufolge werden die Wasserressourcen im Syrdarja-Becken bis 2050 um 5% und im Amudarja-Becken um bis zu 15% zurückgehen.
Schon heute ist der Syrdarja bei Qysylorda im Süden Kasachstans von sandigen Landzungen eingeschnitten. Das Wasser ist flach, die Ufer mit Schilf bewachsen. Es wird deutlich: Der Aralsee steht vor weiteren Metamorphosen. Saxaul-Oasen in der Wüste zu pflanzen, scheint ein Wettlauf gegen die Zeit.
Die Recherche für diesen Artikel wurde ermöglicht und unterstützt durch das Pulitzer Center.
Ekaterina Venkina für Novastan
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