Während in Usbekistan Kinderkriegen für weite Teile der Bevölkerung als unverzichtbarer Teil des Lebens und gesellschaftliche Pflicht gilt, gibt es immer mehr Menschen, die sich sehr bewusst für oder gegen den Nachwuchs zu entscheiden. Doch was sind die genauen Beweggründe hinter „Childfree“ in Usbekistan?
Der Begriff „Childfree“ und die dahinterstehende Ideologie ist nicht mehr ganz neu, sondern kam in den USA im Kontext der Emanzipation auf. In den 70ern wurde die Nationale Organisation für Nicht-Eltern gegründet und später in Nationale Allianz für optionale Elternschaft (NAOP) umbenannt. Die Gründung zielte vor allem darauf ab, eine soziale Gruppe von Menschen auszumachen, die sich freiwillig gegen das Kinderkriegen entschieden hatten. Der Verein setzte sich für die Normalisierung dieser Lebensweise ein und sprach sich gegen die stereotypische Verpflichtung des Kinderkriegens aus.
Doch es gibt viele Mythen und Vorurteile kinderlosen Menschen gegenüber: Mal heißt es, sie würden Kinder hassen, mal sie seien egoistisch. Ihr Verhalten sei natürlich alles andere als normal und sie entzögen sich ihrer Pflicht gegenüber dem Fortbestehen des eigenen Volkes.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Anna Rumyantseva ist beratende klinische Psychologin und Mitglied der Vereinigung der kognitiven Verhaltenstherapeut:innen. Sie bekräftigt, dass die moderne Psychologie die Entscheidung gegen Kinder nicht für eine Abweichung von der Norm hält. „Studien belegen, dass wir keine Instinkte haben, somit auch nicht den der Fortpflanzung. Die Entscheidung, Kinder zu bekommen oder nicht, bleibt daher jedem selbst überlassen. Sie hängt von seinem Umfeld und vielen weiteren Faktoren ab“, erklärt die Psychologin.
„Aus meiner Praxis weiß ich, dass manche Klienten als Folge eines Kindheitstraumas, wie zum Beispiel Missbrauch, keine Kinder haben wollen. Sie haben Angst davor, ihre Elternrolle schlecht umzusetzen oder ihr Kind zu verletzen. Eine Therapie kann hier Abhilfe schaffen“, so Rumyantseva. Angst oder Trauma seien aber nur eine mögliche Quelle der Entscheidung.
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Die eine will erst sein Studium abgeschlossen wissen, der andere seine Eigentumswohnung erwerben und wieder jemand anderes möchte sich bei der Partner:innen-Wahl sicher sein.
Wiederum andere sind mit der Lage der Welt nicht zufrieden und möchten aus Gründen, die die Umwelt, Wirtschaft oder anderen Faktoren betreffen, keine Nachkommen in diese Welt setzen. Jede Geschichte ist anders, ebenso die Gründe, sich gegen Kinder zu entscheiden. Menschen, die sich selbst als kinderlos bezeichnen, haben ihre Erfahrungen mit Hook geteilt.
Yevgeni, 38, Spieleentwickler
Ich glaube, ich machte mir das erste Mal dazu Gedanken, als einige meiner Altersgenossen Eltern wurden. Ich hatte kein Bedürfnis danach und fühlte mich mit kleinen Kindern im Allgemeinen nicht besonders wohl. Es wurde anstrengend, Freunde zu besuchen, die alle naselang Bilder von ihren Kindern zeigten und ich ganz gerührt dazusitzen hatte. Zuerst dachte ich, ich sei einfach noch nicht so weit, hätte noch nicht genug gehabt. Aber als die Jahre vergingen und der Kinderwunsch nicht auftauchen wollte, wurde mir klar, dass er das niemals würde.
Als schließlich die Tochter meiner Freunde zur Welt kam, hatte ich keine Zweifel mehr. Ich beobachtete sie, sah, wie sie sich ganz dem Kind widmen mussten, während ihr Leben, ihre Interessen, ihr soziales Umfeld hinten runter fielen. Da wurde mir klar, dass ein Kind eine der großen Entscheidungen des Lebens ist, und man sich seines Willens so sicher wie nur möglich sein sollte. Childfree steht für mich allen voran für das Bewusstsein darum, bei dieser Entscheidung in sich selbst hineinzuhorchen und weniger auf den Druck und die Meinung Außenstehender zu geben.
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Ich werde nicht eines Nachts hochschrecken, nur um festzustellen, nicht das Leben zu führen, dass ich mir wünsche. Niemand hat sich um meine Entscheidung zu scheren. Hin und wieder meinten Bekannte und Nachbarn meiner Eltern, mich mit dem Thema Heirat und Kinder zu langweilen. Aber das passiert eben, wenn man keine anderen Gesprächsthemen hat. Was das Altwerden ohne Kinder betrifft? Ich halte es für egoistisch, einem Menschen den Weg ins Leben zu ebnen mit der eigensinnigen Absicht, irgendwann ein Helferlein im Haus zu haben. Wer so etwas sagt, ist schlicht und einfach neidisch, dass andere den Mut haben, so zu leben, wie sie wollen, und nicht, wie sie sollten.
Anastasia, 20, Künstlerin
Als ich etwa neun Jahre alt war, fand ich sechsjährige und jüngere Kinder furchtbar nervig. In der 6. bis 7. Klasse machten meine Klassenkameraden allen erdenklichen Blödsinn mit den Erstklässlern und führten Gespräche über Kinder. Ich selbst konnte diesem Thema gar nichts abgewinnen.
Childfree heißt für mich, Bewusstsein und Verantwortung für das Leben anderer Menschen zu übernehmen. Ich glaube, dass man ein Kind aus ganzem Herzen wollen sollte, um eines zu bekommen. Es geht dabei auch darum, eigene psychische Verfassung, das Geschehen in dieser Welt, die wirtschaftliche Lage einzuschätzen und sich seines Partners und seines Wunsches sicher zu sein. Meine Mutter nimmt das alles ganz gelassen. Andere Verwandte schauen mich an, als wäre ich verrückt, oder versuchen mir weiszumachen, dass ich tief in mir den Kinderwunsch habe oder noch entwickeln werde und es einfach noch nicht verstanden hätte.
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An dieser Entscheidung kann nur ich selbst rütteln. Ob und was mich in dieser Hinsicht beeinflusst, das wird sich zeigen. Sicher spielt auch meine panische Angst vor der Geburt eine entscheidende Rolle. Sollte ich wider Erwarten irgendwann ein Kind haben wollen, würde ich so oder so adoptieren.
Nigina, 36, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Vor meinem zwanzigsten Geburtstag war der Kinderwunsch immer wieder präsent, wenn auch unbewusst. Das ging einfach allen so und alle akzeptierten das. Als ich mit 25 eine lange Beziehung beendete, wurde mir nach und nach klar, dass ich mit unserer kinderlosen Situation immer glücklich gewesen war. Die Verantwortung war mir zu groß und ich wollte nicht bis an mein Lebensende Mutter sein. Aus dieser Rolle kann man nicht mal eben aussteigen, die Verantwortung beiseitelegen, ein Nickerchen machen und neue Kraft fürs Mutterdasein tanken.
Sicher liegen die Gründe hierfür auch in meiner Kindheit. Nicht, dass ich es außerordentlich schwer hatte – jeder hat sein Päckchen zu tragen. Meine Eltern waren oft lange mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ich war zweitrangig. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie froh darum waren, mich als Kind zu haben. Meine Probleme brachten sie aus dem Konzept und ihre elterlichen Pflichten beschränkten sich aufs Kochen und Umziehen.
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Für mich geht es auch darum, jemanden zu lieben, den ich niemals haben werde. Ich werde nicht die Mutter sein, die ihre Entscheidung eines nachts bereuen wird. Ein Kind verdient es, geliebt und gut erzogen zu werden. Eltern zeigen sich immer öfter wohlwollend. Wenn ihre Kinder irgendeine Art Blödsinn zum ersten Mal machen, agieren sie unterstützend, statt gleich in die Luft zu gehen. Manch einer hat eine solche Liebe im Gegensatz zu mir selbst erfahren dürfen. Eben deshalb könnte ich sie meinen Kindern auch nie weitergeben.
Wenn ich mir wieder anhören darf, wie egoistisch ich sei, kann ich darüber nur lachen. Wie viele Familien bekommen aus einer Laune heraus oder völlig unüberlegt Kinder? Aber die Verachtung ernte natürlich ich. Meine Freunde und meine Familie fallen mir mit ihrer Meinung dazu nicht ins Haus. Das ist eine Ausnahme, in einer Gesellschaft, in der es Gang und Gäbe ist, über einander zu urteilen und Entscheidungen zu verurteilen.
Ethik und Taktgefühl
Eifrig nachzuhaken, was Menschen zum Leben ohne Kinder bewegt, ist sicher interessant, aber nicht immer rücksichtsvoll. Hinter einer Entscheidung stecken mitunter komplexe Lebenswege, schwierige Erfahrungen und schmerzhafte Erinnerungen. Nicht jeder Mensch ohne Kinder ist ein kinder-freier Mensch.
Elena Medvedeva, Familien- und Entwicklungspychologin, schreibt darüber in ihrem Blog: „Über einen so intimen Teil unseres Lebens spricht man nicht mit jedem. Es ist gesellschaftlich völlig normal, wenn sich auch Nachbarn oder Bekannte an Plänen für die Fortführung der Familie interessieren. Wer sich als Childfree bekennt, geht schmerzhaften, taktlosen Fragen aus dem Weg. Gleichzeitig schützt er sich vor mitunter schwierigen Themen oder Situationen, in denen man ihm vorwerfen würde, er sei hinsichtlich Fortpflanzung unfähig oder minderwertig.“
Kinder zu haben oder nicht – das ist eine große Entscheidung im Leben eines jeden Menschen. Laut Expert:innen sind beide Optionen hervorragend, solang die Entscheidung bewusst getroffen wird.
Das Original von Hook wurde von der Redaktion von Novastan gekürzt
Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat
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