Jüngsten Messungen zufolge ist der schon seit mehreren Jahren rückläufige Wasserstand des Kaspischen Meeres im vergangenen Jahr weiter gesunken. Dies wirft die Frage auf, ob das Kaspische Meer in naher Zukunft dasselbe Schicksal teilen wird wie der zu trauriger Berühmtheit gelangte Aralsee.
Die Präsidentin des Nationalen Zentrums für die Erforschung des Kaspischen Meeres Masume Bani Hashemi hat am 18. Mai mitgeteilt, dass der Wasserstand des Kaspischen Meeres zwischen 2018 und 2019 um 13 Zentimeter gesunken ist. Dies berichtet die iranische Nachrichtenagentur der Islamischen Republik (IRNA). Der Pegel des Kaspischen Meeres, das sich unterhalb des Meeresspiegels befindet und dessen Höhe daher negativ angegeben wird, sei demnach auf -27,18 Meter gefallen.
„Der Wasserstand im Kaspischen Meer ist im Jahr 2019 auf den niedrigsten Stand der letzten 30 Jahre gefallen und folgt seit 1995 einem Abwärtstrend“, teilte Bani Hashemi mit.
Mehrere Gründe für den sinkenden Pegel
Laut Bani Hashemi ist dieser Rückgang vor allem auf zurückgehende Abflussmengen in der Wolga zurückzuführen. Wie die iranische Zeitung Tehran Times berichtet, war die Überschwemmungszeit des Flusses, die normalerweise von Anfang Mai bis Ende Juli dauert, im Jahr 2019 kürzer als sonst. Außerdem lag die Abflussrate unter dem üblichen Durchschnitt. Dies hat erhebliche Auswirkungen, da die Wolga der größte unter den Zuflüssen des Kaspischen Meeres ist. Sie führt ihm durchschnittlich 240 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu, also 80 Prozent der Gesamtmenge des einströmenden Wassers. Andere größere Zuflüsse sind die Kura, der Ural, der Terek, der Sefid Rud und der Haraz, aber die jeweils zufließende Wassermenge ist deutlich geringer.
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Der andere Hauptgrund für den zurückgehenden Wasserstand des Kaspischen Meeres ist laut IRNA der Anstieg der Durchschnittstemperatur. Nach Angaben des Nationalen Zentrums für die Erforschung des Kaspischen Meeres ist der Anstieg der Temperatur an der Meeresoberfläche in den letzten Jahren zu einem besonders wichtigen Faktor geworden. Im Vergleich zu 2018 lag diese 2019 durchschnittlich um 0,2 °C höher. Wie die Tehran Times berichtet, waren in den letzten zwei Jahren alle Teile des Kaspischen Meeres mit Ausnahme des Nordens von diesem Temperaturanstieg betroffen.
Bestätigung früherer Prognosen
Die jüngsten Messungen scheinen die Prognosen russischer ExpertInnen zu bestätigen, über die am 14. Mai 2019 in der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gazeta berichtet wurde. Diese sagten unter anderem voraus, dass der Wasserstand des Kaspischen Meeres bis Ende 2019 um bis zu 15 Zentimeter sinken werde. Die Realität kommt dem sehr nahe.
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Als ökologische und wirtschaftliche Folgen nannten sie unter anderem eine Verringerung der Fischpopulationen, einen Rückgang des Schiffsverkehrs sowie die Bildung von Untiefen.
Wachsende Sorgen
Das Schicksal des Kaspischen Meeres ist sowohl aus ökologischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht von entscheidender Bedeutung. Das größte geschlossene Binnengewässer der Welt wird im Nordosten von Kasachstan, im Nordwesten von Russland, im Westen von Aserbaidschan, im Süden vom Iran und im Südosten von Turkmenistan eingerahmt. Es ist daher Gegenstand zahlreicher geopolitischer Fragen. Im August 2018 erhielt es einen rechtlichen Status mit einer Art Verfassung, die in der kasachstanischen Hafenstadt Aqtaý von den Anrainerstaaten unterzeichnet wurde.
Die Sorgen werden umso größer, je alarmierender die Messungen sind. An manchen Stellen hat sich die Küstenlinie aufgrund des sinkenden Wasserspiegels bereits um 100 Kilometer verschoben. Viele WissenschaftlerInnen sind der Meinung, dass das Kaspische Meer das gleiche Schicksal wie das des Aralsees ereilen könnte. Laut der überbehördlichen Arbeitsgruppe zur Regulierung der Wolga-Kama-Kaskade war der Juni 2019 für die untere Wolga kritisch, da sie den niedrigsten Wasserstand seit mehreren Jahrzehnten verzeichnete.
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Satellitenbilder zeigen, dass der Nordosten des Kaspischen Meeres zwischen 2005 und 2018 bereits auf einer Fläche von 5.000 Quadratkilometer ausgetrocknet ist und sich neue Inseln und eine neue Küstenlinie gebildet haben. Darüber hinaus kann ein Sinken des Wasserstandes um mehr als einen Meter zu einem Rückgang der Küstenlinie um 50 Kilometer führen, insbesondere in Kasachstan, wo der Meeresboden flach abfällt und leicht austrocknen kann.
Widersprüchliche Prognosen
Masume Bani Hashemi erwartet, dass der Rückgang des Wasserspiegels im Kaspischen Meer aufgrund des Klimawandels und der Verdunstung des Wassers trotz möglicher jährlicher Schwankungen langfristig anhalten wird.
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Elena Ostrowskaja, Direktorin des Kaspischen Meeresforschungszentrums, sieht die Situation hingegen weniger pessimistisch. Ihrer Meinung nach gebe es die Chance, dass der Meeresspiegel auf lange Sicht wieder steigen wird, berichtet Kaspijskij Westnik. Es sei jedoch „noch nicht klar, auf wessen Kosten dies geschehen wird. Faktoren wie Luftfeuchtigkeit oder der erhöhte Wassergehalt des Wolga-Beckens in den kommenden Jahrzehnten können eine Rolle spielen“, erklärt die Expertin.
Tanguy Martignolles, Redakteur für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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