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Tschingis Aitmatow und sein literarisches Werk

Tschingis Aitmatow ist eine Größe der Literatur – nicht nur in seiner Heimat Kirgistan, sondern in der gesamten ehemaligen Sowjetunion. Über die Jahrzehnte hat er eine Reihe manchmal mysteriöser, manchmal widersprüchlicher Erzählungen entwickelt. Novastan stellt Autor und Werk vor.

Die Redaktion 

Übersetzt von: Robin Roth

Tschingis Aitmatow
Tschingis Aitmatow ist der bekannteste Schriftsteller Kirgistans

Tschingis Aitmatow ist eine Größe der Literatur – nicht nur in seiner Heimat Kirgistan, sondern in der gesamten ehemaligen Sowjetunion. Über die Jahrzehnte hat er eine Reihe manchmal mysteriöser, manchmal widersprüchlicher Erzählungen entwickelt. Novastan stellt Autor und Werk vor.

Anfang Februar fand im Rathaus des 5. Arrondissements von Paris eine Messe für russischsprachige Literatur statt, auf der während einer Lesung eine Stimme aus den fernen kirgisischen Steppen erklang. Die Präsentation und Lesung eines Ausschnitts aus der „Klage des Zugvogels“ von Tschingis Aitmatow (1928-2008) fand vor einem kleinen Publikum statt, höchstens 15 Personen. Als ob der Schriftsteller nicht mehr von der Aura profitieren würde, die er hatte, als er einer der meistgelesenen Autoren in der UdSSR war und Louis Aragon ihn in seinem Vorwort zu „Dschamila“ zu einem der Größten erklärt hatte. Auch heute lohnt es sich immer noch, seine Werke zu lesen.

Geheimnis und Poesie im Herzen der Intrige

Wenn ein Roman einen so lebhaften Eindruck in den Köpfen der LeserInnen hinterlässt, liegt das vielleicht vor allem daran, dass er sich um ein Geheimnis dreht, das sich im Lauf der Erzählung allmählich lüftet. Zu Beginn jeder Erzählung formuliert ein Erzähler ein Geheimnis, das eine Erzählung voller Emotionen erfordert. Zu Beginn von Aitmatows Novellen „Der erste Lehrer“ und „Dschamila“ nimmt ein bescheidenes oder unvollendetes Gemälde einen besonderen Platz im Herzen des Erzählers und Malers ein. Ein Bild, das aus einer erschütternden Geschichte entstand, die ihn dazu veranlasste, unbedingt den Pinsel in die Hand zu nehmen.

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Andere Rätsel sind in die Rahmenerzählung eingebettet, wie die zwei Zwillingspappeln, die in „Der erste Lehrer“ „etwas Besonderes“ in den Augen des Kindes haben, die ihren „vielfältigen Refrains“, ihren „leidenschaftlichem und feurigem Flüstern“, ihrem Schweigen lauschen. Später wird ihm die herzzerreißende Erzählung einer alten Akademikerin erlauben zu verstehen, was diese Bäume zu einer so einzigartigen Sprache bewegte. In „Dschamila“ taucht ein Frontsoldat im Dorf auf. Wer ist dieser schweigsame und verträumte Mann, der auf einem Hügel sitzend den Geräuschen der Welt zu lauschen scheint? Der die Nächte am Ufer des Flusses verbringt, wenn dieser die Nacht mit einem ohrenbetäubenden Rauschen füllt? „Es steckte etwas Unzugängliches in seiner stillen, düsteren Träumerei, und das hielt uns zurück.“

Was das Geheimnis des kleinen Jungen in „Der weiße Dampfer“ ist, ist dem Leser von Anfang an bekannt: Es sind die Geschichten, die seine Phantasie beleben, um der Einsamkeit und der ihn umgebenden Gewalt zu entkommen. Wie der Soldat in „Dschamila“ scheint er aus einer anderen Welt zu kommen, die aus Gedanken und Verbundenheit mit der Weite der Natur besteht. Das Kind sehnt sich mit seiner ganzen Seele danach, ein Fisch zu werden, um sich dem weißen Dampfer auf dem See Yssykköl anzuschließen; auf ihm ist zweifellos sein Vater, mit dem er sprechen möchte, Matrose. Aber die mythische Erzählung seines Großvaters über die Ursprünge seiner Sippe, die schöne Legende von der gehörnten Hirschkuh, wird zum höchst wertvollen Schatz seiner Seele. Ein Schatz, der furchtbar in den Schmutz gezogen werden wird.

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Die dramatische Intensität jeder Erzählung wird oft mit einem Gesang oder einer Legende verbunden, was der Erzählung eine eminent poetische Dimension verleiht. So findet sich diese Ästhetik der Mündlichkeit wieder, die jenem epischen Genre eigen ist, dem Aitmatow verpflichtet ist. Die Emotion und Poesie der drei Erzählungen sprudeln aus einer Stimme, die denjenigen, der sie hört, noch lange erschüttert – so wie Danijars (der Frontsoldat aus „Dschamila“, Anm. d. Ü.) „Lied der Berge und Steppen, das sich mal klanglich erhob wie das kirgisische Gebirge und sich mal ungehindert ausbreitete wie die kasachische Steppe“.

Eine Kollision von Tradition und Moderne

Die Erzählungen von Tschingis Aitmatow sind zwar voll unbestreitbarer Poesie, aber sie lassen auch über den Platz der jahrhundertealten Traditionen der Steppenvölker in der sowjetischen Gesellschaft reflektieren. Die Beziehung zwischen den alten Werten und den neuen Ideen und Gesellschaftsvorstellungen des Kommunismus wirkt tiefgründig und subtil, sowohl im Werk als auch im Leben des kirgisischen Schriftstellers. Aitmatow, ein Enkel nomadischer Hirten, interessierte sich für die Legenden und Folklore seines Landes und wurde zu einer unumgänglichen nationalen Figur, wie seine Statue in Bischkek beweist, die neben der von Manas, dem Helden des Nationalepos, steht.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte er zwischen 2000 und 2008 zudem eine führende politische Rolle inne, indem er Botschafter der jungen Republik Kirgistan in Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden wurde.

Dschamilja Briefmarke Kirgistan
Dschamila ist das wohl berühmteste Werk der kirgisischen Literatur

Wenn auch Aitmatow aufgrund seiner Verbundenheit zu Land und Geschichte als ein zutiefst kirgisischer Autor gilt, so ist er auch ein großer sowjetischer Schriftsteller, der mit dem Lenin-Preis ausgezeichnet wurde. Nach seiner Tätigkeit als Agronom und Journalist wurde er 1985 Berater von Michail Gorbatschow und war bis 1994 Botschafter der UdSSR und dann Russlands in Luxemburg. Er unterstützte die Politik der Perestroika und wurde ein Befürworter der Öffnung, allerdings einer Öffnung, die mit der Erinnerung an die Vergangenheit verbunden war. Er, der seinen Vater, einen hochrangigen Beamten, der Opfer der Großen Säuberungen Stalins wurde, verloren hatte, konnte nicht an eine neue Gesellschaft denken, ohne die Erinnerung an die Traumata der Vergangenheit zu bewahren.

Seine Bücher zeichnen ein realistisches Bild von der damaligen Sowjetrepublik Kirgistan, in der die nomadischen Völker die Kollektivierung des Landes, die Landflucht und den Versuch der Schulbildung erleben. Uralte Traditionen und Werte treffen manchmal nicht reibungslos auf neue Ideen und neue Moralvorstellungen. Beide koexistieren, die nationale Geschichte und Kultur der Steppenvölker auf der einen Seite und die Russifizierung auf der anderen Seite. Sein Vorzeigewerk „Ein Tag länger als das Leben“ wird trotz seiner Bedeutung bis heute nicht neu verlegt (ist aber als E-Book weiterhin auf Deutsch verfügbar, Anm. d. Red.). Es zeigt die Gefahren der Russifizierung genauer auf.

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Die Schule ist in Aitmatows Werken ein wiederkehrender Ort, an dem sich die Spannungen zwischen der patriarchalischen Gesellschaft und der sowjetischen Gesellschaft, die sich von den Völkern in den entlegenen Regionen des Reiches emanzipieren will, kristallisieren. Beim Lesen der Erzählungen wird klar, dass Aitmatow diese Dynamik der Schulbildung in den Dörfern seines Landes tief in seinem Herzen trägt. Der „erste Lehrer“ ist ein junger Komsomolze (Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes, Anm. d. Red.), der getragen vom Ideal der sowjetischen Aufklärung in einen Aul kommt, ohne selbst besonders gebildet zu sein. Er wird voller Aufopferung die Kinder des Dorfes „unterweisen“, damit sie nicht ihrerseits „zertrampelt und gedemütigt“ leben. Er erfährt aber nur Spott und Vorbehalte derer, die meinen, dass nur ein Mullah unterrichten kann. Die Beziehung zum Wissen erweist sich auch als problematisch, als ein junger Neulandgewinner aus Russland kommt, um in „Das Kamelauge“ auf dem Feld zu arbeiten. Als „Akademiemitglied“ ist er nur den wenigsten bekannt und muss mehrere Kränkungen erleiden.

Es ist ebenfalls spannend, die Kollision zwischen Tradition und Moderne in „Der weiße Dampfer“ zu beobachten. So wird der Großvater einerseits zur Zuflucht der uralten Werte wie Gastfreundschaft, Erinnerung an die Ahnen oder Respekt für die Natur, anderseits wohnt ihm aber gleichzeitig die Sorge um die Erziehung inne. Deshalb nimmt er den Schulbeginn seines Enkels sehr ernst, während andere Familienmitglieder, Vertreter einer entmenschlichten Gegenwart, dies nicht tun.

Die Menschwerdung der Natur

Das Universum von Tschingis Aitmatow zeichnet sich durch die zentrale Stellung der Natur aus, die sowohl durch ihre majestätische Schönheit als auch durch ihre Rauheit besticht. Bei einem Autor, der der langen Tradition des kirgisischen Epos entstammt, ist das nicht verwunderlich, denn schon im epischen Gedicht Manas wurde die Natur gepriesen, die so zur Unverhältnismäßigkeit neigt. Wenn sich jede Geschichte zwischen den Steppen und den Bergen entwickelt, so bilden letztere weniger einen Rahmen, als dass sie mit der Handlung zusammenhängen und ihr oft das Tempo vorgeben. Die Beschreibungen lassen alle Metamorphosen der Landschaften im Laufe der Jahreszeiten schimmern, wenn sie das Leben der Menschen noch entschiedener als anderswo beeinflussen.

Eine Atstellung in einer Fußgängerzone
Eine Ausstellung über Aitmatow, Bischkek 2018

Die Liebe des Autors zur Natur führt ihn auch dazu, ihr quasi einen eigenen Charakter zu verleihen, indem er ihr in seinen Beschreibungen ein menschliches Leben einhaucht. Die beiden Pappeln auf dem Hügel über dem Aul in „Der erste Lehrer“ „haben ihre eigene Sprache und zweifellos ihre eigene Seele, eine singende Seele […] aus all ihren zitternden Ästen, sie seufzen tief, als würden sie nach jemandem schmachten“. Bei Aitmatow geschieht alles so, als ob die Elemente vor Leben und menschlicher Absichten pulsieren.

Die Beschwörung der Natur kann auch ideologische Akzente in der Rede des Akademikers setzen, der bei seinen Schülern den Wunsch wecken will, „glorreiche Eroberer der jungfräulichen Länder, furchtlose Pioniere der neuen Regionen“ zu werden. So beschreibt er den Anarchai als „Eine seit Jahrhunderten unberührte, prachtvolle Wermutsteppe, die sich von der Kurdaihochebene bis zum Schilfdickicht des Balqash-Sees erstreckt! Wie die Sage berichtet, sollen sich in den alten Zeiten große Pferdeherden in den hügeligen Anarchai verirrt haben und spurlos verschwunden sein. […] Anarchai – der stumme Zeuge vergangener Tage, der Schauplatz gewaltiger Schlachten, die Wiege der Nomadenstämme. Doch nun ist dem Anarchaiplateau beschieden, eins der reichsten Viehzuchtgebiete mit Freigehegen zu werden.“

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Diese legendäre Rede veranlasst einen Jungen, seine Familie zu verlassen, um Mechaniker zu werden. Jedoch nicht in den jungfräulichen Ländern Kasachstans, von denen alle Zeitungen sprechen, sondern in jenem Anarchai, dessen synästhetische Schrift den Reichtum der Empfindungen transkribiert. „Das Fahrzeug fuhr auf eine kaum sichtbare Straße, verloren in einer grünen, hügeligen Steppe und in der Ferne von einem bläulichen Nebel leicht verschleiert. Aus der Erde strömte ein Duft von geschmolzenem Schnee, und schon war in der feuchten Luft der neue und beißende Geruch von Anarchai-Wermut zu erkennen […], dessen junge Triebe unter den Rhizomen am Fuße der trockenen und gebrochenen Stiele des Vorjahres sprangen. Der Wind brachte uns die Echos und Klänge dieses so reinen Frühlings durch die unendlichen Steppen.“

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Während die kirgisische Natur ihre Allmacht zu zeigen scheint, möchte Aitmatow jedoch vor allem ihre Verletzlichkeit darstellen. Die allegorische Erzählung „Der weiße Dampfer“ verdeutlicht dies, indem sie den Verrat des Menschen an der ihn verwöhnenden Natur darstellt. Die Natur nimmt hier die Züge des Marals an, dieses großen weißen Hirsches aus Sibirien, der nur noch flüchtig erscheint, seit die Menschen ihn vor langer Zeit vertrieben haben. Die Legende von der Gehörnten Hirschkuh hat einen so fruchtbaren Nährboden in der Vorstellung des vereinsamten Kindes gefunden, dass es, als es sich mitten in seiner Familie wiederfindet und ein Gericht aus frischem Maralfleisch isst, sich aus Verzweiflung nur in den Bach stürzen kann.

Eva Philippon, Redakteurin für Novastan France

Aus dem Französischen von Robin Roth

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