Seit der Unabhängigkeit hat sich der Geschichtslehrplan in Usbekistan stark verändert, meist zugunsten trockener Daten und Fakten. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Hook, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Geschichte scheint nichts zu sein, was sich ändern kann. In Usbekistan hat sich aber seit der Unabhängigkeit nicht nur der Geschichtslehrplan dramatisch verändert, sondern auch die Unterrichtsmethodik und die Prufüngskriterien.
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Im sowjetischen Bildungsmodell lag der Schwerpunkt auf der Parteiideologie, nach der Bildungsreform 1997 wurden vor allem die „nationale“ Geschichte und ihre Helden gelehrt.
Vor und nach der Unabhängigkeit
Wie in anderen postsowjetischen Ländern wurde der Geschichtslehrplan in Usbekistans Schulen nach der Unabhängigkeit vollständig überarbeitet. Die einheitliche sowjetische Geschichtserzählung, die weitgehend auf der Verherrlichung von Sowjetmacht und -revolution und der scharfen Kritik am zaristischen Regime aufbaute, wurde in zwei Zweige aufgeteilt: die Weltgeschichte und die Geschichte Usbekistans.
Die Autoren der ersten Lehrbücher zur Nationalgeschichte, die bereits 1992 und 1995 veröffentlicht wurden, bezogen sich eher verhalten und objektiv auf die „koloniale Vergangenheit“ und betrachteten diese Zeit nicht nur als eine blutige Zeit der Volksaufstände, Befreiungsbewegungen und Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung, sondern auch als eine Zeit der rasanten Industrialisierung und der Modernisierung.
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Um die Jahrtausendwende erschien jedoch Raximovs skandalöses Lehrbuch „Die Geschichte Usbekistans (zweite Hälfte des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts)“, das die Politik des russischen Reiches und der UdSSR gegenüber Turkestan (administrative Bezeichnung von Teilen Zentralasiens zwischen 1918 und 1924, Anm. d. Ü.) scharf kritisierte. Das Werk stoß auf eine weite gesellschaftliche Resonanz, wurde schnell zurückgezogen und 2003 in einer Neuausgabe neu veröffentlicht.
Die Geschichtsbücher in Usbekistan werden weiterhin alle paar Jahre neu veröffentlicht, da die Geschichte buchstäblich vor unseren Augen passiert: Neue Daten erscheinen, Alte werden genauer erläutert. Ein fester Bestandteil des neuen Bildungsprogramms ist die Wiederherstellung der historischen Vergangenheit von Nationalhelden verschiedener Epochen: von der Dynastie der Timuriden (1370-1507) bis zum langjährigen Parteichef der usbekischen Kommunistischen Partei Sharof Rashidov (1917-1983). Diese Helden schließen sowohl wissenschaftliche und kulturelle Persönlichkeiten als auch Staatsmänner ein. Erwähnenswert sind auch die Veränderungen im Lehrprogramm der Literatur, das neben russischen und westlichen Klassikern auch das obligatorische Studium usbekischer Schriftsteller umfasst.
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Mit der Weltgeschichte verhält es sich anders. Nach der Unabhängigkeit geschriebene Schulbücher zu diesem Thema schrumpfen mit jeder neuen Veröffentlichung. Wie auch bei Lehrbüchern usbekischer Geschichte verbleiben nur noch trockene Fakten und Daten, die einen Mittelschüler kaum interessieren können.
Die Lehrerinnen und Lehrer erinnern sich mit warmem Herzen an ihre Schulzeit, in der jedem einzelnen Thema die nötige Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Nun sind für das Thema „Afrika“ buchstäblich ein paar Stunden vorgesehen und „Mythen des antiken Griechenlands“ umfasst als Unterthema eine halbe Seite. Früher konnten die Schüler jedes Land des Kontinents und jeden einzelnen Mythos im Detail erforschen. Manch einer mag darin eine Zeit- und Ressourcenverschwendung sehen, denn „in Prüfungen findet man solche Aufgaben nicht“, aber darin liegt auch das Hauptproblem des Geschichtsunterrichts unserer Tage.
Was die Veränderungen bewirken
Die meisten Geisteswissenschaftslehrer sind zwar der Meinung, dass Geschichte mündlich oder schriftlich, aber auf keinen Fall als Test geprüft werden sollte, dennoch wurde 1992 fast unmittelbar nach der Unabhängigkeit eine Universitätszulassung auf Testbasis erteilt. Zwei Jahre später wurde ein einheitliches und noch immer bestehendes staatliches Testzentrum gegründet. Dieses ist einerseits tatsächlich standardisierter, transparenter und objektiver. Andererseits verlieren die Schülerinnen und Schüler nicht nur die Fähigkeit über vergangene Ereignisse Bescheid zu wissen, sondern vor allem auch auf der Grundlage verschiedener Quellen zu analysieren. Die geforderten kurzen Antworten auf bestimmte Fragen findet sie stattdessen in einem einzigen Lehrbuch oder einer einzelnen Wikipedia-Seite.
Ein weiterer Schlag für das Fach Geschichte in den Sekundar- und Berufsschulen war die Bildungsreform im Schuljahr 2017/2018. Das fängt damit an, dass Lehrplan und Lehrbücher gar nicht an die neue elfjährige Schulpflicht angepasst waren.
Die akademischen Lyzeen (meist Universitäten zugeordneten Oberstufen, Anm. d. Ü.), die bereits einen eigenen fortgeschrittenen Geschichtslehrplan besaßen, wurden den Schulen gleichgestellt, und die Studienzeit wurde von drei auf zwei Jahre verkürzt. Auf die Weise unterscheidet sich der gekürzte Lehrplan fast nicht mehr vom allgemeinen, nicht fortgeschrittenen Schullehrplan.
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Wahrscheinlich sollen dadurch die Chancen von Schul- und Lyzeumsabsolventen in den universitären Aufnahmeprüfungen ausgeglichen werden. So geht aber auch der ganze Sinn einer Struktur wie das akademische Lyzeum verloren. Sechs Monate nach den Reformen wurden weiter einheitliche Schulbücher für die zehnte und elfte Klasse veröffentlicht, die aber augenscheinlich in aller Eile geschrieben und übersetzt wurden.
Darüber hinaus wurde beschlossen, ab 2020 das Fach Geschichte Usbekistans zusammen mit Usbekisch und Mathematik in die Liste der Pflichtfächer für die staatliche Universitätszulassung aufzunehmen. Die Reaktionen waren zweideutig: Natürlich sollte jeder die Geschichte seines Landes kennen, aber besonders für die Anwärter technischer Studiengänge, die in Schulzeit humanitäre Themen vernachlässigt haben, war die Nachricht ein Schock.
Die Zukunft der Geschichtswissenschaft in Usbekistan
So oder so spielt die Geschichtskenntnis eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des Weltbildes eines jeden Menschen. Dabei geht es weniger um die Kenntnis von Namen, Daten und Ereignissen, als um die Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden und einige Schlussfolgerungen zu ziehen.
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Leider paukt die Mehrheit der Studierenden und Bewerber Geschichte, um die Prüfung oder die Zulassung zur Philologischen oder Juristischen Fakultät zu bestehen (wo sie im Übrigen gezwungen sind, das Geschichtscurriculum von Anfang an erneut zu durchlaufen). Nur wenige streben ein Geschichtsstudium und Lehre oder Forschung in diesem Bereich an. Dabei braucht es radikale Veränderungen in der Herangehensweise an das Studium und die Prüfung dieses Faches, um seine Autorität wiederherzustellen und die Zahl der qualifizierten Geschichtslehrer und des wissenschaftlichen Personals zu erhöhen.
Ekaterina Bondarenko für Hook
Aus dem Russischen von Hannah Riedler
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