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Phänomen Manastschi

Manas ist nicht nur eine der wichtigsten historischen Figuren Kirgistans, sondern auch Namensgeber für ein Epos, das die Kultur der Kirgisen bis heute entscheidend prägt. Inzwischen sind viele der Geschichten in Büchern niedergeschrieben. Und dennoch: auch heute gibt es noch viele Erzähler, sogenannte Manastschi, die ihre Geschichten aus mündlichen Quellen und  – so sagen sie – aus Eingebung beziehen. Novastan hat mit einem Manastschi darüber gesprochen.

sarynova 

Manastschi Manas Kirgistan Epos
Der Manastschi Talantaaly Bakchiev beim Ritual

Manas ist nicht nur eine der wichtigsten historischen Figuren Kirgistans, sondern auch Namensgeber für ein Epos, das die Kultur der Kirgisen bis heute entscheidend prägt. Inzwischen sind viele der Geschichten in Büchern niedergeschrieben. Und dennoch: auch heute gibt es noch viele Erzähler, sogenannte Manastschi, die ihre Geschichten aus mündlichen Quellen und  – so sagen sie – aus Eingebung beziehen. Novastan hat mit einem Manastschi darüber gesprochen.

Das Epos „Manas“ ist vor allem ein unvergleichliches, unschlagbares, künstlerisches Gebilde, das durch das ästhetische Genie des kirgisischen Volkes auf der Grundlage von echten Ereignissen, Fakten, heroischen Persönlichkeiten und von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Erzähler zu Erzähler geschaffen wurde.

T. Aitmatow

Das Epos „Manas“ ist das Eigentum des kirgisischen Volkes. Heute nimmt das Epos einen ehrenvollen Platz in der Welt ein und wird in der Liste der Meisterwerke des immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO aufgeführt. Einer der interessantesten Aspekte ist das Phänomen der Manastschi (Erzähler).

Heute, trotz der Tatsache, dass viele Phänomene in der Welt wissenschaftlich erklärt werden können, gibt es viele Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt. Eines dieser Rätsel sind die Manastschi, die für das kirgisische Volk eine besondere Rolle spielen.

111.000 Zeilen Epos – alle im Gedächtnis?

Man sagt, dass das Phänomen rund um die Manastschi eine Gabe ist, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, von Vater zu Sohn, von Mund zu Mund. Tatsächlich liegen die Wurzeln des Epos Jahrhunderte zurück, aber „Manas“ bleibt dank der Manastschi am Leben. Man sagt, Manastschi sei derjenige, der über „Manas“ Tage lang oder gar noch länger erzählen kann. Das Epos mündlich überliefernd, fällt der Manastschi in Trance; jeder der zuhört, fühlt seine Gefühle. Dann freut er sich mit den Helden des Epos, er wird von Trauer erfüllt, er stirbt und wird wiederbelebt.

Lest auch bei Novastan: Das „Manas“-Epos – eine Enzyklopädie kirgisischer Geschichten und Sitten

Manche denken, dass solch ein Phänomen wie Manastschi überhaupt nicht existiert, und dass die Leute einfach die Gedichte des Epos auswendig lernen. Aber es bleibt die Frage, wie ein Mensch das größte Epos der Welt auswendig lernen kann, das mehr als 110.000 Zeilen umfasst?

Manas, ein unsterbliches aber formbares Phänomen

Was also ist diese Gabe? Warum haben nur wenige Kirgisen diese Begabung? Als ein Nomadenvolk entwickelten die Kirgisen ihre Gedanken mündlich. Diese Gedanken wurden später zu einem Folklore-Kreativitätsprozess, durch das Weitergeben der Geschichten von den älteren Generationen zu den Jüngeren. Vielleicht wurde „Manas“ im Geist des kirgisischen Volkes auf der genetischen Ebene fixiert. Im Falle des kirgisischen Volkes ist das Epos „Manas“ eine Art vereinende Verbindung geblieben, die es uns nicht erlauben wird, unsere schwere und reiche Geschichte zu vergessen; es wird immer Menschen geben, die uns daran erinnern werden. Manaschi ist ein unsterbliches Phänomen des kirgisischen Volkes.

Interview mit Talantaaly Bakchiev

novastan.org: Wie lange sind Sie schon ein Erzähler?

Ich habe angefangen Manas mit zwölf Jahren zu erzählen. In den letzten 33 Jahren habe ich Manas weiter erzählt. Zum ersten Mal ging ich mit 13 Jahren an die Öffentlichkeit und fing an den Dorfbewohnern in Kara-Kol Manas zu erzählen. (Dorf in der Nähe der Stadt Kara-Kol).

Wie sind Sie ein Erzähler geworden?

Ich habe nicht versucht, ein Erzähler zu werden, in keinster Weise. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass ich eines Tages Manas erzählen würde. Ich lernte an der sowjetrussischen Schule, wo wir die russische Sprache und die russische Literatur gelehrt bekamen. Kein Thema wurde in Kirgistan damals ausgelassen. Da war ich dann russischsprachig und hatte noch immer keine Ahnung von Manas. Ich hatte gehört, dass Manas etwas Heldenhaftes ist, aber mehr auch nicht. Plötzlich geschah es, dass ich einen Traum von Sayakbai Karalajew (bekannter Erzähler, 1894—1971) hatte, der sagte, dass er zu mir kommt und mich im Schlaf besuchen würde. Er sagte er werde mir Manas erzählen. Später würde meine Zeit kommen, in der ich Manas weitererzählen muss.

Ich habe es überhaupt nicht beachtet. Aber vielleicht nach einem oder einem halben Jahr, als ich zur Mittagszeit schlief, erschien in meinem Traum Kanykei, Manas’s Frau, Chiyyrdy, die Mutter von Manas und der kleine Semetey, der Sohn von Manas. Dann sagte Kanykei, dass ich das Epos weitererzählen muss. Aber ich habe auch das ignoriert. Die Zeit verging, und Sayakbai begann mich regelmäßig zu besuchen. Es schien mir, als ob er mich kontrollierte und mich beobachtete. Dann kam die Zeit, in der ich es sah, dass es wahr wurde. Sayakbai forderte, dass ich öffentlich Manas erzähle. Und ich wusste nie, wie ich es erzählen sollte. Ich konnte das Gedicht von Borodino (Borodino Gedicht von M. Lermontov) oder Njanne (an die Kinderfrau von A. Puschkin) auswendig erzählen, aber Manas war kein Vers, kein Lied, sondern ein riesiges Epos, das es zu erzählen galt.

Das hatte etwas Unwirkliches. Aber es kam so, dass ich begann, die Geburt von Manas zu erzählen, und von Zeit zu Zeit wurde ich zu verschiedenen Ereignissen eingeladen. Man wusste wer ich war, bevor meine eigenen Klassenkameraden mit dem Finger auf mich zeigten. Sie beleidigten mich natürlich; sie hielten mich für einen Mann aus der Vergangenheit. In der Blütezeit des Kommunismus und des Sozialismus wurde die Vergangenheit als rückständig betrachtet. Danach setzte ich mir das Ziel, dass die Zeit kommen wird, in der ich erklären kann, was mit mir geschieht, wie man erzählt und im Allgemeinen: was das Manas Epos bedeutet. Ich denke, das, was ich selbst als Kind sagte und für das ich mein Wort gab, dafür stehe ich bis heute ein.

Sie haben also bevor Sie angefangen haben Manas zu erzählen, nie gelesen?

Nein, ich habe es nicht gelesen. Ich hatte doch keine Bücher in denen ich lesen konnte. Obwohl mein Großvater Bücher über „Manas“, „Semetey“, „Seytek“ hatte.

Was hat sich in Ihnen verändert, nachdem Sie Manastschi geworden sind?

Ich habe mich im wahrsten Sinne des Wortes verändert. Als Kind war ich ein Einzelgänger. Alle meine Altersgenossen waren plötzlich für mich wie aus einer anderen Welt. Meine Weltanschauung hat sich völlig verändert, und ich konnte nicht mehr die Denkweise meiner Begleiter verstehen, genauso wie sie mich nicht verstehen konnen.

Ich wurde übertrieben ernst; in der Schule wurde ich ein Philosoph genannt, obwohl ich meine Gedanken nie geäußert habe. Ich begann die Schönheit zu sehen und zu verstehen. Ich habe gelernt, die Schönheit im Hässlichen und das Hässliche in der Schönheit zu sehen. Ich habe gelernt, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden. Ich begann mich zu fragen, was das Leben ist? Was ist die Bedeutung des Lebens? Was ist meine Rolle im Leben? Was ist der Sinn der Menschheit?

Wie gelingt es Ihnen, sich an das umfangreichste Epos der Welt zu erinnern?

Ich kann nicht genau sagen wie. Es kommt von selbst. Ich selbst habe den Text von Manas noch nie gesehen. Es ist ein unerklärliches Gefühl, wenn du nur redest. Und dann bist du selbst überrascht, was du gesagt hast.

Was bedeutet es Ihnen Manastschi zu sein?

Manastschi zu sein, bedeutet menschlich zu werden. Man vertritt die Ehre des Volkes, die Ehre der Vorfahren und Nachkommen unseres Volkes. Manastschi zu sein, bedeutet, in Ihrem Leben Werte vorzuleben. Deshalb versuche ich keine Fehler in Bezug auf die Prinzipien von Manas zu machen. Vielleicht ist das manchmal schwierig, aber wie in L.N. Gumilevs (1912-1992) “Die Welt von Manas ist eine heilige Welt – der Pantheon der Götter“ steht: „Die Gabe Manastschi zu sein wird nur den Auserwählten gegeben.“

Was bedeutet das Epos „Manas“ für Sie?

Für mich ist Manas die Norm des Lebens. Manas ist etwas Natürliches. Manas hilft mir wie ein Mann zu handeln. Manas ist die Suche nach dem Sinn des Lebens. In Sanskrit ist Manas eine höhere Intelligenz, die wir noch nicht verstehen können. Vielleicht sind wir nicht in der Lage, das jemals zu verstehen. Oder wir sind noch nicht bereit; vielleicht ist die Zeit noch nicht gekommen.

Welcher Held des Epos ist Ihnen sympathisch?

Almanbet, der höchste erleuchtete Intellektuelle seiner Zeit. Er ist ein Aristokrat, ein Blaublütiger. Er bekam seinerzeit die beste akademische Erziehung. Ein Mann an der Macht, der nichts brauchte, der für seine Idee an die Seite der Kirgisen stand, nicht gegen sein Volk, sondern gegen die Herrscher, die mit seiner Idee nicht einverstanden waren.

Was ist das wichtigste Ziel des Epos und was ist das wichtigste am Epos?

Der Code, der auf der genetischen Ebene übertragen und noch nicht entschlüsselt ist. Das ist eine Geschichte, eine Legende für alle Zeiten und alle Generationen. Zum Beispiel, warum Manas gegen seinen Vater Zhakyp vorging. Zhakyp sagte, er sei schon wegen der Launen seines Sohnes ruiniert gewesen. Aber Manas wehrte sich gegen den Vorwurf seines Vaters. Er verließ das Haus seiner Eltern. Es war wichtig für ihn, eine starke Armee zu schaffen, die sein Land vor Feinden schützen wird. Und er fand das Pferd Akkula, und dann den Freund und Bruder fürs Leben, Bakai. Es war die richtige Entscheidung von ihm zu gehen. Eine Entscheidung worauf das ganze Schicksal des kirgisischen Volkes aufbaut.

Was bedeutet Manas heute?

Es ist wichtig zu bestimmen, was Manas für uns heute bedeutet: Fiktion, Mythos oder der historische Held der Vergangenheit. Leider haben wir genug Leute, die nur schlecht über Manas reden. Aber es ist wichtig zu wissen, dass Manas unser Kulturelles Erbe ist, das von der UNESCO geschützt ist.

Wie kann die Erfahrung (Vermächtnis) des Epos heute verwendet werden?

Manas ist ein Epos über das Schicksal der Völker. Es ist nichts daran erfunden, da ist nichts Künstliches dran, alles sind Geschichten aus dem Leben. Manas – das ist Leben. Manas könnte heute sehr nützlich sein. Es sollte als Führer verwendet werden; ich spreche nicht über Verfassung oder Gesetze, sondern als Leitfaden: Nimm es als Hinweis, denn es gibt die Antwort auf alle Fragen. Und genau wie in „Manas“ können Unstimmigkeiten auch in unserem Leben zu einem Zusammenbruch führen.

Was sollte Manas für jeden Kirgisien bedeuten?

Stolz und Ehre, die wir in Würde tragen und schätzen müssen.

Von Sezim Arynova

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