Die Ratsek Hütte im Ala Archa Nationalpark ist schon im Sommer einen harten Aufstieg von der Zivilisation entfernt: Wer das Camp auf 3330m erreichen will, muss nach einer Autofahrt noch weitere 1200 Höhenmeter und sieben Kilometer steiles Geländer zurücklegen. Doch im April liegt Schnee. Die Tour ist noch um einiges anstrengender. Viktor und Sergei, zwei kletterbegeisterte junge Männer aus Bischkek, wagen es trotzdem und verbringen zwei Wochen in Schnee und Eis. Warum sie das tun und wie sie dort leben, erzählen die beiden Kletterer Novastan.org.
Schritt. Pause. Schritt. Pause.
Der Weg nach oben ist lang und schweißtreibend. Die Schuhe versinken im Tiefschnee, das Eis bietet keinen Halt. Von oben brennt die Sonne. Die weiße Schneedecke reflektiert die Hitze erbarmungslos zurück in die Gesichter der Wanderer.
Noch ein Schritt. Noch eine Pause.
„It means the end of the pushing“
Ein paar qualvolle Minuten später dann endlich: ein Ende. Zwischen Felsen und wolkenumspielten Gipfeln steht ein Schild: „Konez tolkanija“. „It means the end of the pushing,“ erklärt eine Wanderin.
Wenige hundert Meter weiter steht eine kleine, schiefe Hütte mitten in einem Meer aus blendendem Weiß. Um die Hütte sind kleine Kabinen aufgestellt, sie scheinen unbewohnt. Eine Tür öffnet sich: „Chai? Tee?,“ fragt ein gut gebräunter Mann freundlich.
„Ich wohne hier“
Der Mann ist Viktor und sein Tee ist mehr als willkommen. Auf einem kleinen Gaskocher erhitzt der 25-Jährige etwas Wasser aus dem nah gelegenen Fluss und verteilt den heißen Tee an die erschöpften Abenteurer um ihn. „Ich wohne hier“, erklärt Viktor. Als Antwort auf die entsetzen Blicke, fügt er lachend hinzu: „Aber nur für zwei Wochen.“
Viktor ist nicht alleine in der gut versteckten Hütte: Sergei, ein Gleichgesinnter, leistet ihm Gesellschaft. Die beiden sind Kletterer und trainieren auf der Ratsek-Hütte im Ala Archa Park für höhere Berge wie den Pik Lenin (7134m) im Süden Kirgistans.
Die Gipfel in dem Nationalpark, nur 40km von Bischkek entfernt, eignen sich perfekt für ein Klettertraining. Rund um die Ratsek Hütte gibt es mehrere Touren, manche davon auf Berge knapp unter 5000m hoch. Der Schnee und das Eis, die im April noch die Felsen bedecken, erschaffen ähnliche Konditionen wie am Pik Lenin.
Das Eis in der Nacht
„Wir kommen so ziemlich jedes Jahr hier her“, erzählt Viktor. „Ein paar Dinge, so wie unsere Gasflaschen, bringen wir schon im Herbst auf die Hütte. Aber unsere Ausrüstung kommt erst im Frühling mit.“ Das allein erntet eine Runde von bewundernden Ohhs: die Propangasflaschen in der Kabine wiegen jeweils mehr als 20kg, die Rucksäcke der beiden Kletterer jeweils 30kg.
Ihr Unternehmen ist nichts für Ungeübte. Um so gut wie möglich auf den Berg vorbereitet zu sein, trainieren Viktor und Sergei an der Akademie für Körperkultur und Sport in Bischkek. Sie sind schwere Gewichte und schroffe Bedingungen gewohnt: „Jetzt ist es vergleichsweise warm, die Sonne scheint. Aber über Nacht kann hier schon mal alles mit zwei Zentimetern Eis zufrieren“, sagt Sergei. Viktor nickt zustimmend. „Eigentlich jede Nacht“, fügt er hinzu.
In dieser Jahreszeit sind die beiden die einzigen, die auf der Ratsek-Hütte übernachten. Kommt überhaupt jemand außer Kletter-Enthusiasten, sind es meistens Wanderer auf Tagestouren. Im Sommer ändert sich dies jedoch – die Hütte ist ein beliebtes Ausflugsziel und bietet genug Schlafplätze für größere Gruppen.
Ratseks Übungen und ein Abschied
Ursprünglich spielte Tourismus aber keine Rolle – die Hütte wurde im zweiten Weltkrieg von einem Mann namens, Achtung Überraschung, Ratsek gebaut. Auch er benutzte sie zu Trainingszwecken – allerdings militärischer Natur.
Langsam ziehen Wolken auf, das grelle Weiß macht einem milchigen Grau Platz. Die Tageswanderer machen sich langsam wieder auf den Weg nach unten. Vor dem Abschied schenkt eine Wanderin den beiden Kletterern noch eine Portion mitgebrachtes Plov. Eine willkommene Abwechslung. „Wir essen hier vorwiegend Konserven“, lacht Viktor.
Dann geht es wieder los. Langsam schlängelt sich die Wandergruppe auf dem steilen Hang nach unten.
Ein Schritt. Eine Pause. Ein Schritt. Eine Pause.
Vanessa Graf
Landesredakteurin Kirgistan