ShyraQ ist ein Textilatelier für handgefertigte Teppiche, hergestellt von Großmüttern aus dem Gebiet Turkestan. Im Gegensatz zur fabrikmäßigen Herstellung ist jeder Teppich handgefertigt und hat einen einzigartigen Stil, der die Handschrift der jeweiligen Handwerkerin trägt.
Sandugaş Beısenbekova, Gründerin des Projekts, erzählt von der Entstehung der Idee, dem Konzept des Ateliers, dem Produktionsprozess und der Bedeutung der einzelnen Teppichmuster.
Die Idee des Projekts
Als Wissenschaftlerin und Entwicklungshelferin habe ich mich schon immer für die Stärkung der Rechte und der Möglichkeiten von Frauen eingesetzt – insbesondere in ländlichen Gebieten. Als ethnische Kasachin, die einen großen Teil ihrer prägenden Jahre im Ausland verbracht hat, habe ich immer nach meinen Wurzeln und meiner Identität gesucht. Nach 16 Jahren in der Unternehmenswelt und vier Jahren in der akademischen Sphäre, habe ich realisiert, dass ich ständig auf der Suche nach modernen Interpretationen vertrauter traditioneller Gegenstände bin, die zu zeitgenössischem Design harmonieren. So entstand die Idee, die Zuldyz-Serie zu kreieren. Ich habe das Glück, aus dem Gebiet Türkistan zu stammen: Dort leben vor allem die Träger des alten Handwerks der Kilem Toqu (aus dem Kasachischen – Teppichweberei – d. Red.).
Ich stamme aus einem kleinen Dorf und verbrachte früher jeden Sommer in meiner Heimat im Gebiet Türkistan. Mit sieben durfte ich zum ersten Mal mit meiner Großmutter an der Herstellung eines Koschma-Teppichs mitarbeiten (Koschma ist ein Filzteppich aus Ziegen- oder Kamelhaaren, Anm.d.Ü.). Es war eine harte, anstrengende und schmerzhafte Arbeit: Meine Hände waren mit Blasen übersät und ich verstand nicht, warum das notwendig war.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Doch stellte sich heraus, dass ich es sehr wohl brauchte: Meine Großmutter ist vor 20 Jahren gestorben, und seitdem übt niemand in unserer Familie mehr dieses Handwerk aus. Aber ich erinnere mich gern daran, wie wir uns jeden Abend um den Dastarhan versammelten, scherzten und plauderten. Dieser Prozess dauerte 20 Tage und brachte uns einander näher.
ShyraQ ist eine ganze Gemeinschaft talentierter Handwerkerinnen aus dem Gebiet Türkistan. Zu unserem Team gehören mehr als zehn Meisterinnen-Omas, die kasachische Nationalteppiche in einem modernen Stil herstellen. Sie geben ihr Wissen und ihre Erfahrung an junge Mütter weiter, was nicht nur die Traditionen bewahrt, sondern den Frauen auch die Möglichkeit eines zusätzlichen Einkommens und der Selbstverwirklichung bietet.
Die Hauptidee hinter unseren Produkten ist die Suche nach einer verlorenen kulturellen Identität. Heute kaufen viele Menschen erschwingliche Teppiche aus der Türkei oder China: Doch nur wenige erkennen die Bedeutung der Motive, die sie darin sehen. Wenn ich um die Welt reise, suche ich immer auf der Suche das, was das lokale Erbe widerspiegelt – sei es in Toledo, Bischkek oder wo sonst auf der Welt.
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Kulturerbe sind nicht nur Museumsstücke: Es ist das, was uns einzigartig macht. So wie die kasachische Musik mit den Künstlern Yenlik, ARO, Moldanazar, Konyrat FM einen neuen Klang findet, wollen wir zeigen, dass kasachische Teppiche nicht nur Dekoration sind, sondern Symbole der kasachischen Geschichte, Kunst und kultureller Werte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Der zweite wichtige Teil unseres Konzepts ist das Schaffen eines authentischen persönlichen Raums. Wir möchten, dass unsere Teppiche zu einem Erdungspunkt werden: einem Ort, an dem man Seelenfrieden, Vertrauen und den Mut findet, frei von Vorurteilen und Ängsten zu sein.
Schließlich stehen wir uns für einen ethischen Konsum ein: Heutzutage versuchen immer mehr Menschen, verantwortungsvoll hergestellte Produkte zu wählen, die lokale Gemeinschaften unterstützen und umweltfreundlich sind. Unsere Produktion unterstützt die Frauen in abgelegenen Regionen Kasachstans und gibt ihnen die Möglichkeit zu einem Einkommen und zur Selbstverwirklichung.
Die Gründung des Studios
Ich begann mit Recherchen über kasachische Ornamente und Teppiche. Leider haben wir nicht genügend Ethnographen und Kulturwissenschaftler, die sich gründlich mit diesem Thema beschäftigen. Ich musste selbst in diese Welt eintauchen: Ich traf mich mit Wissenschaftlern, um besser zu verstehen, wie Wolle funktioniert.
Kasachstan war mal ein führender Agrarstaat, aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Ölwirtschaft, und die Woll- oder Textilindustrie war am Rande des Überlebens. Heute gibt es nur noch zwei Wollverarbeitungsbetriebe im Land, und der Großteil des Rohmaterials wird nach China exportiert: Das bereitet sowohl der Wirtschaft als auch der Umwelt Probleme.
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In der zweiten Phase ging es darum, die Arbeit in Gang zu bringen und Webermeisterinnen zu suchen. Ich ging in die Dörfer und sprach Verwandte an, um Frauen mit Webekenntnissen zu finden. Viele von ihnen hatten das Handwerk seit mehr als 30 Jahren nicht mehr ausgeübt, und es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fähigkeiten wieder erlangten.
Die dritte Stufe ist der Aufstieg, und eben in dieser Phase, befinden wir uns gerade. Wir haben unsere Instagram-Seite erst im Mai eingerichtet. Bis dahin beruhte unsere Werbung ausschließlich auf Mundpropaganda.
Der Arbeitsprozess
Ich arbeite mit unseren Meisterinnen-Omas an der Skizzierung und der Auswahl der Farbpalette. Wir analysieren jedes Teppichmuster nach seiner Bedeutung. Sie sorgen dann dafür, dass die Webtechniken korrekt ausgeführt werden. Ich habe keine spezialisierte Ausbildung in diese Richtung, deshalb ziehe ich oft Spezialisten zu Rate.
Teppichweben ist nämlich echte Mathematik: Es ist wichtig, die Anzahl der Knoten und die Richtung der einzelnen Muster zu berechnen. Für einen 50 Zentimeter breiten Teppich braucht man mehr als 160 Knoten. Stellen Sie sich vor, was für eine mühsame Arbeit das ist! Gerade deswegen ist unsere Produktion begrenzt. Ich möchte, dass jeder Teppich mit der Liebe und Wärme gefüllt ist, die in seine Entstehung fließen.
Unsere Meisterinnen sind Großmütter und Mütter von vielen Kindern, und wir haben keinen strengen Zeitplan oder einen klaren Arbeitsalgorithmus. Sie arbeiten zu Hause an kleinen Webstühlen, oft spät in der Nacht oder früh am Morgen, wenn sie vom Haushalt frei sind.
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Übrigens wird jeder unserer Teppiche mit einer persönlichen Signatur versehen: Immer schreiben wir, wer genau diesen Teppich gewoben hat. Jede Meisterin hat ihren eigenen Stil: Die eine macht ihre Knoten etwas fester, die andere bevorzugt eine entspanntere Technik.
Zurzeit konzentrieren wir uns auf kleinere Teppiche in der Größe 50 x 50 Zentimeter. Für die Herstellung eines solchen Teppich braucht eine erfahrene Meisterin mindestens sieben Tage. Ich bitte immer unsere Meisterinnen, auf sich selbst und ihre Gesundheit zu achten: Manchmal sind unsere Omas so begeistert von der Arbeit, dass sie gleich vier Stunden ohne Pause am Webstuhl sitzen, deshalb rufe ich sie regelmäßig an und schaue nach, dass sie nicht übertreiben und sich schonen.
Unsere Omas beten und legen besondere Aufmerksamkeit auf Details und auf die Bedeutung jedes Musters. Der Prozess der Herstellung eines Teppichs ist für sie fast wie Meditation. Sie scherzen und sagen, dass sie beim Arbeiten alles Wichtige vergessen, und fliehen in die wunderschöne Welt der Teppiche und entspannen in diesem kreativen Prozess.
Bestellungen und Zukunftspläne
Unsere Teppiche kann man nur online auf Instagram bestellen. Zurzeit gründen wir eine Webseite, und planen aber auch ein Showroom zu eröffnen. Der Preis eines Teppichs hängt von der Komplexität der Arbeit und der Expertise, die er benötigt. Für die Erstellung eines Teppichs bereiten wir mehr als zehn Skizzen, bis wir das beste Ergebnis erreicht haben.
Wir stecken unsere Seele und unser handwerkliches Geschick in jede Arbeitsphase, und genau daraus entsteht der Endpreis. Unseren Kunden ist es wichtig, ein einzigartiges Produkt zu bekommen, durchdrungen von kulturellem Erbe und handwerklicher Qualität.
Unser Sortiment umfasst vier Arten von Mustern und drei Arten von Teppichen nach Größe. Jedes Muster wird von einem Kommentar und seiner Geschichte begleitet. Zu den Teppichtypen gehören ein klassischer Teppich, ein Mini-Teppich und ein Gebetsteppich.
Bereits im Oktober [der Orginal-Artikel stammt aus dem September 2024, Anm. d. Red.] planen wir die She Rug-Ausstellung in Astana: Dort zeigen wir, wie Teppiche uns beeinflusst haben und wie wir sie umgestaltet haben. Wie wir wissen, schenkten Nomaden ihren Töchtern oft Teppiche als Mitgift: Diese symbolisierte die Stärke der Familie, die besten Wünsche und eine Botschaft für die Zukunft.
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Der Teppich war auch eine Art Reisepass: Er erzählte die Geschichte der Familie und der tapferen Vorfahren der Braut. Die männliche Linie galt zwar als Grundlage des Stammbaums, jedoch betrachteten die Kasachen die Frau als Hüterin des Herdes und ehrten vor allem die mütterliche Linie. Ein interessanter Fakt: Der erste Pazyryk-Teppich wurde auf dem Gebiet von Kasachstan, im Altai-Gebirge, gefunden. Die kasachischen Teppiche haben jedoch noch nicht ihren Platz auf der Weltbühne eingenommen. Sie sind einfach nicht in den Listen. Es gibt armenische, turkmenische und aserbaidschanische Teppiche, aber keine kasachischen Teppiche.
Wir möchten das ändern und Ausstellungen nicht nur in Kasachstan, sondern auch im Ausland veranstalten. Die Kunst der Teppichweberei wird von Generation zu Generation weitergegeben. Bis in die 1980er Jahre war ein Teppich aus einem kasachischen Haushalt nicht wegzudenken: Er war nicht nur ein Einrichtungsgegenstand, sondern ein Familienerbstück, das die Stärke der Familie symbolisierte.
Außerdem arbeiten wir daran, die Produktion zu erweitern. Geplant ist die Eröffnung einer Werkstatt für die Herstellung großer Teppiche und eines angeschlossenen Schulungszentrums. Dort werden wir junge HandwerkerInnen ausbilden, um das einzigartige Kulturerbe bewahren und an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Janagul-Apa erzählt
Janagul-Apa ist eine der Meisterinnen-Omas, die für ShyraQ Teppiche herstellen. Sie erzahlt über sich und ihren Arbeitstag:
Schon immer habe ich kasachisches Kunsthandwerk gemocht. Ich kann verschiedene Arten von Produkten weben. Seit meiner Kindheit, als ich in der vierten Klasse war, hat meine Mutter dieselben Handarbeiten gemacht. Als kleines Mädchen habe ich meiner Mutter beim Weben zugesehen, und es hat mir so gut gefallen, dass ich es nicht mehr lassen konnte. Meine Mutter hat manchmal gesagt: „Fass es nicht an, du machst es kaputt“, aber ich lernte trotzdem weiter von ihr. In der vierten Klasse hatte ich schon alles gelernt und beherrschte viele Fertigkeiten. Ich kann Pullover, Jumpsuits und Schals stricken und Quasten machen. Egal was, ich kann das stricken, wenn ich es nur einmal sehe.
Ich bin Näherin von Beruf. Früher war ich aber Geografielehrerin: In der Schule in Usbekistan habe ich Handarbeit und Geografie unterrichtet. Als ich nach Kasachstan kam, habe ich wieder genäht. Ich habe Kleider für meine Freundinnen und Schwestern genäht. Ich habe zwei Söhne, zwei Töchter und 20 Enkelkinder. So Gott will, werde ich nächstes Jahr 59 Jahre alt.
Ich sah andere Meisterinnen bei diesem Handwerk zu, und durch sie lernte ich diese Arbeit. Meine Klassenkameradin Nargul schickte mir Informationen über WhatsApp. Das weckte mein Interesse. Als ich die kasachischen Muster sah, wollte ich sofort mitmachen. So habe ich beschlossen, hier zu arbeiten.
Mein Arbeitstag
Ich stehe spätestens um fünf Uhr morgens auf. Ich bete, melke die Kuh und koche Brei für meine Enkelkinder, während meine Schwiegertöchter noch schlafen. Danach erledige ich meine tägliche Arbeit. Um sechs Uhr morgens habe ich die Kuh gemolken und Brei für die Kinder gekocht, danach habe ich Freizeit. Ich arbeite, bis ich müde bin. Von neun Uhr morgens bis zum Mittagessen knüpfe ich Teppiche, dann ruhe ich mich ein wenig aus und arbeite weiter. Im Laufe des Tages rezitiere ich fünfmal Namaz. Abends beende ich meine Arbeit gegen zehn Uhr. Ich webe nicht in der Nacht. Ich arbeite schnell.
Das ist Handarbeit. Wenn ich es in meiner Freizeit mache, ist das eine gute Möglichkeit, keine Zeit zu verschwenden. Ich kann nicht nur rumsitzen. Auch wenn ich keinen Teppich webe, mache ich etwas anderes. Für mich macht es keinen Unterschied, was für eine Arbeit ich mache. Ich liebe es, neue Muster und Stile zu erfinden und zu kombinieren, um etwas Originelles und Ungewöhnliches zu schaffen.
Weitere Bilder findet ihr im Origialartikel.
The Village
Aus dem Russischen von Giulia Manca
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